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Erstsemesterbegrüßung

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In der Nacht hatte sich die Wetterlage komplett umgestellt: Sturm war aufgekommen und zerrte an Dachpfannen, Fensterrahmen und den wenigen Bäumen, die man aus der hoch gelegenen verglasten Dachgaube von Ahmads Wohnung erblicken konnte. Ein durchdringendes, auf- und abschwellendes Heulen war an den undichten Stellen zu vernehmen, an denen die heftigen Böen durch Ritzen, Spalten und Fugen hindurchgepresst wurden. Diese Geräusche unterstrichen noch zusätzlich die trostlose Stimmung da draußen, die im scharfen Kontrast zum strahlenden Sonnenschein des gestrigen Tages stand.

Mouad lag noch im Bett und schaute missmutig gelaunt durch das einzige Fenster des Raums auf die in Schleiern herantreibenden Regenschwaden. Seine Motivation, zur offiziellen, um drei Monate verschobenen Begrüßung der Erstsemester das mollig warme Nachtlager zu verlassen, war auf dem Nullpunkt angekommen. Er buddelte sich noch tiefer in das Federbett ein und kuschelte sich dicht an seinen Freund.

Aber Ahmad legte grundsätzlich Wert auf präzises Timing. Er rupfte rabiat die Bettdecke von ihren Körpern herunter. Ein eisiger Temperaturschock war die Quittung dieser Aktion, denn die Luft, die über Mouad hinweg strich, war so feucht und kalt, dass seine Schlafbekleidung nicht ausreichte, um ihn vor der unangenehmen Kälte zu bewahren. Überdies drang ein starker, nasskalter Luftstrom, der sein inneres Frieren noch intensivierte, sogar durch Boden und Decke in Ahmads Wohnung ein.

„Müssen wir denn heute unbedingt zu dieser formalisierten, langweiligen Veranstaltung?”, maulte Mouad, der sich als viel kälteempfindlicher als sein Freund herausstellte.

„Ich denke schon - auch wenn es nur aus dem Grunde ist, neue Gesichter zu betrachten und sich einen umfassenden Überblick über unsere Kommilitonen zu verschaffen. Denn in dieser Veranstaltung treffen wir gewiss auch Leute, die wir in den vergangenen Monaten nicht kennenlernen konnten, da sie in anderen Fakultäten eingeschrieben sind. Manche Charakterzüge der lieben Mitmenschen bekommt man nämlich schon durch das bloße Hinschauen heraus. Das Ganze kann auch als Training seiner eigenen Menschenkenntnis angesehen werden.”

„Na schön, wenn du meinst”, sagte Mouad und küsste dem überraschten Ahmad auf seinen Mund.

„Ich setz uns ’nen Tee auf”, meinte Ahmad, der mit dieser Aussicht auf etwas Warmes hoffte, Mouad zu etwas mehr Tempo beim Ankleiden zu bewegen.

„In aller spätestens einer Stunde müssen wir auf dem Campus sein. Ich möchte auch bitteschön relativ weit vorn im Hörsaal sitzen, um mir einen ersten Eindruck von der übrigen Professorenschaft und den anderen Mitarbeiter der AUB zu verschaffen.”

Mouads Stimmung besserte sich keineswegs. Sein mürrischer Gesichtsausdruck blieb.

„Außerdem”, so fügte er nach einer Pause hinzu, um Mouad einen zusätzlichen Motivationsschub zu verpassen, „könnten wir uns ja anschließend, sollte sich das Wetter heute nachmittag aufgeklart haben, unten am Corniche an den Strand setzen und noch ein wenig miteinander plaudern.”

Aber Mouad bewegte sich immer noch im Schneckentempo.

