Читать книгу Der Kurator, Band 2 - Arno Wulf - Страница 12
Ein glückliches Wiedersehen
ОглавлениеKnud wollte gerade mit seinem Bericht beginnen, als der Intercom summte.
Der Leiter der medizinischen Abteilung, Krwysnoggh, ein Vertreter der Qwrth, meldete sich mit seiner tiefen, sonoren und freundlichen Stimme. Er hatte die Stellung eines Archidux inne, was der Position eines Professors bei den Menschen entsprach. Knud mochte diesen Arzt, der stets alles, was er unternahm, bis ins letzte Detail gründlich durchdachte.
Er hatte schon seit geraumer Zeit auf den Anruf gewartet, ihn geradezu herbeigesehnt. Denn Knud war sich absolut sicher, dass Mouad, sobald er wieder Zeit zum Nachdenken fand, sich an die entsetzlichen Geschehnisse seiner Flucht und den Verlust seiner Eltern erinnern würde. Wenn man ihn dann nicht rasch über ihr Schicksal aufklärte, könnte dies einen herben Rückschlag für seine psychische Stabilisierung bedeuten. Dies wäre möglicherweise mit unabsehbaren Konsequenzen in Bezug zu seinem Lebensmut und dem Willen, weiter zu existieren, verbunden. Auch das Risiko eines Suizidversuchs wäre dann nicht von der Hand zu weisen.
„Lieber Knud”, ließ sich die voluminöse, klangvolle Stimme in Qwrtharah vernehmen, da Knud nicht wollte, dass Mouad dieses Gespräch verstehen konnte, „du kannst unbesorgt sein. Deinen terranischen Freunden geht es wieder sehr gut. Ich habe dafür Sorge getragen, dass durch massive Zellvermehrung und -differenzierung der Professor physiologisch komplett wieder hergestellt werden konnte. Auch seine körpereigenen Fortbewegungswerkzeuge sind regeneriert, voll funktionsfähig und belastbar. Darüber hinaus wurde von mir veranlasst, dass sie keine andere Lebensform als Terraner zu sehen bekommen haben. Sie sind mit Sicherheit psychisch noch nicht in der Lage, den Schock zu verkraften, wenn sie mit völlig andersartigen, nichtmenschlichen Lebewesen konfrontiert werden. Ich denke, es ist Aufgabe der menschlichen Besatzungsmitglieder, sie an andere Rassen zu gewöhnen. Die Bribires sind zwar im Moment guter Dinge, wie mir Mary berichtet hat. Aber sie werden vermutlich viele Tage brauchen, um die neue Situation zu bewältigen und sich an sie zu gewöhnen. Darf ich sie in Begleitung der sommersprossigen, rothaarigen Lady zu dir schicken?”
„Liebend gern. Dies ist wirklich ein Grund zur Freude. Mir fällt wirklich ein Stein vom Herzen. Dies dürfte auch den Lebensmut meines Freundes erheblich unterstützen. Aber was ist mit Aischa?”
„Physiologisch ist sie aus dem Gröbsten raus. Aber wie du schon korrekt vermutet hattest: Sie hatte schwere innere Verletzungen, die den Bauchraum stark vergiftet haben: Der Austritt von Fäkalien in das Abdomen verlief schleichend und erklärte auch, warum Aischa, obwohl äußerlich unverletzt, hier in einem noch schlechteren Zustand ankam als Wahid. Daher waren wir gezwungen, bei ihr sehr eingreifende Maßnahmen zu ergreifen, um ihr Leben zu retten.”
„Als da wären?”
„Aus Stammzellen musste durch Differenzierung fast drei Viertel ihres ursprünglichen Körpers neu geschaffen werden. Um ein Haar wäre auch ihr Gehirn angegriffen worden. Aber das Wichtigste, ihre Persönlichkeit, konnte unverändert bewahrt werden. Trotz unserer medizinischen Errungenschaften - es wird noch mindestens eine, wenn nicht gar zwei Wochen oder länger dauern, bis sie körperlich so weit wiederhergestellt sein wird, dass sie ansprechbar ist.”
„Puuh, das beruhigt mich doch ungemein. Du vollbringst, wie immer, hervorragende Leistungen, Archidux.”
