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Das Arboretum

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Der Intercom im Quartier des Professors summte leise.

Knud meldete sich: „Haben Sie Lust auf einen Rundgang durch dieses Schiff?”

„Knud, bist du es? Aber ich kann dich nirgends sehen.”

„Meine Stimme wird durch das schiffsweite Kommunikationssystem zu Ihnen übertragen. Ich stehe draußen vor der Tür, die zu Ihrem Quartier führt.”

„Ja doch, gerne. Ich kann nicht schlafen.”

„Ich weiß.”

Die Kabinentür öffnete sich. Ein nervös und unsicher wirkender Professor trat heraus.

„Ich denke, Wahid,” so begann Knud, „dass wir zwei uns ein bisschen die Füße vertreten und dabei unterhalten sollten. Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Wahid sage?”

„Es ist für mich schon etwas ungewöhnlich, dass ein so jung wirkender Mensch mir so etwas vorschlägt. Aber nun gut, lassen wir es bei Wahid und Knud.”

Sie bogen den Gang nach links ab und erreichten den Liftbereich. Die Türen öffneten sich. Wahid folgte zögernd.

„Computer: Arboretum”, kommandierte Knud.

Der Aufzug nahm Fahrt auf und der Professor merkte, dass die Beschleunigungskraft, die zunächst senkrecht nach unten auf ihn wirkte, plötzlich in einem Winkel von 45 Grad auftrat.

„Das ist ungewöhnlich. Ich verstehe nicht, dass in einem Fahrstuhl Kräfte aus einer solch merkwürdigen Richtung einwirken. Es sei denn, wir beschreiben Kurven. Außerdem: Was bedeutet hier Arboretum und warum wirkt hier ununterbrochen die Schwerkraft? Bei den irdischen Raumschiffen erfahren die Astronauten doch die ganze Zeit Schwerelosigkeit.”

„Du beobachtest deine Umgebung schon ziemlich genau. Wir fahren ins Zentrum des Schiffes, über Vakuumröhren, in denen die Fahrkabinen fast reibungsfrei auf Magnetfeldern gleiten. Dabei müssen sie einen Winkel von 90 Grad beschreiben, um von dem äußeren Habitatbereich in das Innere der Intrepid zu gelangen. An unzähligen Stellen im Schiff befinden sich so genannte Gravitonenemitter und -absorber, die künstliche Schwerkraft erzeugen, da es für die menschliche Physiologie sehr schädlich ist, über längere Zeit der Schwerelosigkeit ausgesetzt zu sein. Den damit verbundenen Knochen- und Muskelabbau, der schon bei bemannten Missionen auf der Erde als Hauptproblem ausgemacht wurde, können auch wir nicht verhindern. So musste eine technische Lösung gefunden werden, die auch das Reisen über große Distanzen ermöglicht, die viel Zeit kosten.

Und was das Arboretum betrifft, um auf deine andere Frage zurückzukommen: Fast alle Lebewesen produzieren Kohlendioxyd und Exkremente, die entsorgt, ja besser noch, zu recyceln sind. Diese Stoffe sollten dann wieder zur Nahrungsmittelproduktion eingesetzt werden, denn Lebensmittel müssen frisch sein. Obwohl wir solch einen gewaltigen technischen Vorsprung gegenüber der irdischen Zivilisation haben, können wir die Physiologie der Schiffscrew, was ihr Geschmacksempfinden angeht, auf Dauer nicht an der Nase herumführen. Untersuchungen zeigten, dass die Besatzungsmitglieder am liebsten ihre gewohnten Nahrungsmittel genießen, die sie von ihren Heimatwelten her kennen.

Viele Jahre haben wir es zu Beginn der interstellaren Raumreisen mit Konzentraten, getrockneten Zutaten und Ähnlichem probiert: Die Leistungsfähigkeit der Crew konnte so auf Dauer nicht gewährleistet werden. Daher führt inzwischen jedes Raumschiff, das Monate oder gar Jahre im Einsatz ist, eine Art riesiges Gewächshaus mit sich. Es dient daher vor allem zur Sauerstoffproduktion, zur kontinuierlichen Versorgung der Mannschaft mit frischen Nahrungsmitteln sowie der Erholung, aber auch, um Abstand von der ganzen Technik zu gewinnen und ein gewisses Naturerlebnis zu simulieren. Natürlich kann dies eine echte Ökosphäre eines Planeten nicht ersetzen, aber es erfüllt seinen vorgesehenen Zweck.”