Ahmad entschloss sich, seinen immer noch fröstelnden Freund kräftig zu massieren. Dabei drängte er ihn fortwährend, sich endlich zu sputen. Mouad brachte es nur unter großen Schwierigkeiten fertig, seine Hemdknöpfe mit seinen fast steif gefrorenen Fingern zu schließen. Ahmad griff schließlich in seinen Kleiderschrank, holte einen blauweiß gemusterten, dicken, wollenen Norwegerpullover zum Vorschein, den er Mouad über den Kopf streifte.

Endlich saßen beide schweigend am Tisch. Ahmad hatte gestern in aller Frühe vor den furchtbaren Ereignissen noch etwas Fladenbrot auf dem Basar erstanden, dazu verschiedene Sorten Ziegen- und Schafskäse. Kichererbsenpaste hatte er selbst noch rasch zubereitet.

Mouad hatte Hunger: Der Ziegenkäsevorrat schmolz zusehends, auch von dem Brot waren rasch mehrere Scheiben verschwunden. Der gesüßte Tee verbreitete eine wohlige Wärme in seinem Körper.

„Nun brems deinen Esstrieb mal. Wenn du so weiter die Nahrung in dich hineinstopfst, siehst du ja bald so aus wie die unter den wenigen deutschen Kommilitonen viel zitierte Weihnachtsgans, verlierst als Konsequenz davon noch deine ganze Attraktivität und rollst am Ende wie Obelix durch die Gegend.”

Erschrocken fasste sich Mouad an seinen Bauch, der tatsächlich etwas nach vorne gewölbt war.

„Yallah, yallah”, meinte Ahmad spöttisch, „wir wollen doch nicht als letzte da sein und uns wegen deiner Klüngelei mit Stehplätzen begnügen müssen.”

Als sie die Straße betraten, wurden die beiden jungen Männer sofort von unangenehm - nasskalten Regentropfen bombardiert, die, durch die Windböen beschleunigt, schmerzhaft gegen ihre Wangen klatschten.

„Scheißwetter”, knurrte Mouad.

Sie eilten über den dicht bepflanzten Campus, wobei sie sich von Zeit zu Zeit hinter besonders hoch aufragenden Pinien, Zypressen und halbhohen Gehölzen duckten, wenn die Windstöße zu arg an ihnen zerrten. Die mächtigen Zedern verschlimmerten den meteorologischen Hauptwaschgang, den der launische Wettergott angeordnet hatte, jedoch erheblich. Kaum waren sie froh, unter den mächtigen Kronen dieser uralten Bäume angekommen zu sein, um somit zu hoffen, wenigstens für einige zehn Meter dem himmlischen, wässrigen Dauerfeuer entronnen zu sein, fegte als zusätzliche Schikane eine heulende, brausende Windböe in das Baumobergeschoß. Dies führte dazu, dass auch noch der letzte trockene Quadratzentimeter Haut zwischen ihren Beinen durch diese extra Duscheinlage Landunter meldete.

Sie erreichten endlich das Audimax. Hier war es deutlich wärmer als draußen, denn die Hitze der zurückliegenden, sommerlichen Tage hielt sich noch stets in Beton und Mauerwerk. Als sie die Stufen in der Mitte des Raumes hinabstiegen, stellten sie fest, dass der große Hörsaal bereits etwa zur Hälfte gefüllt war. Die einzelnen Sitzreihen fielen terrassenförmig etwa 15 Meter nach unten ab. Auf beiden Seiten des Raumes und in der Mitte befanden sich durch Stufen untergliederte Laufgänge, mittels derer die einzelnen Sitzreihen rasch erreicht werden konnten. Rechts und links von der Bühne, die den Blick aller Zuschauer auf sich ziehen sollte, führten große, hölzerne Doppeltüren in die Katakomben des Gebäudes, wodurch dieser Ort von Dozenten, Versuchsapparaturen und Projektionsgeräten trockenen Fußes erreicht werden konnte. An der Wand rechts vom Zuschauerraum fesselte eine riesige Nuklidkarte das Auge eines der Atomphysik zugeneigten Betrachters. Auf der gegenüberliegenden Seite präsentierte sich stolz ein ebenso gigantisches Periodensystem der Elemente, das ebenfalls darauf schließen liess, dass dieser Raum von den naturwissenschaftlichen Fakultäten bevorzugt genutzt wurde. Relativ weit auf der Bühne nach hinten versetzt, unter drei gewaltigen Tafeln, war eine Tischreihe aufgebaut, hinter der rot gepolsterte Stühle standen. Rechts unten in der ersten Reihe, kurz vor dem mit Orchideen geschmückten, etwa ein Meter fünfzig hohen, mahagonifarbenen, hölzernen Rednerpult, fanden sie noch zwei Sitzplätze, von denen aus sie einen guten Überblick auf die Professoren haben würden.