„Moment, bitte.”
Er hörte, wie er Mary anwies, sich mit der Familie zu Knud zu begeben.
„Nur noch eins: Ich würde mich gerne in der nächsten Zeit mit dir über verschiedene Dinge unterhalten, die die Erde betreffen. Besteht da die Chance, für mich eine Lücke in deinem Terminplan zu finden? Zumal... du hast mich ja mit neuen medizinischen Herausforderungen an Humanoiden konfrontiert, die ich so in dieser Qualität noch nie erlebt habe.”
„Ich weiß... Lass mich aber bitte erst das Wiedersehen mit meinen Freunden feiern. Ich denke aber, dass ich mich so um 21 Uhr galaktischer Zeit mit dir treffen könnte.”
„Wunderbar, ich freue mich schon auf nachher.”
Knud wandte sich wieder Mouad zu, der ihn fragend ansah und nervös auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Auf unerklärliche Weise schien er zu erahnen, dass ein bedeutungsvoller Moment bevorstand. Er wunderte sich darüber, dass Knud ihn über den Inhalt des Telefonats im Unklaren ließ. Noch seltsamer fand er es, dass Knud eine melodiöse, sehr musikalische, für ihn jedoch völlig unverständliche Sprache gewählte hatte.
Knud bemerkte die Verunsicherung seines Freundes. Er ging jedoch davon aus, dass sich die Bribires rasch einfinden würden. Denn er war sich absolut sicher, dass Mouad kurz davor stand, erneut von Erinnerungen, ja von Gefühlen übermannt zu werden.
Knud hoffte jedoch, dass die Wiedersehensfreude ihn weiter stabilisieren würde. Er entgegnete auf Mouads unsicheren Blick lediglich:
„Das war der Leiter der medizinischen Abteilung. Er hat mir etwas sehr Wichtiges mitgeteilt.”
Knud machte eine bedeutungsschwere Pause. Er wollte zunächst nur Zeit gewinnen und von den höchst emotionsgeladenen Ereignissen der jüngsten familiären Vergangenheit ablenken.
„Bevor ich dir alles, was du wissen willst erzähle: Möchtest du zuvor vielleicht noch etwas trinken oder essen?”
„Nein, spann mich nicht länger auf die Folter”, meinte Mouad etwas ungehalten, „nun erzähl schon endlich. Ich platze schließlich vor Neugier.”
„Na schön. Womit soll ich anfangen?”
Mouad dachte nach. Und schlagartig brachen erneut die schrecklichen Ereignisse hervor, die während der letzten Tage im Libanon stattgefunden hatten. Das Grauen, die Panik, die Angst, als sie Zeuge der Vorbereitung eines grauenhaften Massakers durch die ISIS wurden. Zusätzlich überspülten ihn erneut die Erinnerungen an den entsetzliche Verlust seiner Familie und erzeugten in ihm erneut das Gefühl völliger Verlassenheit und abgrundtiefer Trauer. Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Was ist mit meinen Eltern passiert?”, stammelte er, während er die Hände vor sein Gesicht schlug. „Leben sie noch? Sind sie gerettet worden? Und was ist mit Aischa? Was mit der Flüchtlingsgruppe, auf die wir trafen? Und sind vielleicht die hunderte von Menschen, die von den Releigionsfaschisten grausam abgeschlachtet werden sollten, doch noch irgendwie gerettet worden, einschließlich der beiden grausam Verstümmelten, die wir am Straßenrand gesehen hatten? Was ist mit Juda und Salusch? Dies zu klären ist mir wichtiger als alle phantastischen Erzählungen aus dieser neuen Welt. Bitte... bitte hilf mir doch, sie alle wieder zu finden.”
Er sah Knud mit flehenden Augen an.
,Wo stecken die bloß?’ schimpfte dieser innerlich. Sein Gewissen meldete sich.
,Das ist doch unverantwortlich, wie du dich gegenüber deinem Freund verhältst. Nun sag ihm doch schon endlich die Wahrheit.’
Da, endlich: Ein melodischer Gong ertönte. Jemand begehrte Einlass.
Knud nahm Mouads Hand, machte aber selbst keine Anstalten, die Tür zu öffnen.
