Читать книгу Der Kurator, Band 2 - Arno Wulf - Страница 7
Das Raumschiff
ОглавлениеDie Geschwindigkeit des Zyklopen verringerte sich merklich. Mouad und Knud blickten vor dem kristallklaren, tiefschwarzen, mit Gaswolken, Sternen und dem Milchstraßenband angefüllten Firmament auf eine zunächst etwa vollmondgroße, diskusförmige, im Sternenlicht schwach metallisch glänzende, grauschwarze Scheibe. Endlich konnte Mouad die ersten Details des Schiffes ausmachen:
An den ansonsten strukturlosen, zur Schiffsmitte konisch zulaufenden Ober- und Unterseiten, befanden sich jeweils im Zentrum zwei kreisförmige, parallel übereinander verlaufende Lichterketten, die sich als Reihen kolossaler Beobachtungsfenster entpuppten. Sie waren so angeordnet, dass eine völlig freie Sicht auf die über ihnen liegende Raumhemisphäre oberhalb der jeweiligen Ober- und Unterseite des Diskus möglich war.
Dort befanden sich die Kommandobrücken, von denen allerdings immer nur eine als Befehlszentrale genutzt wurde. Am häufigsten wurden jedoch beide zugleich als Forschungs- und Beobachtungseinrichtungen genutzt, sodass insgesamt eine ungestörte 360 Grad Rundumsicht ermöglicht wurde. Jede von ihnen wurde durch eine funkelnde Metallkugel gekrönt, den Coronorfeld-Emittern, die ein undurchdringliches Kraftfeld erzeugten und das Schiff praktisch unverwundbar machten. Entlang der Außenkante des Schiffes befanden sich unzählige Tore, Schleusen und Andockhalterungen. Dazwischen befanden sich weitere Feldemittoren, mit denen man die Zugänge zum Inneren abriegeln konnte.
Immer weiter näherten sie sich der Intrepid. Das scheinbare Wachstum des Raumfahrzeuges schien kein Ende zu nehmen.
Mouad starrte auf die für ihn immer bedrohlicher wirkende Masse des Schiffes, die schließlich die Sicht aus den Cockpitfenstern vollständig dominierte.
Er fühlte, dass er wie in Zeitlupe mehr und mehr die Kontrolle über seinen Geist, seine Psyche verlor. Die Empfindungen, die ihn überwältigen, waren kaum in Worte zu fassen. Vielleicht war es eine Mischung aus ungläubigem Erstaunen gepaart mit Faszination und Neugierde - einerseits.
Andererseits aber auch Unsicherheit, Furcht vor dem Unbekannten, Angst um seine Zukunft, seine eigene Existenz. Und dann kam noch der vollkommene Zusammenbruch seines Weltbildes hinzu, all das, woran er geglaubt hatte, seine Ideale und Träume. Alles erschien ihm mit einem Male unbedeutend, belanglos, vollkommen unwichtig.
Denn er war sich inzwischen absolut sicher, dass dieses Schiff nicht von der Erde stammen konnte. Allein schon der schätzungsweise über 15 Kilometer betragende Durchmesser dieses Fluggeräts sprengte alle Dimensionen der auf der Erde verfügbaren Technologie.
Sie erreichten die kolossale Diskuskante. Ihre Außenseite war schätzungsweise 4 000 Meter hoch. Mouad erkannte zahllose Raumschotts und Einflugbereiche ohne sichtbare Trennung vom Weltraum, hinter denen grell erleuchtete Hangars und Landebahnen tief ins Schiffsinnere führten.
Aber was für Raumschotts das waren! Ihr eigenes Vehikel war ein Staubkorn im Vergleich zu diesen Kolossen, die eine Höhe von mehreren 100 Metern aufwiesen.
Jeder Hangarzugang wurde an der Schiffsaußenseite mit Positionslichtern markiert, die den Zugang regelten: Rot für Einflug gesperrt, grün erlaubte die Landung und blau signalisierte Wartungsarbeiten.