Kurz vor Beginn der Veranstaltung füllte sich der große Saal rasch, wobei die Studenten lärmend und palavernd durch die Türen im Eingangsbereich, 30 Reihen über und hinter ihnen, einströmten.

Plötzlich ertönte mehrmals ein bronzener Gong, der hinter den verschlossenen Bühnentüren verborgen war. Dennoch dröhnte er noch so laut, dass die Unruhe im Saal schnell erstarb. Der rechts von ihnen liegende Flügel wurde aufgestoßen und ein Student in einem dunkelblauen Anzug, gefolgt von einer jungen Dame - in einem weinroten, eleganten Kostüm - traten heraus. Die Studenten erhoben sich von ihren Plätzen. Eine lange Reihe, in dunkles Tuch gekleideter, würdevoll daher schreitender Hochschullehrer betrat den Raum, angeführt durch den Rektor, dessen Bedeutung für den Lehrbetrieb durch das Tragen eines roten Professorenhuts besonders unterstrichen wurde. Ein golddurchwirkter Seidenbommel baumelte auf seiner rechten Körperseite herab. Im Gegensatz zu den anderen Magnifizenzen, die sich mit schwarzen Kopfbedeckungen begnügen mussten, war dieses Symbol auch für alle Anwesenden ein besonders grelles, formales Ausrufezeichen seiner Autorität.

,Ein ganz schönes Brimborium, das die Herrschaften hier vor ein paar Jahren eingeführt haben. Aber ob das reicht, den Studenten auch den nötigen Respekt beizubringen? Ich bezweifele, ob man damit dieses Ziel erreicht. Denn an und für sich waren sowohl Mouads Vater als auch der Rektor für ihre äußerst liberale Sichtweise bekannt und daher sehr offen auftretende Personen, die Meinungen Anderer akzeptierten. Sie hatten sich daher zumindest in der Vergangenheit mehrfach strikt gegen diese Show ausgesprochen’, dachte Ahmad insgeheim, da er das Für und Wider dieser protzigen Aufmachung mit Belustigung in der Hochschulzeitung in der Vergangenheit am Rande seiner übrigen Aufgaben verfolgt hatte.

Nachdem die Professoren auf ihren Stühlen Platz genommen hatten, trat der Rektor an das Mikrofon. Mouad flüsterte Ahmad zu:

„Schau, der Hüne da, mit blauen Augen und Vollbart - das ist mein Vater.”

Der hatte das leise Raunen seines Sohnes trotz der zwischen ihnen liegenden Entfernung von über 15 Metern wahrgenommen und warf ihm einen bitterbösen Blick zu, um ihm zu bedeuten, jetzt doch bitte schön endlich den Mund zu halten.

„Sehr geehrte Erstsemester”, begann der Hochschulleiter, „ich freue mich, Sie hier so zahlreich, wenn auch durch meine Krankheit bedingt, einige Monate verspätet, begrüßen zu dürfen.

