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Spannungen

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Wieder einmal schien das politische Klima im Libanon umzuschlagen - wie dies so häufig in der Geschichte der Levante der Fall war. Immer von Neuem war diese Region Spielball fremder Interessen gewesen. Einer Blüte unter den Phöniziern, einem erneuten Aufstieg nach einem langen Dornröschenschlaf unter Alexander dem Großen folgte ein weitere wirtschaftlicher Höhepunkt unter römischer Oberherrschaft.

Dann vernichtete ein Erdbeben der Stärke 9,2 im 6. Jahrhundert Beirut vollständig.

Unter byzantinischer Herrschaft erlebte das Land noch einen gewissen Wohlstand, ehe arabische Heere und Kreuzritter, Mamelucken, Seldschuken und Mongolen in den folgenden Jahrhunderten um die Macht in Vorderasien kämpften. Danach wurde dieses Gebiet jahrhundertelang Bestandteil des Osmanischen Reiches, bis es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Zerschlagung des damaligen türkischen Imperiums und Neugründung der Republik unter Atatürk unter französische Protektion gestellt wurde. Aber auch dem 1920 entstandenen Staate Libanon war danach kein dauerhafter Friede gegönnt.

Die blutige Gründung Israels in unmittelbarer Nachbarschaft, die sich direkt daran anschließenden bewaffneten Konflikte um diese neue politische Ordnung und eine sich verschärfende innerlibanesische Entfremdung der verschiedenen religiösen Gruppen führten ab 1975 nach kurzem wirtschaftlichem Wohlstand in den sechziger Jahren zu einem fünfzehnjährigen Bürgerkrieg, der das Land vollends zerrüttete. Unerträgliche Grausamkeiten der verschiedenen Bürgerkriegsfraktionen an der Zivilbevölkerung mit etwa 95 000 Toten, weit über 100 000 Verletzten und die unzähligen politischen und militärischen Interventionen von außen machten das Leben in der Levante in dieser Zeit untragbar. Beirut, das ehemalige Paris des Nahen Ostens, existierte praktisch nicht mehr. Und selbst danach war ein Ende der Gewalt nicht absehbar: Israel und das mit dem Iran auf das innigste gepaarte Syrien stritten mit aller Gewalt um Macht und Einfluss um diesen schmalen Landstrich am östlichen Mittelmeer.

Weitere Spannungen entstanden nach dem gewaltsamen Einmarsch der USA in Afghanistan und den Irak, was die gesamte Region weiter destabilisierte, obwohl es zunächst, nach der katastrophalen Bush-Ära, unter Präsident Obama nach einer Beruhigung der Lage aussah. Aber auch der neue oberste Repräsentant Amerikas war Anfang des 21. Jahrhunderts nicht in der Lage, die sich damals bereits am Horizont abzeichnende verheerende Wirtschaftskrise, die schließlich über die Welt hereinbrach, auf Dauer zu neutralisieren und die Abhängigkeit vom Öl, trotz zunächst vielversprechender Ansätze im Bereich der regenerativen Energien, langfristig zu lindern. Zu groß waren die Einflussmöglichkeiten der amerikanischen Ölindustrie auf die Politik des Weißen Hauses. Zu stark das Interesse der iranischen und Saudi-Arabischen Hardliner, die Industrieländer vom Öl technologisch und finanziell abhängig zu halten.

Obendrein verstand es der Westen nicht, den Einfluss der islamischen Fundamentalisten zurückzudrängen, da das Mittel - Krieg - den Hass der arabischen Welt auf alles Westliche immer weiter entfachte. Und das Kalifat des IS hatte es meisterhaft verstanden, die Bevölkerung, die unter ihrer Terrorherrschaft stand, für sich einzunehmen. Denn der westlichen Koalition konnte es nicht gelingen, allein durch Luftschläge, ohne den Einsatz von Bodentruppen, die Terroristen zurückzudrängen. Im Gegenteil: Durch ihre Einsätze auf syrischem Gebiet unterstützten sie gerade diejenigen, die für ein jahrelanges sinnloses Gemetzel verantwortlich waren - die Familie Assad, die nicht daran dachte, auch nur einen Millimeter ihrer Macht abzugeben. Sie hatten dadurch jetzt vielmehr den Rücken frei, um die Opposition gegen ihre Herrschaft noch brutaler zu unterdrücken.