Die Kabine verringerte ihre Geschwindigkeit. Sanft wurden sie gegen die Fahrtrichtung abgebremst.

„Arboretum - Bestimmungsort erreicht”, meldete sich die weiche Computerstimme.

Die Kabinentür öffnete sich. Sie traten durch sie hindurch und standen mitten in einem dichten, feuchtwarmen Urwald aus Palmen, Schlingpflanzen, Farnen und allerlei anderen Baum- und Pflanzenarten, die der Professor noch nie gesehen hatte. Auch Tiergeräusche waren zu hören - weit, weit weg - sowie das Tröpfeln von Wasser. Sie sahen nach oben und stellten fest, dass sie sich an der Außenwand eines gewaltigen, kugelförmigen Raumes befanden. Über ihnen, im Abstand von vielleicht fünf Kilometern, konnten sie den Wald über sich hängen sehen. Jedoch verdeckte ein gewaltiges, rundes Objekt, das sich exakt in der Mitte der Kugelschale befand, den direkten Blick auf die andere Seite.

„Was ist denn das?”, fragte der Professor erstaunt.

„Ich hatte dir doch von der künstlichen Schwerkraft erzählt. Nun, um diesen Innenraum optimal auszunutzen, befinden sich ringsherum unter dem Pflanzenbewuchs die Generatoren, die die Gravitonen aussenden. Die Kugel da oben ist der so genannte Gravitonenabsorber, denn sonst würden sich die Schwerefelder gegenseitig überlagern und sich in ihren Wirkungen auf unsinnige Weise verstärken. Ferner dient sie gleichzeitig, wie man sieht, als Beleuchtungsquelle, damit überhaupt Photosynthese und verwandte biochemische Prozesse stattfinden können. Drittens besitzt sie Sprühdüsen, damit die Pflanzen auch hinreichend bewässert werden. Der Fuß dieses Apparats steht konstruktionstechnisch am ,tiefsten’ Punkt des ganzen Raumes. Alle Bäche und strömenden Gewässer fließen in Richtung des Fußes dieser Kugel, der sich in der Mitte des einzigen größeren Sees befindet. Das Wasser wird darin nach ,oben’ befördert und wiederum im Raum gleichmäßig als Regen versprüht. Ein anderer Teil des Wasser wird im Wasserversorgungssystem des Schiffes verteilt und dient als Trinkwasser.”

„Und was ist mit den Exkrementen und den anderen Stoffwechselprodukten?”, fragte Wahid.

„Auch gerade jetzt, wo wir im Arboretum stehen, wird dieses Problem von der Lebensgemeinschaft dieses Ökosystems nahezu perfekt bewältigt.”

Der Professor sah ihn entsetzt an und wollte schon zum Aufzug zurück hasten, aber Knud beruhigte ihn.

„Keine Sorge, die Schmutzwässer, oder wie es auf der Erde heißt - die Fäkalien - regnen nicht auf uns herab. Diese Stoffe werden durch ein weiteres Transportsystem direkt zu den Wurzeln der Pflanzen oder durch Düsen und kleine Austrittsöffnungen auf den Boden geleitet, wo Mikroorganismen mit ihrer Arbeit beginnen. Ein Teil der Ausscheidungen wird auch noch biochemisch vorbehandelt, um Methan und langkettige Kohlenwasserstoffe zu gewinnen. Daraus können dann beispielsweise auf bioenzymatischem Wege Medikamente, Farben oder bestimmte Kunststoffe gewonnen werden, die dann aber auch wieder biologisch abbaubar sein müssen.

Denn diese interdisziplinäre Herangehensweise ist überdies ein sehr interessantes wissenschaftliches Forschungsgebiet: Alle Produkte, die es in unserer Wirtschaft gibt, müssen sich vollständig wiederverwerten lassen. Es ist strengstens verboten, Planeten als Müllhalden zu missbrauchen, die Natur zu schädigen oder gar Ökosysteme zu vernichten.

Insgesamt wird somit auch der Innenraum an Bord dieses Schiffes optimal ausgenutzt.”

Sie gingen weiter. Wahid schaute fasziniert auf die unzähligen, fremdartigen Lebensformen, die er zu sehen bekam. Immer wieder blieb er neugierig stehen, während Knud ihm die unterschiedlichen Spezies erklärte.