Was können, was müssen Sie von diesem Haus erwarten? Nun, in erster Linie natürlich Fachwissen, Methoden, Methodik und praktisches Arbeiten. Wir fühlen uns nämlich verpflichtet, Ihnen eine exzellente Ausbildung zu geben, damit Sie in Industrie, Wirtschaft, Politik - vielleicht sogar im Ausland - ein gutes Auskommen haben und eventuell dort weiter Karriere machen können.

Aber dies ist nur ein vorrangiges Ziel der Ausbildung an dieser Institution. Sie sollen sich hier auch sozial und kulturell weiter entwickeln. Wir sehen es zudem als eine sehr wichtige Perspektive an, dass Sie sich untereinander austauschen und soziale Kontakte mit den Studenten aus allen Ländern knüpfen, die an dieser Institution vertreten sind.

Wir fordern weiterhin von Ihnen, dass Sie offen gegenüber Andersdenkenden sind und rasch lernen, unterschiedliche Meinungen zu akzeptieren. Ausschließlich passives Engagement in dieser Frage wird absolut nicht toleriert.

Außerdem wünsche ich mir, dass hier Toleranz gegenüber Minderheiten gezeigt wird: Niemand darf wegen seiner Glaubenszugehörigkeit, seinen Ansichten oder seinen Meinungen diskriminiert oder unterdrückt werden. Keine Religion sollte sich als allein selig machende Wahrheit rücksichtslos in den Vordergrund drängen. Ich werde aus diesem Grunde keine gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der unterschiedlichen Glaubensrichtungen dulden. Allah bedeutet Gott und Gott wird von den drei großen monotheistischen Strömungen - dem Judentum, dem Christentum und dem Islam - auf dieser Welt verehrt. Ich hoffe daher...”

Weiter kam er nicht. Aus den Augenwinkeln war Mouad schon während der Rede das merkwürdige Verhalten eines bärtigen Mannes aufgefallen, der in ein langes, weißes Gewand gehüllt war und eine dunkle Mütze trug. Er hatte sich zum Schluss ganz langsam erhoben.

Wie ein Blitz durchzuckte es Mouad:

,Das ist doch nicht etwa ein Attentat?’

Seine Gedanken rasten - was sollte er jetzt tun? Er wollte gerade einen Warnruf ausstoßen, da eskalierte die Situation.

Der Bärtige stürmte auf das Rednerpult zu und schrie dabei mit heiserer, sich überschlagender Stimme in gebrochenem, nur schwer verständlichem Arabisch mit französischem Akzent:

„Du liberales Schwein! Wie kannst du Allah so verleugnen? Nur der Islam ist die einzig wahre Religion! Fahr zur Hölle!”

Ein Messer blitzte auf, während er sich rasend schnell zielgerichtet in Richtung des Rektors bewegte und im Begriff war, sich auf ihn zu stürzen, um ihn schwer zu verletzen oder sogar zu ermorden.

Ahmad hatte die Situation ebenfalls ganz genau verfolgt. Er sprang auf, wirbelte herum, flog auf den Angreifer zu und packte die bereits erhobene Wurfhand. Mit ungeheurer Kraft drückte er sie zusammen. Ein Schmerzensschrei entfuhr dem Attentäter. Er ließ das Messer fallen. Mit einem Ruck drehte er sich um, riss sich los und hechtete die Treppe hinauf, verfolgt von Ahmad. Sie rannten durch die Eingangshalle, wobei Ahmad genau darauf acht gab, ob nicht irgendwo doch noch weitere Verschwörer lauerten.

Sie gelangten ins Freie. Der Weg wurde abschüssig und kurvenreich. Ahmad spurtete los. Sie erreichten eine Linksbiegung, auf deren rechter Seite sich eine Gruppe dornenbewehrter Sukkulenten erhob. Er traf auf den Flüchtenden, der durch seinen langen Umhang an schnellerem Laufen gehindert wurde. Ahmad trat ihm von hinten in eine Kniekehle. Der Mann stolperte. Durch den Schwung seiner Bewegung flog er in die Pflanzengruppe. Mit einem Satz war Ahmad über ihm, riss ihn aus dem Gestrüpp heraus, drehte ihn dabei auf den Bauch und ließ ihn aufs Pflaster knallen. Er bog die Arme des Attentäters gewaltsam nach hinten und hockte sich auf ihn. Der Mann stöhnte vor Schmerzen.