Für einen unvorbereiteten Reisenden wie Mouad verursachte die Landung in einem der Hangars auf der Intrepid eine heftige Kontroverse mit seiner bisherigen Realität. Denn er glaubte - wie in Trance - hinter zahllosen beleuchteten Fenstern, die sich auf beiden Seiten der titanischen Hallen scheinbar in unermesslich große Höhen wölbten, Details der fremdartigen Technologie ausmachen zu können:
Laboratorien, in denen Wissenschaftler ihren Experimenten und Auswertungen nachgingen,
ausgedehnte Werkstätten, in denen Besatzungsmitglieder und Roboter defekte Raumschiffe reparierten und Ersatzteile anfertigten,
Kontrollräume mit großen Steuerungspulten, hinter denen Flugüberwachungspersonal saß, um an Hand holographischer Anzeigen die Starts und Landungen zu koordinieren,
ringsherum verglaste Räume, die zur Untersuchung und Quarantäne von fremdartigen Lebewesen dienten und zur Not mit Kraftfeldern hermetisch abgeriegelt werden konnten,
und schließlich Balustraden, von denen Föderationisten eine hervorragende Übersicht auf das geschäftige Treiben haben konnten. In zwei Hangars schien es sogar Restaurants, von deren Balkons aus allerlei Neugierige den Start- und Landebetrieb verfolgen konnten, zu geben.
Ähnliche Transportfahrzeuge, wie das, in dem sie sich gerade befanden, steuerten zeitgleich zu ihrem Anflug auf die Intrepid die Landebahnen an, die sich vor ihnen wie nimmersatte, gähnende Mäuler auftaten.
Der Kampf zwischen seiner Ratio, die verzweifelt versuchte, die Beobachtungen auf rationale Ursachen zurückzuführen und den einstürmenden, fremdartigen Impressionen, spitzte sich immer mehr zu. In Mouad kam das Gefühl auf, nur noch ein absolut irrelevantes, marginales Etwas zu sein. Er begann jetzt endlich zu erahnen, ja zu begreifen, warum Knud sich vor wenigen Tagen so schwer damit getan hatte, ihn aus dem vom Krieg verheerten Libanon zu retten und an diesen futuristischen Ort zu bringen. Für diese Zivilisation mussten die in seiner Heimat sich voller Hass bekämpfenden Menschen den Eindruck primitiver und zugleich ordinärer Barbaren hinterlassen. Es stand für ihn inzwischen außer Zweifel, hier mit einer Hochkultur konfrontiert zu sein, die in ihrer technologischen und auch geistigen Blüte stand und der Erde in jeder Hinsicht auf Grund von äonenlanger friedlicher Evolution um Jahrzehntausende voraus war.
Aber trotz dieser letzten rein von der Logik geprägten Überlegungen: Mouad gelang es nicht, diese neue Realität zu akzeptieren.
Er blickte unverwandt zu Knud hinüber, der sich auf die Anflugsequenz konzentrieren musste. Aber dieser würdigte ihn keine Blickes. Mouad überkam urplötzlich das Gefühl vollkommender Verlassenheit, dem hilflosen Ausgeliefertsein einer fremden Macht, der er absolut nicht gewachsen war. All das, was Knud für ihn getan hatte, all seine Fürsorglichkeit gegenüber seinem libanesischen Geliebten: Dies löste sich in Mouads Empfindungen spurlos auf.
Vor ihnen öffnete sich ein Raumschott, das aus Segmenten aufgebaut war, die von ihrer Anordnung einer Blende in einem Photoapparat glichen. Im dahinter liegenden ausgedehnten Hangar befanden sich zahllose andere Raumschiffe verschiedenster Form und Größe. Einige waren von länglicher Form und mit vielen Fenstern - wobei sich Mouad zugleich fragte, wozu man die denn hier noch bräuchte. Denn er hatte schon registriert, dass einer der hier verwendeten Baustoffe scheinbar aus einem Metall in ein reflektionsfreies Glas transformiert werden konnte. Sie wiesen daher eine starke Ähnlichkeit mit irdischen Flugzeugen auf. Andere wiederum waren wesentlich kompakter gebaut und erinnerten ihn an Kampfflugzeuge, da sie mit Fortsätzen ausgestattet waren, die Ähnlichkeit mit Kanonen oder Maschinengewehren aufwiesen.
Bei der Passage des Schotts durchquerte ihr eigenes Zubringerschiff einen bläulichen Lichtvorhang. Dieser diente zur Dekontamination der Außenhülle der einfliegenden Flugobjekte und verhinderte zugleich das Ausströmen der Luft aus dem Hangar in die Leere des offenen Weltraums. Auf dem Boden der Halle schienen Menschen ziellos hin und her zu eilen, die von Transportmaschinen und sogar Robotern unterstützt wurden.