„Willst du nicht nachsehen, wer das sein könnte?”, fragte Knud seinen Freund zärtlich.
Aber Mouad hatte offensichtlich die versteckte Aufforderung überhört.
„Bitte, lass mich nicht wieder allein, sei für mich da! Ich möchte jetzt niemanden sehen und nur mit dir allein sein. Kommt es dir denn nicht in den Sinn, dass es im Moment nichts Wichtigeres für mich gibt, als über das Schicksal meiner Familie und all der Anderen nicht weiter im Unklaren gelassen zu werden?”
Verzweiflung lag in Mouads Stimme.
Aber Knud blieb hartnäckig.
„Komm, lass uns mal nachsehen.”
Knud zog seinen Freund wiederstrebend vom Stuhl hoch und schob ihn vor sich her.
„Wieso tust du mir das nur an? Kannst du deine Gäste nicht wegschicken und ihnen sagen, dass wir beide unsere Ruhe haben wollen? Ich kann doch meine Eltern, meinen Bruder, Aischa und die anderen Unglücklichen nicht so einfach vergessen und zur Tagesordnung übergehen.”
Wieder erklang das Signal. Mouad stand vor der Tür - völlig aufgelöst. Er sah durch den Tränenschleier in Knuds Gesicht und meinte, Freude und Erleichterung darin lesen zu können.
,Kann er sich denn gar nicht in meine Lage versetzen?’
Aber er kam nicht dazu, seinen Gedanken zu Ende zu führen.
„Computer, öffnen”, befahl Knud übergangslos.
Mouad blieb wie angewurzelt stehen. Er blickte in ein Gesicht, das ihm so bekannt vorkam. Sein Herz jubilierte. Ein Blitz voller Glücksseligkeit durchzuckte und eine Woge tiefer Erleichterung erfasste ihn. Eine Hand zog ihn hoch. Mouad konnte es einfach nicht fassen, wen er da vor sich sah: Denn er schaute in das vertraute Antlitz seiner Mutter.
„Mama”, rief er leise, „Mama, du bist es? Ist das wirklich wahr?”
Fatima begann ebenfalls zu schluchzen, zog ihren Sohn langsam hoch, umarmte ihn und flüsterte immer wieder seinen Namen. Mouad stützte sich auf sie und schien sie nie mehr wieder loslassen zu wollen.
„Mouad, mein lieber Mouad. Dem Himmel sei Dank. Du lebst!”, stieß sie immer wieder gerührt hervor, während sie ihn wiederholt drückte und auf die Stirn küsste.
„Geht es dir gut? Fehlt dir auch nichts?”
„Mama, ich freu’ mich so, dich wieder zu sehen. Ich habe so viel Schreckliches erleben müssen. Aber jetzt denke ich, dass ich es schaffen werde, darüber hinweg zu kommen.”
Wieder und wieder streichelte und presste sie ihn an sich.
Zwei bärenstarke, riesige Arme schlangen sich plötzlich um Mutter und Sohn. Ein von Gefühlen überwältigter Professor stammelte:
„Jetzt ist’s aber gut, Fatima! Mich habt ihr zwei wohl völlig vergessen. Es gibt ja auch noch andere Familienmitglieder, die sich nach ihrem verloren geglaubten Sohn sehnen.”
Und er wand Mouad aus Fatimas Armen, hob ihn hoch in die Luft und rief gerührt:
„Dies ist der schönste Tag in meinem Leben! Ich fühle mich wie neu geboren. Endlich... endlich sehe ich dich wieder. Ich habe mir unvorstellbar viele Vorwürfe gemacht, wie ich nur so dumm sein konnte, dich wegen dieser läppischen Anzünder und den dämlichen Streichhölzern in diese Hölle zurückgeschickt zu haben.”
Schließlich gelang es auch noch dem weinenden Elias, sich Mouad zu nähern und ihn lange und intensiv zu umarmen. Er musste erneut an die schrecklichen Stunden denken, in denen er für seinen sterbenden Vater Hilfe holen sollte. Er jedoch nicht mehr die Kraft hatte, sich in Dunkelheit und großer Gefahr weiterzuschleppen, um irgendwo Rettung zu organisieren.
„Gott sei Dank, wir sind wieder vereint”, stammelte er fassungslos.