„Was für ein Schuft bist du, dass du es wagst, den Rektor der Universität anzugreifen? Antworte!”

Der begann plötzlich zu schreien, während Ahmad den Griff immer weiter verhärtete. Er griff mit einer freien Hand nach seiner Kehle und drückte diese zusammen. Das Schreien verstummte, ging in ein gepresstes Würgen und dann in ein heiseres Röcheln über.

„Bist du von den IS-Kämpfern?”, fauchte Ahmad seinen Gegner auf französisch an. „Los jetzt, rede, oder du stirbst.”

Ein überraschtes Zucken ging durch den Körper des Angreifers, ein „Ja” drang gurgelnd durch die zugequetschte Kehle.

„Was ist euer Auftrag?”

„Allah ist der Größte. Ich sage nichts mehr.” Ahmad musste daher drastischere Maßnahmen ergreifen, um den Willen dieses Mannes zu brechen.

Er drehte den Kopf des Angreifers ein wenig zur Seite, suchte und fand einen bestimmten Punkt in der Nackenwirbelsäule und begann, an dieser Stelle kräftig mit spitzen Fingern zu drücken. Durch die Verschiebung des Wirbels wurde der Mann mit extrem heftigen Schmerzen konfrontiert.

,Wenn man dies sorgfältig macht’, so erinnerte sich Ahmad an die Zeit seiner Nahkampfausbildung, die er vor der Mission in diesem Land absolvieren musste, ,wird er keine Schäden davontragen.’

Der Mann wimmerte. Er merkte rasch, dass sein Angreifer, wer der auch immer war, besser trainiert war als alle amerikanischen und israelischen Agenten, die er jemals getroffen hatte und zudem über Fähigkeiten verfügte, denen er nicht gewachsen war.

,Wenn mir jetzt die anderen Mitglieder meiner Kampfgruppe nicht bald zu Hilfe kommen, bin ich verloren’, dachte er in panischer Angst.

Aber er konnte dieser mörderischen Tortur nicht länger standhalten. Er glaubte zu spüren, wie sich hunderte von Dolchen langsam in seinen Rücken bohrten - eine solche Pein hatte er noch nicht einmal in seiner knallharten Ausbildung im Al-Qaida-Rekrutierungszentrum in Waziristan erlebt. Zusätzlich meinte er, in seinem Gehirn eine geheimnisvolle Stimme zu vernehmen, die ihm mit ungeheurer Gewalt und Brutalität verdeutlichte, dass er einen absolut qualvollen Tod sterben würde, wenn er nicht endlich die Wahrheit preisgeben würde. Sein Wille, Widerstand zu leisten, zerbrach - kollabierte vollständig.

„Das islamische Kalifat plant”, stöhnte er, „diesen Staat zu zerstören, indem alle gesellschaftlichen Gruppen unterwandert und die westlich orientierten Intellektuellen getötet oder in den Osten nach Rakka oder Mossul deportiert werden, um sie dort zur Zwangsarbeit einzusetzen.”

„Wie viele von euch Vierergruppen gibt es?”, zischte Ahmad.

„Viele Hunderte. Wir haben das Ziel, den Libanon durch Terror, politische Subversion und Stärkung der innenpolitischen Gegner zu zersetzen, beinahe erreicht. In den nächsten Tagen und Wochen”, und Knud meinte, bei dieser Aussage noch ein hämisches Gelächter in der Stimme dieses vollständig indoktrinierten Mannes herauszuhören, „wird dieser Staat aufhören, in seiner jetzigen Form zu existieren. Dies wird Teil unseres Herrschaftsbereiches und dem Kalifat hinzugefügt! Die ganze Welt wird sehr bald uns gehören!”