Mouads innere Zerrissenheit verschlimmerte sich. Er war sich absolut sicher, in einem Realität gewordenen Albtraum gefangen und dem Ende seiner eigenen Existenz hilflos ausgeliefert zu sein. Schockstarr und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, blickte er mit weit aufgerissenen Augen minutenlang auf diese Szenerie. Seine Gedanken rasten. Wie in einem Kaleidoskop flirrten die Erinnerungen von dem, was er in der letzten Zeit durchgemacht hatte, mit irrsinniger Geschwindigkeit an seinem inneren Beobachter vorbei. Einige dieser Bruchstücke schienen zu passen und mehrere von Knuds seltsamen Verhaltensweisen zu erklären. Andere wiederum verursachten nur noch ein größeres Chaos in seinem Gehirn.
Aber an manchen Stellen dieses gefühlsmäßigen Irrsinns flackerte dann doch noch einmal seine Logik, seine Neugierde auf. Einer der Hauptfragen lautete zum Beispiel:
,Wie ist es möglich, dass Menschen in einem so fortschrittlichen Staat lebten?’
Er wusste aus seinen astrobiologischen Büchern, dass die Chance, damit sich auf einem anderen Planeten nochmals Humanoide entwickeln könnten, wesentlich geringer war, als ein bestimmtes Atom unter allen Atomen des Kosmos zu finden.
Aber diese Erleichterung war für ihn nur von kurzer Dauer.
Schließlich führte die Flut an einstürmenden neuen Impressionen dazu, dass in ihm etwas zerbrach. Aber er war nicht mehr in der Lage, diesen eigenartige inneren Zwiespalt näher zu spezifizieren.
Erst jetzt bemerkte Knud, dass bei seinem Mann irgend etwas völlig aus dem Ruder lief. Er sah seine Anspannung, sein verzerrtes, bleiches Gesicht, seinen Angstschweiß. Er wusste aus den Erfahrungen früherer Einsätze, dass Mouad drauf und dran war, die Kontrolle über seinen eigenen Körper und Geist zu verlieren
Mouads Lippen bebten, als Knud ihn zum Ende des Flugmanövers endlich wieder anschaute.
Der Zyklop setzte sanft auf dem Hangarboden zwischen Lichtkreuzen, die als Positionsmarkierung dienten, auf.
„Willkommen an Bord der Intrepid”, sagte Knud leise, erhob sich und fasste seinen Freund zärtlich an der Hand.
„Du bist in Sicherheit, hier gibt es keinen Krieg.”
Mouad war nicht mehr im Stande auch nur noch einen Ton hervorzubringen; er wirkte inzwischen sogar völlig apathisch. Die warmen Worte seines Freundes registrierte er gar nicht - sie erreichten noch nicht einmal sein Bewusstsein.
Das Schott des Zyklopen öffnete sich. Zwei in beigefarbene Uniformen gekleidete Männer kamen mit einer Trage auf sie zu. Das Äskulapsymbol auf den Schulterklappen identifizierte sie als Schiffsärzte. Sie untersuchten Aischa kurz, hoben sie vorsichtig an und transportierten sie rasch hinaus.
Aber auch dies bekam Mouad nicht mehr mit. Knud umschlang seinen Freund, drückte ihn liebevoll an sich, küsste ihn zärtlich auf den Mund.
Aber trotz all dieser Bemühungen - Mouad war vollkommen indisponiert, als würde er die Kontrolle über seine eigene Existenz verlieren.
Knud fühlte Panik in sich aufsteigen: „Mouad, mein geliebter Mouad - tu mir das jetzt nicht an! Du darfst dich nicht aufgeben!”
Fassungslos führte Knud seinen Freund wie ein willenloses Wesen aus dem Cockpit. Vorbei an der seltsamen Ladung aus Goldbarren und Ölfässern. Eine freundliche Frauenstimme ertönte und gab einige Erklärungen. Unmittelbar danach strömte aus allen Wänden des Schiffes ein intensives blaues Leuchten auf sie ein.
„Dekontamination, wie vorhin beim Einflug in das Hangar”, versuchte Knud seinen Freund erneut anzusprechen, nochmals zu beruhigen.
Aber dieser zeigte immer noch keine Reaktion. Mouad schien sich wie in Trance zu bewegen.