Zudem kam noch hinzu: Der Iran hatte es zudem geschafft - trotz der religiösen Differenzen zwischen Schiiten und Sunniten - seinen Einfluss immer weiter auszudehnen und politische Allianzen zu schmieden, die früher undenkbar waren. Es hatte sich nämlich inzwischen ein fragiles Bündnis aus ultrakonservativen religiösen Staaten, ausgehend von Afghanistan, Pakistan und einigen zentralasiatischen - ehemals sowjetischen - Republiken über den nuklear bewaffneten Iran bis hinüber zum Süden des Iraks und Ägypten etabliert.

Der Bürgerkrieg in Syrien katalysierte zudem die rasche Ausbreitung von religionsfaschistoidem Gedankengut, was immer größere Teile der arabischen Welt in einen rechtsfreien Raum verwandelte. Denn nicht nur im Nahen- und Mittleren Osten hatte sich ein ultrareligiöse Terrorregime etabliert, sondern auch der gesamte Sahararaum war auf diese Weise okkupiert worden. Durch die weltweite Wirtschaftskrise, die 2008 ihren Anfang nahm und mit massiver Überschuldung einherging, war der Westen nicht mehr in der Lage, die allmähliche Entstehung dieses Machtblocks zu verhindern. Nur Israel und Libanon sowie ein politisch sehr instabiles Jordanien bildeten noch einen Fremdkörper in diesem Ozean konservativen Glaubens, wobei letzteres 2025 fast unter religiösen Infiltrationen seiner Nachbarn Syrien und Saudi-Arabien kollabiert wäre.

Und dies war somit auch das Ende des politischen Frühlings, der 2011 und 2012 durch viele arabische Länder wehte und in den darauf folgenden Jahren durch Terror, Bürgerkriege und religiösen Fundamentalismus rasch wieder eingedämmt wurde. Die Uhr der Freiheit wurde sogar noch viel weiter zurückgedreht: Die Repression durch den religiösen Faschismus war viel schlimmer, als dies zuvor unter den alten Machthabern der Fall gewesen war. Fanal dieses Machtkampfes war daher zunächst das brutale Vorgehen des Bashar-al-Assad gegenüber seinem eigenen Volk mit der Folge der Gründung eines faschistischen Religionsstaates, dessen Grenzen nicht mehr greifbar und im Fluss waren. Und der Westen, gepaart mit Russland, denen es nur um Profit ging und dem Eindämmen des Flüchtlingsstroms aus Afrika und Asien oberste Priorität einräumten, nahmen das Abschlachten und die Vertreibung eines Großteils der Gesamtbevölkerung dieses vorderarabischen Landes in den nachfolgenden Revolutionswirren weitgehend achselzuckend zur Kenntnis. Eigeninteresse der Staaten und Profitgier der Wirtschaft waren nun einmal wichtiger als Moral und humanistische Ideale.

Diese politische Konstellation im Nahen und Mittleren Osten hinterließ auch im alltäglichen Miteinander im Libanon seine Spuren: Man ging extrem distanziert und misstrauisch miteinander um. Niemand konnte mehr absolut sicher sein, auch angesichts von dreieinhalb Millionen Flüchtlingen aus dem Nachbarland, dass der andere nicht Spitzel, Verräter oder sogar Attentäter war - darauf aus, das politische System zu unterminieren. Dazu kamen wachsende soziale Spannungen auf Grund eines nur noch astronomisch zu nennenden Unterschieds der Entlohnung zwischen miserabel bezahlten Syrern und mehr als zehnmal zu teuren libanesischen Fachkräften.