Das Gelände stieg an. In der Ferne war leises Rauschen fließenden Wassers zu vernehmen, das allmählich, je weiter sie unter dem dichten Bewuchs entlang schlenderten, lauter wurde.

Knud erläuterte:

„Es sind, nebenbei bemerkt, nicht alles irdische Pflanzen. Sie stellen sogar nur eine Minderheit aller Arten in diesem Raum dar. Was du hier siehst, ist eine perfekt angepasste Kultur aus allen möglichen Organismen verschiedener Planeten, um einen optimalen Ertrag an Nährstoffen und atmosphärischen Gasen für die Besatzung zu erhalten.

Die Lösung für das Problem geschlossener Stoffkreisläufe ist übrigens eine der kompliziertesten technologischen Herausforderungen gewesen, die jemals von der Föderalen Akademie der Wissenschaften zu bearbeiten war: Auf solch kleinem Raum ein perfektes autonomes biochemisches Regelsystem zu etablieren, das überdies noch gegenüber äußeren Störungen stabil ist. Fast alle Rassen haben nämlich eine andere Physiologie und produzieren dann natürlich auch Exkremente oder sonstige Ausscheidungsprodukte unterschiedlichster chemischer Zusammensetzung.

Wenn man nun beispielsweise mehr Menschen an Bord der Intrepid arbeiten ließe, muss dieses biologische System in der Lage sein, mit einer größeren Menge menschlicher Fäkalien fertig zu werden. Die gleiche Herausforderung stellt sich natürlich auch im Hinblick auf andere Spezies. Erst vor etwas über 10 000 Jahren nach der Staatsgründung wurde das Problem endgültig gelöst. Somit stecken einige tausend Jahre Forschung in diesem autarken Recyclingsystem, damit es störungsfrei und selbsterhaltend funktioniert. Aber auch heutzutage kommt es immer noch zu Weiterentwicklungen - je nachdem, aus welchen Rassen die Besatzung zusammengesetzt ist. Dieses Regelsystem umfasst einfach unzählige Variablen, die voneinander abhängig sind.”

Wahid blickte fasziniert um sich herum.

„Das ist dermaßen kompliziert? Dann ist es also doch wahr, dass hierbei, mathematisch betrachtet, eine Unmenge an Parametern und Stoffwechselzyklen zu beachten ist, die sich gegenseitig beeinflussen und voneinander abhängig sind. Ich habe in einem Artikel in der Zeitschrift ,Nature’ darüber gelesen.”

„Dann dürftest du vielleicht auch schon mal von einem Projekt mit dem Namen ,Biosphäre II’ auf deinem Planeten gehört haben. Vor mehr als 60 Jahren wurden in den USA einige große Kunststoffhalbkugeln in der Wüste von Arizona errichtet und mit diversen Pflanzen bestückt, um ein von der Umgebung unabhängiges, selbsttragendes Ökosystem zu etablieren. Einige Menschen, die darin isoliert wurden, bekamen jedoch bald erhebliche Schwierigkeiten, weil nach kurzer Zeit die Zusammensetzung der Luft nicht stimmte, Pflanzen eingingen oder von anderen überwuchert wurden und damit der gesamte Stoffkreislauf durcheinandergeriet. Das Projekt endete schließlich in einem Fiasko, das viel Geld verschlungen hatte. Man hat das Projekt nach etwa zwei Jahren eingestellt, da man auf der Erde nicht gewohnt ist, in Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden zu denken.”

Sie schlenderten weiter auf verschlungenen Wegen unter riesenhaften baumähnlichen Gewächsen umher. Wahid beobachtete gebannt bunte Schmetterlinge, Insekten aller Art, aber auch ungezählte Lebensformen, die er noch nie auf Abbildungen gesehen hatte. Seine Neugierde war offenbar grenzenlos, denn er bestürmte Knud fortwährend mit botanischen und zoologischen Fragen. Plötzlich zeigte er erstaunt auf einige, vier Meter im Durchschnitt messende, aus der Ferne an Quallen erinnernde, fliegende Objekte.

Knuds Blick folgte dem ausgestreckten Arm.