„Ich glaube nicht, dass das so einfach sein wird”, zischte Ahmad. „Die schiitische Terrorgruppe Hisbollah hat da gewiss auch noch ein Wörtchen mitzureden.” Der französische Salafist probierte, Ahmad ins Gesicht zu spucken. Aber durch eine erneute Verhärtung des Würgegriffes erhielt er keine Gelegenheit dazu.

Ahmad durchsuchte seinen Gegner. Aber außer einigen Libanesischen Pfund schien dieser nichts weiter bei sich zu haben.

,Nur ein Killer, der fürs Gröbste eingesetzt wird’, dachte er. ,Aus dem ist nicht viel herauszuholen, denn er ist keiner der Führungsoffiziere, die diese Gruppen kommandieren. Aber selbst die wissen nur das Nötigste von der ganzen Operation. Ihre Aufträge erhalten sie über Mobilfunk - wo sie eingesetzt werden, wen sie liquidieren müssen.’

Er drückte noch einmal kräftig auf die berührungsempfindliche Stelle im Nackenbereich seines Gegners. Der Schmerzschub würde den Attentäter einige Minuten außer Gefecht setzen. Zeit genug, damit er, Ahmad, hier verschwinden konnte, bevor ihn die anderen drei der Gruppe finden würden.

Er sprang auf und schlug sich in den dichten Pflanzenbewuchs entlang des Weges. Offenbar keine Sekunde zu spät, denn schräg hinter ihm ertönte ein Ruf auf Arabisch, der in etwa mit ,ich habe ihn gefunden’ übersetzt werden konnte.

Im Hörsaal war die Hölle los. Alles schrie durcheinander. Es herrschte totales Chaos. Studenten trampelten sich fast tot bei dem Versuch, jeweils als erster den Raum verlassen zu können. Professoren rannten panikartig denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Nur der Rektor und Mouads Vater versuchten über das Mikrophon, die Studenten zu besonnenem Verhalten zu bewegen.

Es gelang ihnen zunächst nicht. Nach wenigen Augenblicken gaben sie sogar für’s Erste hilflos auf. Der Rektor verließ ebenfalls den Saal. Mouads Vater unternahm jedoch noch einen letzten Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen und brüllte aus Leibeskräften in das Auditorium - was sich wie ein Donnergrollen anhörte:

„Es ist nichts passiert. Der Rektor ist unverletzt. Ich erwarte daher, dass Sie geordnet den Saal räumen. Verlassen Sie zügig das Gebäude und warten Sie dann draußen auf die Polizei.”

Dies wirkte endlich.

Der Professor und Mouad blieben allein zurück.

„Wer war denn derjenige, der die Messerattacke abgewehrt hat?”, begehrte sein Vater zu wissen. „Du kennst ihn! Ich habe dich nämlich dabei beobachtet, wie ihr, wenn auch leise, bei der Eröffnungszeremonie miteinander getuschelt habt.”

„Das ist ein neuer Kommilitone von mir. Ahmad Johar heißt er. Ich habe die beiden vergangenen Nächte bei ihm verbracht.”

„Den musst du mal mit nach Hause bringen und uns vorstellen. So einen Kämpfer habe ich ja noch nie erlebt. Seine Reaktionsfähigkeit war wirklich unglaublich gut. Ich hoffe, dass er auch mindestens ebenso brillante Fähigkeiten im Kopfe hat.”

„Er macht bis jetzt eine gute Figur, ist sehr aufgeschlossen gegenüber allen Dingen und vielseitig interessiert. Ich mag ihn.”

„Und gut aussehen tut er auch noch.”

Sein Vater sah ihm durchdringend in die Augen.

Mouad senkte den Blick.