Zudem tobte auch in Beirut bereits ein weiterer, unsichtbarer Krieg, der auch in allen anderen Teilen der Welt geführt wurde: Die Geheimdienste des Westens, Irans und China setzten alles daran, sich in eine möglichst günstige strategische Ausgangsposition im weltweit immer weiter eskalierenden globalen Machtpoker zu begeben.

Ahmad und Mouad zogen es zunächst vor, diese unübersichtliche politische Gemengelage nicht weiter zu beachten. Beide gewöhnten sich allmählich an das studentische Leben und gaben ihrem Tagesablauf eine feste Struktur.

Ahmad war ein Frühaufsteher. Bereits um halb fünf Uhr begann er, den Vorlesungs- und Seminarstoff zu rekapitulieren. Viel Neues lernte er dabei nicht, denn er besaß bereits fundierte und sehr detaillierte Kenntnisse in Geologie. Zudem hatte er ein gutes Gedächtnis und war ziemlich rasch in der Lage, große Informationsmengen zu behalten, zu analysieren und zu bewerten.

Bereits weit vor dem Beginn der regulären Veranstaltungen an der Amerikanischen Universität wühlte er sich bis spätabends durch die Fachliteratur. Trotzdem hielt er sich mit seinen Fähigkeiten gegenüber anderen Studenten zurück. Er wollte unbedingt vermeiden, sich als eine Art Superhirn bei den anderen in den Vordergrund zu drängen, um nicht Neid und Missgunst zu schüren. Überdies warf er, wann immer es die Zeit zuließ, sein Augenmerk auf weitere Fachbereiche - wie Religion, Politik, Geschichte und Wirtschaft - um zusätzliche fundierte Kenntnisse über diese Region zu erlangen.

Ahmad kannte zudem die Grenzen seiner Gedächtnisleistung ganz genau. Er legte stets kurze Pausen in seinem Lernpensum ein. Dadurch erreichte er einen sehr hohen Dateninput in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit.

Mouad war ähnlich strebsam wie Ahmad, hatte jedoch in seinem Lernverhalten eine entscheidende Schwäche. Er meinte, durch unmäßiges Pauken alle Defizite aufholen zu können - was zur Folge hatte, dass er sich des Öfteren 16 bis 17 Stunden täglich mit der Materie auseinandersetzte. Dadurch kam es dann und wann zu Frusttagen, an denen er jeden, den er traf, anmaulte und bereits über Lappalien sehr ungehalten wurde. Er war dann selbst für seine Eltern kaum ansprechbar. Kommilitonen konnten ihm in dieser Situation hinterhertelefonieren, soviel sie wollten: Er reagierte nicht auf Anrufe oder Mails, was häufig zu Missverständnissen und Spannungen in seiner Umgebung führte. Selbst Ahmad wurde dann von ihm einfach vor der Tür stehengelassen, obwohl er hörte, dass sein Kommilitone zu Hause war.

Seit ihrem ersten Kennenlernen hatte sich ihr Verhältnis zueinander abgekühlt: Mouad trug einen arrogant wirkenden, abweisenden Gesichtsausdruck mit sich herum und wies zu viel Hilfe von Ahmad oder anderen Veranstaltungsteilnehmern ab. Manchmal jedoch rief er, für Ahmad vollkommen überraschend, ihn spontan an, wenn sich ihm irgendein Problem, das sich für ihn als unlösbar erwies, in den Weg stellte. Er erhielt, was ihn im Laufe der Zeit mehr und mehr verwunderte, stets eine völlig korrekte, ausführliche Antwort - selbst auf Fachfragen, die Ahmad eigentlich nicht wissen konnte. Dabei wunderte es Mouad immer wieder, dass sein Kommilitone durch nichts aus der Ruhe gebracht werden konnte, auch durch seine ruppige Art nicht. Stets schien er die Selbstsicherheit und Ausgeglichenheit in Person zu sein.