„Das sind so genannte Kwarrtrg vom Planeten Manarroh V. Sie dienen dazu, Faulgase, den Geruch von niedrigkettigen Carbonsäuren - Butter- und Valeriansäure sind dir vielleicht in diesem Zusammenhang geläufig - und andere unappetitliche Ausdünstungen verschiedener Besatzungsmitglieder in ungiftige und natürlich auch geruchlose Verbindungen zu überführen. Zu viele dieser Wesen darf es in diesem künstlichen Biotop jedoch nicht geben, da sie sonst verhungern würden. Sie bauen beispielsweise auch Mercaptane und Schwefelwasserstoff ab, die am Ende der Fleischverdauung entstehen.”

Vereinzelt begegneten sie einigen humanoiden Besatzungsmitgliedern, die auch ihre Freizeit in dieser künstlich geschaffenen Anlage genossen.

Der Weg führte um einen künstlichen Felsen herum. Wahid erinnerte die Landschaft an eine Miniaturausgabe der Appalachen im Osten der USA. Plötzlich standen sie gegenüber einem etwa 50 Meter hohen und 2 Meter breiten, schäumenden Wasserfall, der mit lautem Rauschen in drei Stufen von einer künstlichen Hochebene hinabstürzte. Das Plateau, auf dem sich der Quellbereich des Gewässers irgendwo befinden musste war, soweit man das von hier unten erkennen konnte, ebenfalls dicht bewachsen.

Das Wasser donnerte in einen schätzungsweise 75 Meter langen und 20 Meter breiten Teich. Dessen unregelmäßig geformter Uferbereich war mit allerlei Grünpflanzen, wasserliebendem Schilf und seltsamen knubbeligen Gebilden, aus denen in rhythmischen Abständen ein Schwapp Wassers pulsierend herausschoss, und die an Unterwasserschwämme in irdischen Ozeanen erinnerten, bewachsen.

„Dort liegt die ,höchste’ Stelle in diesem Refugium. Auf der ,Hochebene’, wo diese Kaskade entspringt, befinden sich ausgedehnte Sumpfflächen, die dicht mit Feuchtigkeit liebenden Pflanzen, die zudem eine hohe Reinigungswirkung im Wasser entfalten, bewachsen sind. Auf der Erde wären dies zum Beispiel Schilf und Rohrkolben. Sie sind sehr wichtig für die Selbstreinigung des künstlichen Flusses. Auch einige Moorgebiete gibt es dort. Deren Pflanzengesellschaften müssen aber sorgfältig vor übermäßiger Düngung und der damit verbundenen Eutrophierung bewahrt werden. Das Wasser, das von dort oben herabstürzt, hat eine ausgezeichnete Qualität und schmeckt herrlich erfrischend. Du kannst es gleich dort unten kosten.”

„Und was stellen diese eigenartigen Lebensformen dar, die das Wasser regelmäßig hinaus pressen? Erfüllen sie vielleicht ebenfalls irgendeine Reinigungsfunktion?”

„Sie heißen Srotok und stammen von Gambilon III, der Heimatwelt einer Rasse, die sich Sradogoner nennen. Diese merkwürdigen Lebensformen entfernen bestimmte, für Humanoide giftige Stoffwechselprodukte aus dem Wasser. Aber die da unten müssen mit den letzten, spärlichen Resten dieser Stoffe auskommen, die die Srotokkolonien oben auf der Hochebene ihnen noch zum Verwerten übriggelassen haben. Daher ist das kühle Nass völlig frei von Schadstoffen und kann unbesorgt genossen werden.”

Von dem leicht erhöht gelegenen Ort, an dem sie standen, sah Wahid, dass dieser Garten bis ins Detail geplant war. Er bewunderte den langgezogenen, halbrunden Teich, in dem das Wasser aufschäumte und dabei Gischtwolken erzeugte, deren Tröpfchen sich in den Haaren der Besucher verfingen, und so vergängliche Diademe aus funkelnden Juwelen erzeugten.

Am Ufer standen mehrere Dutzend Sitzbänke, aufsteigend angeordnet wie in einem antiken, irdischen Amphitheater. Künstliche Gestelle, halbbogenförmig über die Ruhegelegenheiten gebaut, und durch wuchernde Rankpflanzen beinahe erdrückt, vermittelten so den Erholung suchenden Crewmitgliedern das Gefühl von Geborgenheit. Viele Gäste waren im Moment nicht zu sehen, es herrschte nämlich gerade der Wechsel zur nächsten Zehnstundenschicht.