„Ich hoffe so sehr, dass wir die Zeit finden werden, über unsere furchtbaren Erlebnisse zu reden. Ich weiß sonst nicht, wie ich jemals über das, was ich erleben musste, hinwegkommen soll”, entgegnete Mouad mit zitternder Stimme.
„Ja, du hast recht. Auch wir haben apokalyptische Szenen mitbekommen.” Wahid wirkte auf einmal sehr niedergeschlagen.
„Aber das wichtigste ist...”, jubilierte Wahid dann doch nach einigen Minuten, „dass wir wieder zusammen sind und alle noch leben. Endlich, endlich kann ich wieder ruhig schlafen.”
Elias drückte seinen großen Bruder noch viele Minuten an sich.
Nach über einer Stunde, die Mary respektvoll in einer Ecke des Raum mit Knud zusammen gewartet hatte, bekam auch sie schließlich die Gelegenheit, Mouad zu begrüßen und zu umarmen.
„Du musst der verloren geglaubte Sohn sein”, sagte sie und drückte ihn herzlich an sich. „Deine Eltern sind vor Trauer und Schmerz fast wahnsinnig geworden, während ich sie hierher evakuierte. Obwohl sie schliefen, und dein Vater obendrein lebensgefährlich verletzt war, haben sie in ihren Albträumen immer wieder nach dir geschrien und deinen Namen voller Trauer gerufen. Ich bin so froh zu sehen, dass zumindest diese Familie wieder vereint werden konnte und alle glücklich sind.”
„Wir haben dir den schönsten Tag unseres Lebens zu verdanken!”, rief der Professor voller Euphorie Mary zu.
Aber die wehrte mit ihren Händen ab und schüttelte dabei energisch den Kopf.
„Nein, diese Lorbeeren habe ich nicht verdient, sondern jemand anders. Ich wusste von eurer Notlage schließlich nichts und bin von meinem Auftraggeber ausgesandt worden, euch um jeden Preis, auch, wenn es sich als notwendig herausstellen sollte, unter dem Einsatz meines Lebens zu finden und hierher zu bringen.”
Sie wandte sich um und entdeckte die schattenhaften Umrisse des Angesprochenen. Knud hatte sich in den hintersten Winkel des Raumes zurückgezogen.
„Knud, nun komm schon hierhin und versteck dich nicht!”, rief sie.
Der hatte nämlich versucht, sich möglichst unsichtbar zu machen, als es zu dem stürmischen Wiedersehen kam. Er war kein großer Freund von Gefühlsaufwallungen und hielt sich lieber taktvoll im Abseits. Außerdem hasste er es, im Rampenlicht zu stehen und wegen seiner Gutherzigkeit und Mitmenschlichkeit von anderen gelobt zu werden.
„Knud? Welcher Knud? Diesen Namen habe ich noch nie gehört”, schnaufte der Professor fragend, während er sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln wischte. Mit seinen beiden Armen umfasste er rechts und links seine beiden Söhne. Er lächelte dabei so glücklich, wie man es bei ihm schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Knud kam nach vorn in den heller erleuchteten Eingangsbereich.
„Ahmad... Ahmad?”, stammelte Fatima. Sie hatte Mühe, ihre Fassung zu behalten. „Was machst du denn hier?”
Sie lief auf ihn zu, knuddelte ihn strahlend und streichelte ihm liebevoll über das Gesicht, während sie ihn mit Worten der Rührung und Erleichterung bedachte. Auch der Professor und Elias waren außer sich vor Freude, ihn wieder zu sehen: Sie stürmten auf ihn zu und drückten ihn fest an sich.
„Wir dachten schon, du hättest uns vergessen und würdest uns unserem Schicksal überlassen. Ich für meinen Teil wurde erst wieder etwas beruhigter, als Fatima mir von dem Brief erzählte”, jauchzte der Professor vor Freude.
„Dass es hier so gute Ärzte gibt, das hätte ich niemals für möglich gehalten. Ich habe meine Beine wieder”, strahlte er. Er konnte es immer noch nicht so recht fassen. „Und jetzt, wo die Familie heil und gesund wieder zusammen ist, beginnt unser zweites Leben. Aber Ahmad, ich meine natürlich Knud - wieso eigentlich Knud? - woher wusstest du ...”