Sie schritten auf die Außenluke des Zyklopen zu. Und wieder sprach die Stimme etwas für Mouad Unverständliches. Die Tür schwang auf. Gleißendes Licht der Hangarbeleuchtung empfing sie. Saubere Luft, die leicht metallisch roch, stieg ihnen in die Nase. Das betriebsame, leise Sirren von Motoren, ein babylonisches Stimmengewirr, das das Gefühl von Hektik aufkommen ließ und das Trappeln unzähliger Füße drang an ihre Ohren. Eine gigantische Halle wölbte sich über ihnen. Die Decke war in fast 500 Metern Höhe über ihnen aus wabenförmigen Segmenten aufgebaut, um die enormen Kräfte, die auf das Schiff wirkten, abzufangen.
Der überwältigende Gesamteindruck wurde noch durch die zwei Kilometer Tiefe und über einen Kilometer Breite des Raums verstärkt. Bekannte irdische Bauwerke wie der Petersdom in Rom oder die Pyramiden von Gizeh wirkten geradezu winzig im Vergleich zu diesen kolossalen Abmessungen des Hangars. Eine Unzahl von Türen, die zu Dekontaminationsräumen, Aufzügen, Werkstätten und Mannschaftsquartieren führten, bildeten den Übergang zwischen Wand und Landungsboden.
Mouad wankte benommen die Treppe hinab und blickte ungläubig zu dem gigantischen Raumschott hinüber, das sie soeben passiert hatten. Ein aerodynamisch geformtes, blau-metallisch schimmerndes Fluggerät schwebte gerade hinein, das einer Concorde nicht unähnlich war.
Es war extrem wendig. Ein leises Zischen - und die Maschine setzte im hinteren Teil des Hangars zur Landung an. Hunderte, auf diese Entfernung winzig erscheinende Figuren, stiegen aus und verschwanden in Lifttüren, die zu den Räumen des medizinischen Check-Ins führten.
Mouad probierte seinen Blick gleichzeitig in alle Richtungen zu lenken, was ihm aber auch nach mehreren Anläufen nicht gelang. Er war mit der Gesamtsituation vollkommen überfordert, nahm seine nächste Umgebung nicht einmal mehr wahr und stolperte. Knud fing ihn auf und zwang ihn sanft, nach vorn zu blicken.
Am Fuß der Treppe warteten eine Frau und ein dunkelhäutiger Mann - in dunkelblaue Militäruniformen gekleidet. Beide waren hochgewachsen und schlank. Sie hatte dunkelgrüne Augen, mit denen sie die Neuankömmlinge durchdringend musterte. Ihr Gesicht zeigte leicht asiatische Züge, hatte zudem eine gelbliche Hautfarbe. Ihre scharfgeschnittene Nase unterstrich ihren energischen, aber in keiner Weise bedrohlichen Eindruck.
„Willkommen - Sire. Wir sind froh, Euch wieder an Bord zu haben”, sprach sie in einem melodischen Singsang. Ihre Augen strahlten dabei.
Knud merkte sofort, dass sie sich sehr zusammennehmen musste, um nicht eine ironisch - spitze Bemerkung loszulassen. Knud war nämlich vor den beiden Offizieren in Unterwäsche erschienen - und Mouad steckte in der Uniform eines Kundschafters.
Die Frau sprach Mouad in französisch an, weil sie wusste, dass dies eine der Amtssprachen im Libanon ist. Aber man merkte deutlich, dass sie diese Kommunikationsform nicht besonders gut beherrschte.
„Auch an Sie Herr...?”
„Bribire, Mouad Bribire”, sprang Knud ihr bei.
„Auch an Sie ein herzliches Willkommen.”
Mouad blickte sie schweigend - sogar scheinbar emotionslos an.
Der Mann, ein älterer weißhaariger Herr mit stark afrikanischen Zügen, begrüßte die beiden freundlich, wenn auch das Französische noch schwerer verständlich war als das von Astrid.
Er hatte sehr dicke, wulstige Lippen und eine ziemlich breite Nase. Sein Gesicht war mit unzähligen Lachfältchen durchzogen. Die Haarbüschel, in typisch schwarzafrikanischer Kräusel- und Lockenform, wuchsen an vielen Stellen wirr in die Höhe. Wie ein zerstreuter Professor aus einem Schwarzweißfilm der neunzehnhundertzwanziger Jahre wirkte dieser Mann. Nur die Hautfarbe stimmte nicht.
„Das ist meine Schwester - Admiral Astrid Larssen, Kommandantin dieses Schiffes. Und dies hier ist Commander Youness Moluh, der erste Offizier,” stellte Knud Mouad die beiden vor.