„Erst nachdem die Besatzungsmitglieder, die gerade Dienst hatten, mit dem Essen fertig sind, kommen hier wieder mehr Besucher her. Sollten wir uns nicht mal ein wenig setzen?”, meinte Knud zu Wahid, nachdem er diesem die Gelegenheit gegeben hatte, eine Viertelstunde lang das fremdartige Panorama in sich aufzunehmen.

Der Professor nickte zustimmend. Er verspürte Durst. Als sie sich dem Teich näherten, bückte sich der Professor, schöpfte mit einer Hand etwas Wasser, führte die aus seinen Fingern geformte lebende Schale an seinen Mund und trank es.

„Hmmmhh, unglaublich belebend und köstlich”, stellte er fest.

Nachdem sein Durst gestillt war, liefen sie um den Rand der Wasserfläche herum.

Wahid bemerkte zu beiden Seiten des Teichs Eingänge in der künstlichen Steilwand. Vermutlich waren es weitere Zugänge zum Lift- und Transportsystem des Schiffes.

Knud deutete auf eine mit dichten, verschlungenen, grünrot gebänderten Ranken bewachsene Laube, deren Bewuchs fast 30 Zentimeter große, tiefrote Blüten gebildet hatte. Diese verströmten dabei einen fruchtigen, aromatischen und gleichzeitig betörenden Duft. Sie setzten sich auf eine überaus bequeme Suspensorenbank, die so breit war, dass auch mehrere Personen oder auch besonders große Lebewesen Platz fanden. Nur ein schmaler Ausschnitt des herabdonnernden Wassers und des Teiches war zu sehen. Das dichte Pflanzengewand verhinderte, dass man neugierigen Blicken ausgesetzt war.

Minutenlang schwiegen sie. Sie genossen das gleichmäßige, tiefe Vibrieren der hinabstürzenden Wassermassen, dessen Infraschallanteil selbst das Zwerchfell in Schwingungen versetzte und die kühle, erfrischende Würze der Luft, durchsetzt mit fremdartigen Aromen unbekannter Lebensformen. Schließlich stellte Wahid die Frage, die ihn schon seit geraumer Zeit, besonders nach dem Bericht über das geheime Forschungsprojekt in Schweden, quälte, da es ihm einfach als zu phantastisch erschien:

„Knud, wie alt bist du eigentlich wirklich? Bei deinem Bericht sind dir möglicherweise Rechenfehler unterlaufen.”

Knud sah ihn mit seinen dunklen Augen unbewegt und durchdringend an, so dass für den Professor an seiner nachfolgenden Feststellung nicht der geringste Zweifel bestehen konnte:

„In irdischen Jahren gemessen: 153 Jahre.”

„Wie bitte? - Aber... aber du siehst aus wie ein Zwanzigjähriger”, entgegnete Wahid vollkommen schockiert.

„Nun, auch unsere Medizin hat gewaltige Fortschritte gemacht. Der Prozess der Zellalterung konnte gestoppt werden. Ich kann, wenn mir kein Unglück widerfährt, beliebig lange leben. So etwas nannte man auf der Erde den Wunsch nach Unsterblichkeit. Hier ist dies Realität geworden.”

Der Professor schnappte hörbar nach Luft. Er sagte einige Minuten gar nichts mehr.

Zögernd begann er schließlich:

„Jetzt wird mir auch endlich so langsam einiges klar. Du hast nicht nur eine ganze Zeit auf der Erde gelebt und kannst dich in die dortigen Probleme hineindenken, sondern du hast Jahrzehnte zur Verfügung gehabt, dich an diese neue Welt zu gewöhnen. - Und jetzt begreife ich auch erst, warum du mich duzen wolltest: Denn in deinen Augen bin ich ja bei diesem enormen Altersunterschied noch ein junger Mann. Und der Ältere bietet dem Jüngeren schließlich das ,Du’ in vielen irdischen Kulturen zuerst an.”

Knud schmunzelte und schwieg.

Nach einer weiteren Viertelstunde ergriff Knud erneut das Wort.

„Ich kann mich sehr gut in deine Lage hineinversetzen. Du bist hin und her gerissen zwischen dem, was du nun fast 60 Jahre auf Terra erfahren und erlebt hast. Und bist, so denke ich, im Moment innerlich völlig aufgewühlt, was beispielsweise die Zukunft bringt, wie du mit deiner Familie umgehen sollst und welche Perspektiven du, Fatima, Elias und Mouad haben.”