Wahid war dermaßen aufgekratzt, dass er Knud mit einem unablässigen Wortschwall bedachte und ihm nicht eine Sekunde Zeit gab, auf diese Mischung aus Fragen und Freudentaumel zu reagieren. Aber Letzterer war froh, festzustellen, dass seine Freunde erste Anzeichen eines zurückkehrenden Lebensmutes zeigten, so dass er ihnen dieses etwas ungehörige Verhalten gerne verzieh.
Fatima ergriff jetzt das Wort. Energisch wandte sie sich ihrem Manne zu:
„Nun beruhige dich doch, Wahid. Du bist ja total überdreht. Lass doch Knud auch mal zu Wort kommen. Mit deiner Fragerei wirst du doch deinen Wissensdurst nicht stillen können.”
Knud warf ihr einen dankbaren Blick zu. Für ihn selbst war es in dieser Situation auch äußerst schwierig, seine Emotionen und Gefühle zu beherrschen. Er begriff, dass diese Menschen für ihn so wichtig wie eine Familie geworden waren und er beinahe nicht in der Lage war, seine seelischen Aufwallungen zu kanalisieren.
„Ja, ich bin es, Knud und auch euer Ahmad. Ich bin so überwältigt von dem Gefühl, euch alle wieder gesund anzutreffen. Ich möchte es nicht noch einmal miterleben müssen, dass irgend jemand von euch wieder in so eine Situation kommt.”
Mouad wand sich vorsichtig aus der Umarmung seines Vaters, stürmte auf seinen Freund zu, schlang die Arme um ihn und begann Knud wieder und wieder gerührt zu küssen.
„Danke... danke, dass du uns alle gerettet hast. Unser Leben hat jetzt endlich wieder einen Sinn bekommen.”
Sie drückten und liebkosten sich minutenlang. Schließlich sagte Knud mit fester Stimme:
„Liebe Familie! Bitte setzt euch erst einmal an den Tisch. Mouad und ich haben zwar schon gegessen, aber es ist noch genug von einem von mir selbst kreierten orientalischen und unser Meinung nach leckeren Gericht da. Ich vermute nämlich, dass zumindest hier an Bord wahrscheinlich von euch noch keiner eine köstliche Mahlzeit zu sich genommen hat.”
Er geleitete seine Freunde zu dem großen Esstisch, platzierte noch weitere Gedecke symmetrisch an den Seiten des Möbelstücks und füllte jedem etwas von dem Eintopf auf. Selbst Mouad langte noch einmal zu.
„So köstlich habe ich nicht mehr gegessen, seitdem du uns in unserem Haus beköstigt und verwöhnt hattest, was von meinem Gefühl her vor Äonen in der Vergangenheit statt gefunden hat”, stellte der Professor fest.
„Genau sechs Tage liegt dieses Ereignis zurück. Eine Ewigkeit scheint seit diesem denkwürdigen Tag vergangen zu sein, nicht wahr?”, entgegnete Knud, während ihm wieder einmal bewusst wurde, wie subjektiv ein jeder den Ablauf der Zeit und damit auch der Ereignisse wahrnahm.
Wahid nickte zustimmend. Er spürte, dass die Emotionen in seinen Gedanken allmählich den Rückzug antraten und die Neugierde des Wissenschaftlers wieder in den Vordergrund rückte.
Aber bevor er Gelegenheit erhielt, Knud ausschließlich mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen zu konfrontieren, kam ihm Fatima erneut zuvor:
„Zunächst einmal möchte ich von euch beiden erfahren, was sich ab dem Zeitpunkt, als Vater dich, Mouad, noch einmal zurückgeschickt hat, ereignet hat.”
Wahid erschrak, als er den Worten seiner Frau gewahr wurde: So neugierig er auch war - dies hatte natürlich vor allen anderen Dingen absolute Priorität. Dafür bewunderte er Fatima manchmal sogar - dass sie nämlich die Fähigkeit besaß, vor allem Anderen menschlich nahe liegende, emotionale Aspekte in den Vordergrund der Retrospektive ihrer durchlittenen Tragödie zu stellen.