„Ahmad und ich hatten eigentlich geplant, uns bei schönem Wetter unten am Strand zu treffen. Ich möchte dort auf ihn warten. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.”

„Mir ist nicht sehr wohl bei diesem Vorhaben. Vielleicht wird dein Freund ja von den Attentätern verfolgt und ihm aufgelauert. Denn so ein Mordbube agiert niemals allein. Es handelte sich nämlich bei den Angreifern möglicherweise um Pasdarani.”

Der Professor dachte einen Moment nach. „Seine Aussprache deutet jedoch mehr auf einen Terroristen aus Europa hin, der für das Kalifat kämpft, worauf ich dich vor einigen Monaten bereits hingewiesen habe. Diese Tatsache war unschwer an seinem Dialekt zu erkennen. Besser wäre es daher, wenn du mit mir nach Hause zurückkehren würdest.”

„Ich kann ihn trotz deiner Einwände nicht allein lassen. Ahmad ist ein guter Mensch.”

„Na gut, meinetwegen. Aber versprich mir, dich bei uns heute Abend zu melden, damit wir wissen, wo du dich aufhältst.”

„Auf jeden Fall.”

„Na, dann such ihn mal und bringe ihn dann bitte auch bei nächster Gelegenheit mit zu uns nach Haus.”

,Ich habe doch noch gar nichts erzählt, dass ich mich in Ahmad verliebt habe’, dachte Mouad. ,Aber mein Vater ahnt bestimmt schon etwas.’

Mouad wandte sich um. Der Professor sah ihm grübelnd nach.

,Dann hat meine Frau Fatima also doch recht gehabt mit ihrer Vermutung. Wir müssen mit Mouad dringend über diese Angelegenheit reden.’

Kopfschüttelnd wandte er sich ab und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Mouad nachdenklich die Treppenstufen im Hörsaal emporstieg.

Mouad bahnte sich einen Weg durch die heftig diskutierenden Studenten. Von den Sicherheitskräften war immer noch nichts zu sehen. Er schlug den Weg Richtung Uferpromenade ein. Sein Herz klopfte bis zum Hals.

Hoffentlich war Ahmad nichts zugestoßen.

Auch Ahmad machte sich auf den Weg zum Strand auf der dem Meer zugewandten Seite des Corniche, wo er sich mit Mouad treffen wollte, wenn sein Vater dies nicht ablehnte. Deshalb war es unsicher, ob sein Freund überhaupt kommen würde.

„Die Terroristen des Islamischen Staates sind also schon dabei, die Führungskräfte und die Elite dieses Landes zu beseitigen. Auf der anderen Seite steht doch gewiss Iran mit ihrem Ziehkind, der Hisbollah, angeführt von ihrem gnadenlos - fanatischen Führer Nasrallah, ”, murmelte er fast unhörbar vor sich hin.

,Wenn sie damit Erfolg haben sollten’, und er sah keinen Grund, wodurch dieser Umsturz verhindert werden könnte, ,ist dieser Staat rasch enthauptet und dem Untergang geweiht. Insbesondere dann, wenn - wie schon so oft - die beiden mächtigsten rivalisierenden Religionsgruppen Hisbollah und Islamischer Staat gegeneinander zu Felde ziehen - aber wer weiß, vielleicht...’, führte er diesen Gedankengang unvollständig zu Ende.

Niemand war zu sehen. Die Landschaft lag so friedlich zu seinen Füßen und war von der aus den Wolken hervorbrechenden Sonne in ein weiches, freundliches Licht getaucht, dass man glauben konnte, hier hätte sich überhaupt nichts Dramatisches ereignet. Ahmad blickte in eine scheinbar vollkommene Idylle. Aber er nahm die schon fast surreal wirkende Stimmung nicht wahr und ging weiter, während er sich sein Hirn zermarterte, was jetzt als Nächstes zu tun wäre.

Der Kurator Band 1

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