Im Verlauf der nächsten vier Wochen knüpften sie Kontakte zu weiteren Studenten, um dem rasch wachsenden Informations- und Übungsaufgabenberg aus den Vorlesungen Herr zu werden. Dabei vermied es Mouad sich in der gleichen Gruppe wie Ahmad aufzuhalten. Er schien ihn absichtlich zu schneiden und auf Distanz zu halten, was Ahmads Eindruck eines sehr zerrissenen, unsicheren jungen Mannes hinter der scheinbar uneinnehmbaren Fassade verstärkte.

Aber ihre studentische Arbeitsmonotonie im universitären Elfenbeinturm konnte auf Dauer nicht ungestört weiter fortbestehen: Immer häufiger hörten oder lasen sie von Anschlägen, Hinterhalten oder Schießereien im ganzen Land, die sie aus ihrer wissenschaftlichen Welt aufschreckten. Insbesondere für weiter entfernt von der Universität wohnende Studenten wurde der Nachhauseweg immer gefährlicher.

Vollends wurden sie aus ihrem Alltagstrott wenige Tage später herausgerissen:

Ahmad und Mouad saßen in der Chemievorlesung, die Bestandteil ihres Geologiestudiums war, als sie vom Tod zweier Kommilitonen durch Querschläger von einer Schießerei in der Beiruter Innenstadt erfuhren. Ahmad beobachtete, nachdem diese schreckliche Nachricht die Runde gemacht hatte, den fünf Plätze neben ihm sitzenden Mouad genau. Er stellte erstmals seit langer Zeit wieder Gefühlsregungen bei ihm fest: Aschgrau im Gesicht, voller Hektik, machte sich Mouad nach Abbruch der Veranstaltung auf den Weg nach Hause. Mehrmals stolperte er sogar.

Ahmad gelang es voller Sorgen noch, ihn im Foyer des Gebäudes abzufangen. Er redete beruhigend auf ihn ein. „Du kannst, wenn du magst, bei mir übernachten. Meine Wohnung ist nur wenige Steinwürfe von hier entfernt - dann bräuchtest du nicht unnötigen Risiken einzugehen. Wenn du das Angebot annehmen willst, wäre es natürlich klug, deinen Eltern Bescheid zu sagen, damit sie dich in Sicherheit wissen.”

Aber Ahmad erzielte zu seinem tiefsten Bedauern nur das genaue Gegenteil von dem, was er zu erreichen gehofft hatte: Seinem Freund nämlich das Gefühl zu geben, dass sich jemand um ihn kümmerte und für ihn interessierte. Denn nach dieser Einladung starrte ihn Mouad voller Abneigung an und schüttelte energisch den Kopf. Sein Gesicht gefror erneut.

,Was will dieser Kerl denn jetzt von mir?’, dachte er panisch. ,Hier kann man doch niemandem vertrauen. Wer ist er wirklich? Und: Was sollen meine Eltern denken? Mein Vater ist zwar tolerant und aufgeschlossen, aber wenn es herauskommen sollte, dass ich bei einem anderen, mir vollkommen unbekannten Mann unter diesen unklaren Umständen die Nacht verbringe, dürfte das ziemlich großen Ärger geben.’

„Ich kenne dich doch überhaupt nicht. Ich werde daher auf keinen Fall mit dir mitgehen und schon gar nicht bei dir übernachten! Ich möchte dich überhaupt nicht mehr sehen!” Beim letzten Satz überschlug sich beinahe seine Stimme.

Er drehte sich abrupt um, spurtete los und verschwand in dem chaotischen Studentenstrom am Ende der Lehrveranstaltung.

Ahmad starrte ihm erneut verblüfft und zugleich ziemlich enttäuscht nach.

Der Kurator Band 1

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