Der Professor wurde sichtlich nervös. Knud begann offensichtlich zum Kern des Problems vorzustoßen.

„Ich habe Angst”, stieß Wahid unsicher hervor, seine Stimme begann zu flattern.

-

„Und ich weiß bislang nicht, wie es mit meiner Familie weitergehen soll. Schön, das alles hier ist faszinierend und eröffnet mit Sicherheit ungeahnte neue Perspektiven. Ich fühle mich aber trotzdem ausgebrannt, bedeutungslos und unwichtig. Was soll aus meinem Leben werden? All das, was ich gelernt habe, ist doch hier nutzlos, unwichtig, oder überholt. Auch weiß ich nicht, ob ich nochmals die Kraft habe, mich auf diese völlig neue Situation einzustellen.”

„Ich kann mir vorstellen, was dir durch den Kopf geht: Du steckst in der Phase der Verzweiflung und spielst mit dem Gedanken, deinem Leben ein Ende zu setzen.”

„Bitte gib mir einige Minuten Zeit, meine Fassung zurückzugewinnen”, meinte der Professor fast unhörbar. Er musste immer wieder schlucken und biss die Zähne auf seine Unterlippe. Er hoffte, durch den Schmerz seine Emotionen unterdrücken zu können. Es gelang ihm nicht. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Knud nahm ihn in den Arm und drückte den Riesen an sich, wobei er kaum die andere Seite seines Körpers erreichte.

„Es fängt doch schon mit dem Geld an”, schluchzte Wahid. „Wie soll ich mich finanzieren und was soll ich jetzt hier mit meinem Leben anfangen?”

„Meinst du etwa, ich habe nicht vor ähnlichen Problemen gestanden wie du jetzt? Ich war da schließlich auch schon weit über 50 Jahre alt.”

Ein überraschter und erstaunter Ausdruck erschien auf Wahids Gesicht.

„Ich habe ähnliche Krisen mitgemacht wie du und zudem schreckliche Kriege in den Tiefen des Raums zwischen fremden Rassen gesehen”, meinte Knud, wobei das Entsetzen der zurückliegenden Ereignisse noch in seiner Stimme mitschwang. „Unglaubliche Katastrophen in dieser Milchstraße, die mich fast zerbrechen ließen. Und ich besaß keine Familie, mit der man sich austauschen konnte. Gut, ich hatte viele Freunde aus der Zeit, als wir das Raumschiff entwarfen, um die Erde verlassen zu können. Meine Schwester, die auch auf diesem Schiff arbeitet, kam jedoch erst viel später dazu - das erzähle ich ein andermal.

Wahid - das Wichtigste ist doch: Deine Familie braucht dich jetzt, mehr als jemals zuvor. Daher kannst du dich schon aus diesem Grunde nicht aufgeben.

Und was Geld, deine beziehungsweise eure Zukunft und Ausbildung betrifft: Da macht euch mal keine Sorgen.

Erstens werdet ihr nämlich in den nächsten Wochen und Monaten von mir allmählich in die Kultur der Magellanschen Föderation eingearbeitet und dabei unterwiesen, wie ihr euch Informationen und Wissen beschaffen könnt. Ich, meine Schwester Astrid und auch Mary haben inzwischen viel Lehrerfahrung mit Neuankömmlingen in den letzten Jahrzehnten gesammelt. Außerdem bringt ihr alle Intelligenz und auch Grundwissen mit, was auf jeden Fall ausreicht, um den Anschluss an diese Gesellschaft zu schaffen.

Um nochmals auf das leidige Thema Geld zurückzukommen: Dieser Staat betrachtet Ausbildung und Forschung als das Wichtigste, was man Neubürgern vermitteln muss. Das ganze Leben hindurch und besonders dann, wenn man so alt wird wie die Bewohner der Magellanschen Föderation, muss gelernt werden, sonst wird die eigene Existenz irgendwann langweilig und öde. Daher habt ihr einen gesetzlichen Anspruch auf ein Stipendium, das sehr großzügig bemessen ist. Auch mit der Eingewöhnungsphase dürftet ihr keine Probleme haben. Zehn Jahre lang habt ihr nämlich zunächst einmal Zeit, zu lernen und euch an alles anzupassen. Und wenn es doch irgendwelche finanziellen Schwierigkeiten geben sollte: Ich bin schließlich auch noch da und habe genug Geld, ohne dass ihr euch in irgendeiner Weise genötigt fühlen müsst, mir das zurückzuzahlen oder mein Engagement auf irgendeine Art und Weise wieder gut zu machen.”