Als Zeichen ihres Ranges trug Astrid auf der Schulter vier winzige Brillanten, der erste Offizier nur drei. Auf der Uniform war das Emblem mit den Magellanschen Wolken aufgestickt. Es war identisch mit dem Symbol, das Mouad bereits auf der Außenseite des Zyklopen identifiziert hatte.
Mouad zeigte jedoch noch immer keine Reaktion.
Auf seiner Stirn bildeten sich erneut Schweißperlen. Sein ganzer Körper rebellierte. Er versuchte vergeblich, seine Fassung zurückzuerlangen.
Astrid sprach Knud jetzt in UniKaL energisch an, der universellen Kommunikationsform in der Magellanschen Föderation.
„Führe Mouad so rasch wie möglich in dein Quartier. Lass ihn erstmal zur Ruhe kommen. Dein Freund ist noch jung - und diese Flut an neuen, ihn überwältigenden Eindrücken ist für ihn wie ein Schock - das ist nicht zu übersehen. Sollen wir Krwysnoggh, den Bordarzt informieren?”
Knud schüttelte den Kopf.
„Ich hoffe, dass er von selbst in der Lage ist, aus dieser geistigen Notsituation herauszufinden. Aber gegen eine medizinische Fernsupervision habe ich nichts einzuwenden.”
„Lass ihn auf keinen Fall für längere Zeit aus den Augen”, fügte Youness besorgt hinzu „dass er sich ja nichts antut.”
„Ich weiß”, entgegnete Knud. „Er hat seit mehreren Nächten auf seiner Flucht zu meiner Beiruter Wohnung und während unseres gemeinsamen, lebensgefährlichen Höllenritts aus dem libanesischen Hexenkessel nicht oder nur wenig geschlafen. Mouad hat apokalyptische Szenen miterleben müssen, die auch ich bis jetzt nur bruchstückhaft in Erfahrung bringen konnte. Schon bei dem ersten Teil seiner Flucht ist er lebensgefährlich verletzt worden. Nur der Zellaktivator, den ich ihm in meiner, bereits unter Beschuss stehenden Wohnung, injiziert hatte, rettete ihm das Leben. Und bei einem Unfall vor wenigen Stunden hat er viel Blut verloren.”
„Wenn du Hilfe brauchst, Knud, so zögere nicht, mich zu rufen. Im Moment hält sich nämlich mein Arbeitspensum in Grenzen. Ich komme in zwei Stunden noch einmal bei euch vorbei und werde nachsehen, ob es Mouad besser geht.”
„Vielen Dank, Astrid.” Die Erleichterung über ihr Entgegenkommen war Knud deutlich anzumerken. „Dieses fürsorgliche Angebot kann ich jetzt gut gebrauchen, denn auch ich bin inzwischen so ziemlich am Ende meiner Kräfte.”
„Und, denke daran,” fuhr Astrid mitfühlend fort, „wenn der Computer es gutheißt, sorge dafür, dass Mouad im Schlaf UniKaL lernt. So aufgeweckt und interessiert, wie er nach deinen Schilderungen seines Wesens zu sein scheint, dürfte es ihm nicht schwer fallen, rasch neue Kontakte zu Föderationisten aufzubauen. Ich bringe bei meinem Kurzbesuch auch noch einen Neuronenaktivator mit.”
„Gut”, meinte Knud, „auch wenn ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits zur Nachtruhe zurückgezogen haben sollte, zögere nicht, ihm den Aktivator aufzusetzen.”
Astrid nickte.
„Ich selbst werde auf Grund meiner Erschöpfung vermutlich erst in ungefähr 24 Stunden in der Lage sein, Sie beide über die sehr brenzlige politische Lage im Nahen Osten zu informieren. Einen Termin für ein Meeting der Führungsoffiziere gebe ich später bekannt”, erwiderte Knud auf die fragende non-verbale Kommunikation der beiden Offiziere.
Ein Schluchzen ertönte neben ihm. Mouad stöhnte und sank fast besinnungslos in sich zusammen. Die Trauer um den Verlust seiner Eltern, die seelische und körperliche Überanstrengung während seiner zweifachen Flucht, die Auswirkungen der erlebten Todesangst, der Kulturschock über die neue Zivilisation: All dies konnte er nicht mehr bewältigen.
Knud trug ihn mit raschen Schritten aus dem Hangar hinaus.