Und so kam es, dass sie sich in den nächsten Stunden wechselseitig berichteten, was in den letzten Tagen geschehen war.
Als Mouad aus seiner Sicht über den Verlauf des hochemotional geführten Konfliktes zwischen ihm und Knud in dessen Wohnung berichtete, war Wahid mit einem Male sehr aufgebracht. In schon fast beleidigendem Tonfall wies er Knud aufs Schärfste zurecht, ergriff geradezu erbittert Partei für seinen Sohn.
Aber Fatima ging dazwischen:
„Wahid, mäßige bitte deinen Tonfall. Knud hat unserem Sohn und auch uns mehrmals zuvor das Leben gerettet. Er wird mit Sicherheit seine Gründe dafür gehabt haben, sich so gegenüber Mouad zu verhalten. Daher sind jetzt, mein lieber Mann, voreilige Schuldzuweisungen mit Sicherheit fehl am Platze. Ich will den Rest der Geschichte hören - in allen Einzelheiten. Erst dann werde ich mein Urteil fällen - aber mit Sicherheit nicht irgendwo mittendrin! Bitte, lasst euch von den verbalen Entgleisungen meines Mannes nicht entmutigen. Ich möchte alle Geschehnisse auf eurer Flucht hierher bis ins kleinste Detail erfahren.”
Knud, der ob dieses massiven verbalen Angriffs für einen kurzen Moment um Worte rang, empfand zugleich tiefen Respekt gegenüber dieser Frau. Denn ihr Verhalten machte sehr deutlich, dass es Fatima war, die sogar in brenzlichen Situationen einen kühlen Kopf bewahrte.
Als Mouad im Verlaufe der nächsten Viertelstunde berichtete, wie er Aischa gefunden hatte und wie beide versuchten, das Leben des Mädchens zu retten, wurden Fatima, Wahid und Elias plötzlich sehr still. Denn mit so einer Tat hatte keiner von ihnen gerechnet.
Schließlich erhoben sich Fatima und Wahid und gingen auf Mouad und Knud zu. Fatima nahm ihren Sohn innig in den Arm, dann ihren Schwiegersohn. Auch Wahid konnte seine Emotionen kaum mehr im Zaum halten - so gerührt war er von dieser unerwarteten Begebenheit.
„Ich bin überwältigt von euch beiden, dass ihr in einer Zeit, in der jeder ausschließlich nur noch an sich denkt, zu so einer Tat fähig gewesen seid. Denn in den allermeisten Fällen verhält man sich in so einer lebensbedrohlichen Situation so, wie Mouad es im Verlauf des entsetzlichen Gemetzels geschildert oder wie du, Knud, während der halsbrecherischen Flucht aus Beirut-Stadt, agiert hast. Und ich entschuldige mich für meinen verbalen Ausfall gegenüber dir, Knud.”
Erst nach einigen Minuten fand auch Fatima ihre Sprache wieder.
„Bitte, berichtet uns: Wie ging es danach weiter?”
Nachdem alle die Geschehnisse der letzten Tage dargelegt und zum Teil kontrovers erläutert hatten, ergriff Fatima Knuds Hand.
„Drei Dinge will ich von dir jetzt gern wissen: Wie geht es Aischa? Und was hat dich dazu bewogen, unseren Sohn, deinen doch über alles geliebten Mouad, beinahe in den Tod zu schicken? Und wieso habt ihr von hier aus keine Hilfe organisiert, um all diese Menschen, die jetzt mit Sicherheit nicht mehr am Leben sind, doch noch zu retten?”
„Die erste Frage ist rasch beantwortet: Die Ärzte haben mir versichert, dass Aischa keinerlei bleibende Schäden davontragen wird und sich physisch normal entwickeln wird. Aber es wird uns wohl erst in den nächsten Tagen gestattet, sie zu besuchen.
Die zweite Frage jedoch bedarf einer erheblich ausführlicheren Erläuterung. Ich kann daher insbesondere Wahid nur um noch etwas Geduld bitten - dann erst werdet ihr hoffentlich verstehen, warum ich mich mit der Evakuierung von Mouad und mir so schwer getan habe. Was die dritte Frage betrifft... sie kann ich im Moment nicht beantworten.”
Knud schüttelte den Kopf.