Astrid stutzte, überlegte einen kurzen Moment und holte Knud wenige Meter vor der Schleuse ein, die zum schiffsweiten Transportsystem führte. Sie holte tief Luft:
„Ich habe noch eine, hoffentlich diesmal für dich positive Nachricht. Mary hat auf deinen Wunsch hin, so berichtete sie mir vor geraumer Zeit, einen Professor Bribire, seine Frau Fatima und einen Jungen mit dem Namen Elias hierher gebracht. Der Professor ist sehr schwer verwundet. Er liegt in einem medizinischen Sarg, einem medizinischen Roboter. Der Mann hat ein Bein verloren und seine Lunge ist perforiert.”
Knud fiel ein Stein vom Herzen. Er wusste, dass sich sein Gesundheitszustand nach einer Behandlung mit dieser Apparatur erheblich verbessern würde. Vielleicht würde er sogar keinerlei Folgeschäden davontragen. Seine Augen strahlten.
„Das ist die beste Nachricht, die ich seit langem gehört habe.”
„Seine Angehörigen waren zu dem Zeitpunkt, als Mary sie auffand, nervlich völlig am Ende. Leider wird eine endgültige Diagnose, ob der Professor wieder vollständig genesen wird, erst in ungefähr acht oder neun Stunden vorliegen. Das jedenfalls teilte mir der Schiffsarzt vor wenigen Minuten mit. Eine Aussage über bleibende Schäden kann erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.”
„Danke, Schwester. Trotz der Einschränkungen über den Gesundheitszustand bin ich überaus glücklich, dies von dir zu hören!”
„Ich kann übrigens inzwischen ein wenig mehr nachvollziehen, warum du die Menschen gerettet hast. Moluh und Mary haben mir einiges von dem, was sich auf Terra in letzter Zeit zugetragen hat, berichtet.”
Knud wirkte etwas erleichtert.
„Danke, das beruhigt mich ein wenig. Aber was ist mit dem kleinen Mädchen?”
Astrid holte einen Kommunikator zum Vorschein und sprach leise hinein, während sie weiter voran hasteten. Astrid stellte dabei fest, wie ausgelaugt ihr Bruder war: Dunkle Ränder unter den Augen und eine gewisse Nervosität in seiner Stimme verrieten es. Knud versuchte zwar, sich unter Kontrolle zu halten, aber es gelang ihm dennoch nicht vollständig.
Astrid - nach einer Weile:
„Ihr Überleben steht auf Messers Schneide. Sie scheint wohl erhebliche innere Verletzungen davongetragen zu haben.”
Knud blieb abrupt stehen. Seine Augen schimmerten feucht.
„Ist es wirklich so schlimm?”, flüsterte er.
„Du magst die Kleine, nicht wahr?”
„Sie ist mir so ans Herz gewachsen, als wäre sie meine eigene Tochter.”
„Diese Reaktion ehrt dich. Du wärest bestimmt auch ein guter biologischer Vater geworden.”
„Ich habe ihr geschworen, dass ich mich wie die eigenen Eltern um sie kümmern werde.”
„Was ist mit ihnen?”
„Bitte frag nicht weiter. Sie haben beide ihren eigenen Körper als Schutzschild benutzt, damit sie überleben kann. Mouad hat dies sofort gesehen und dem Kind das Leben gerettet, nachdem wir sie unter den Leichnamen ihres Vaters und ihrer Mutter herausgezogen haben.”
„Das... das wusste ich nicht”, stammelte Astrid.
„Nicht, dass wir uns missverstehen: Ich werde dir niemals Vorwürfe machen dahingehend, dass du mich während der letzten Tage der Mission nochmals an die föderalen Grundprinzipien der Vorgehensweise von Beobachtern auf fremden Planeten erinnert hast. Aber du kannst dir sicher sein: Ich habe nicht irgendwen leichtherzig oder gar leichtfertig mitgenommen. All die Terraner, die ich an Bord des Schiffes geholt habe, sind mir ans Herz gewachsen, sind kostbar für mich. Denn sie sind eine Zierde ihrer Art.”
„Ich kann dir jedenfalls versichern, dass die Ärzte alles nur denkbar Mögliche tun werden, um Aishas und Wahids Leben zu retten.”
„Eine Frage muss ich dir aber noch unbedingt stellen. Warum genau hast du die Bribires eigentlich hierher gebracht?”
„Der Professor hat die Grundgleichungen des Coron-Antriebs entwickelt.”
Astrid schaute ihn entgeistert an, blieb abrupt stehen.
„Das... das ist ja unglaublich. Ein solches Wissen existiert auf Sol III?”, entfuhr es ihr.
Sie konnte es einfach nicht fassen.
Knud blickte sie aus schmalen Augen an:
,Astrid, ich weiß, was du denkst, auch wenn du nicht alles sagst.’
„Dies ist natürlich ein Grund, den ich absolut akzeptiere. Der Mann muss ja richtig gut sein.”
„Brillant, Schwester, wäre der bessere Ausdruck.”
Die Transportkabine stoppte. Sie betraten ein Gangsystem, in dem unzählige Menschen, Vertreter anderer Rassen sowie Roboter entlangliefen. Rechts und links vom Hauptgang zweigten Gänge zu den Labors der Astrophysiker ab. Zwischen den Türen befanden sich spektakuläre Aufnahmen von verschiedenen Welten der Föderation und setzten faszinierende optische Akzente auf die ansonsten eintönig metallisch schimmernden Wände, die ansonsten die Funktion eines riesigen Touchscreens hatten. Nur durch bloßes Berühren mit seiner Hand und der Eingabe eines bestimmten Passwords konnte jedermann, je nachdem, welche Nutzungsrechte ihm zugewiesen worden waren, Kommandos eingeben, Informationen abrufen oder Daten über das schiffsweite Kommunikationssystem versenden.
Das System war darüber hinaus in der Lage, fast jede denkbare multimediale Eigenschaft anzunehmen, so zum Beispiel die Funktion eines Eingabepanels an jedem beliebigen Ort des Schiffes, als Kunstobjekt, um Aufnahmen zu präsentieren, als Whiteboardersatz, um Formeln oder Berechnungen anzuschreiben oder auch um Filme zu präsentieren. Dazu musste lediglich über den Intercom der richtige Befehl mit dem passenden Password eingegeben werden, um die vollständigen Funktionen des Brückenzentralrechners an jeden beliebigen Ort zu verlegen.
Dies war ein Vorteil des Biometallpolymers, aus dem große Teile des Schiffs aufgebaut waren. Seine atomare Struktur war mit geeigneten Steuerungsbefehlen beliebig zu variieren. Dadurch waren auch seine physikalischen Eigenschaften veränderbar: Im Notfall konnten die Wände verschoben und in ihrem molekularen Aufbau dahingehend verändert werden, um bei Schäden an der Außenhülle gefährliche Strahlungen aus dem Kosmos zu absorbieren. Dadurch war man in der Lage, die Besatzung vor gesundheitlichen Risiken zu bewahren. Auch vor Geschossen aller Art, wie schnell fliegenden Meteoriten oder gar Asteroidenbruchstücken, bot das Material absoluten Schutz.
Mouad bekam von all dem jedoch nichts mehr mit.
Und Knud hatte keine Zeit, die phantastischen, fremdartigen Panoramen zu bewundern. Aber er kannte die Ansichten aus eigener Anschauung, da er viele dieser Welten schon früher bereist hatte. In exakt der Reihenfolge, wie sie ausgestellt waren, konnte ein Besucher die folgenden fesselnden Panoramen bewundern:
Einen titanischen Wasserfall, der in einen kilometertiefen Abgrund hinab donnerte und dabei vom Licht mehrerer Monde angestrahlt wurde. Dies war eine nur wenigen Besuchern bekannte, weit entfernte Welt mit dem Namen Asiwadran VIII. Sie besaß bei Wissenschaftlern für ihre geographisch-geologischen Extreme einen legendären Ruf. Die Gischt dieses Kataraktes wurde durch das verschiedenfarbige Licht der Monde sowie durch Gasscheiben, die diese Trabanten umgaben, in irisierende Haloerscheinungen verwandelt.
Einen Planeten, der von einem Ringsystem umgeben war und von dem man bereits aus der Umlaufbahn - aus mehreren 100 Kilometern Höhe - erkennen konnte, dass diese Welt eine einzige, planetenumspannende Riesenstadt bildete. Sogar ausgedehnte zyklische Stadtstrukturen, kolossale, viele Kilometer hohe Bauwerke, Brücken und Raumhäfen konnte man aus dieser Entfernung ausmachen. Besonders faszinierend war der Tag-Nacht-Übergang, der scheinbar auf das Raumschiff zuraste: Auf der Nachtseite erstrahlten die Bauten in künstlichem Licht. Von diesem grell erleuchteten Zentrum führten verschieden gefärbte Speichen von je über 1 000 Kilometern Länge, die Transportsysteme repräsentierten, radial nach außen. Sie endeten in einem gewaltigen Kreis aus Trabantenstädten. Ungeheure, ausgedehnte, schachbrettartig angeordnete Linienmuster der Luftschiffstraßen und geometrische, an Polygone erinnernde Strukturen der photovoltaischen Anlagen, die die Sonnenstrahlung zur Energieerzeugung nutzten, schufen überdies ein grandioses Feuerwerk in diesem planetenweiten, künstlichen Lichtermeer.
Rasiermesserscharfe, ockerfarbene Felsnadeln ragten aus einer Sandwüste heraus. Nur durch einen schmalen Streifen violetten Himmels von der Spitze einer besonders imposanten Erosionsskulptur getrennt, beherrschten zwei Sonnen - eine tiefrote und eine gelborange, die sehr dicht aneinander lagen - die Landschaft. Die Silhouetten der kilometerhohen, durch titanische Naturkräfte über Jahrmillionen entstandenen natürlichen Wolkenkratzer, erzeugten tiefschwarze Schatten im bräunlich-gelben Sandmeer.
Mouad jedoch lag regungslos in Knuds Armen.
Knud folgte der Flurlinie, wartete vor einer weiteren Lifttür und wurde freundlich von einigen der Vorbeieilenden begrüßt. Auf die fragenden Blicke der Freunde in Richtung Mouad und seine eigenartige Bekleidung antwortete er nur mit einem hektisch wirkenden:
„Später, später.”
Knud betrat eine weitere, hellerleuchtete Kabine, deren Wände mit ebenso phantastischen Aufnahmen planetenweiter Wasserwelten mit unglaublich hohen Wellengebirgen, die durch titanische Winde erzeugt wurden, geschmückt waren und die sich unmittelbar nach ihrem Eintreten sanft in Bewegung setzte.
Der Aufzug stoppte. Auf dessen Display erschien der Schriftzug ,Habitatbereich’.
Die Tür öffnete sich. Knud trat mit seinem Freund auf dem Arm hinaus. Nur noch wenige Schritte schräg zu einer Schleuse rechts vor ihm - und er gelangte zu seinem Quartier.
Seine Schwester blieb zurück und rief ihm nach, bevor sich die Lifttüren wieder schlossen:
„Gib mir bitte Bescheid, wenn du beziehungsweise ihr Hilfe benötigt. Ich komme dann sofort.”
„Das weiß ich doch”, entgegnete Knud. „Aber ich denke, Schlaf ist das Nötigste, was wir jetzt brauchen.”
Er sprach ein Codewort. Die Tür vor ihm öffnete sich. Er wandte sich an den Schiffscomputer: „Keine Beleuchtung, bitte”.
Sie betraten einen großen Raum, an dessen Ende durch die Quartierverglasung der Weltraum mit unzähligen Sternen zu sehen war. Knud befahl dem Bordcomputer, die Sicht nach außen zu deaktivieren. Rechts, neben der Badezimmertür, befand sich ein geräumiges und bequemes Bett, auf das Knud seinen zitternden und selbst im Traum noch nervös zuckenden Freund legte. Knud setzte sich neben ihn und streichelte ihm zärtlich über Gesicht und Haar.
Er bückte sich und legte Mouads Kopf in seinen Schoß.
„Schscht, es ist alles gut”, murmelte Knud. Mouad erlangte langsam das Bewusstsein wieder.
Leise begann er ein altes Kinderlied zu singen, womit Knud schon als kleiner Junge von seiner Mutter in das Reich der Träume gewiegt worden war. Allmählich schien sich Mouad zu beruhigen, bis ihn Erschöpfung erneut übermannte und er wieder in tiefen Schlaf abglitt.
,Bevor ich mich auch zur Nachtruhe begeben kann, muss ich mich mit meinem doch etwas stark duftenden Freund noch unter die Ultraschalldusche begeben’, dachte Knud. Er entkleidete sich und den leise schnarchenden Mouad vorsichtig, hob ihn abermals empor und verschwand mit ihm im Bad.
Als Astrid später das Zimmer betrat, fand sie die beiden schlafend, Arm in Arm aneinandergekuschelt. Beruhigt zog sie sich wieder zurück und ließ den UniKaL-Sprachprogrammierer zurück.