Der Professor fiel ihm um den Hals und drückte ihn, dass ihm fast die Luft wegblieb.

„Danke”, sagte dieser leise, „das habe ich gebraucht.”

Wahid seufzte und dachte eine Weile nach.

„Nach deinen Informationen bin ich mir jetzt ganz sicher, dass ich die Herausforderung annehmen kann.”

Sie blickten auf das gleichmäßig herab wirbelnde Wasser des Katarakts. In allen Farben des Regenbogens schimmernde, wie Diamanten funkelnde Wassertropfen hingen an den Zweigen des Blätterdachs, das sich über ihren Köpfen wölbte. Schwaden zerstobenen Wassers trieben in ihre Richtung und verbreiteten eine etwas unangenehme Kühle, denn gerade waren die riesigen Windgeneratoren, die sich auch am Gravitonenabsorber befanden, angeworfen worden, um die Luft im Innern des Schiffes umzuwälzen und zu reinigen.

„Zeig mir mal bitte das Geld, das hier als Zahlungsmittel eingesetzt wird.”

Knud kramte in der aufgesetzten Tasche seiner Uniformhose und zog verschiedenfarbige, metallisch-glänzende Münzen hervor.

Er hielt eine silbergraue, etwa 10 Gramm schwere Münze hoch. Auf der Vorderseite zeigte sie wieder das Symbol der Föderation: Die Magellanschen Wolken. In der umlaufenden Schrift stand in UniKaL zu lesen: „Frieden, Einigkeit, Gerechtigkeit, Wissen”, die vier Universalprinzipien der Allgemeinen Charta.

„Dies ist ein Stella, die größte Rechnungseinheit. Ein Stella wird in 1000 Sol, ein Sol in 1000 Luna unterteilt. Diese Münze besteht aus einer Platin-Iridium Legierung und ist extrem kostbar, da diese beiden Metalle im Universum so selten sind.”

Die nächste Münze war von viel schwererem Kaliber: Ein 100 Gramm schweres, massiges Goldstück mit der Aufschrift 100 Sol.

Dann zeigte er noch einige kleinere und größere Silbermünzen, 10, 200, 500 Luna. Auch diese Münzen zeigten das Wappen der Föderation. Auf den Rückseiten konnte man Gebäude erkennen, deren Bedeutung der Professor nicht begriff.

„Und welchen Wert haben diese Münzen?” begehrte Wahid zu wissen.

„Ein Luna, die kleinste monetäre Grundeinheit, entspricht in etwa einem Euro. Sie enthält auch nur 0,1 g Silber, das in Glasuton, einem extrem widerstandsfähigen, künstlichen Glas, eingebettet ist. Den Rest kann man dann ja ausrechnen, auch die 0,1 und 0,01 Untereinheiten des Luna, die man auch hier für Kleinstkäufe benötigt. Der Sol entspricht somit 1000 Euro, damit ist der Stella eine äußerst wertvolle Münze. Er entspricht einer Million Euro.”

Der Professor sah ihn mit offenem Munde an.

„Du läufst mit einem solchen ungeheuren Vermögen hier einfach so herum?”

„Es ist noch nicht die wertvollste Münze. Für große Beträge gibt es noch 1000 Stella Münzen, die damit einer Milliarde Euro entsprechen.”

„Aber es kann doch nicht sein, dass dir so ein Haufen Geld gehört. Das wirst du dir vielleicht bei der schiffseigenen Bank ausgeliehen haben, um mir das zu zeigen.”

Knud sah ihn ruhig und gelassen an. Wahid begann zu schlucken, da sein Gegenüber keinen Hinweis zur Beantwortung dieser Frage lieferte.

Wahid versuchte es mit einer anderen Strategie, Licht in diese rätselhaften finanziellen Angelegenheiten zu bringen.

„In meinen Augen ist es - bei eurer Technologie - doch ziemlich primitiv, mit solchen Nominalen herumzulaufen.”

„Ja, das mag schon sein, wenn wir allein die menschliche Sichtweise berücksichtigen. Aber viele Rassen wollen etwas in der Hand haben, wenn Geschäfte gemacht werden. Edelmetalle sind eine Währung, die überall in der Föderation akzeptiert wird, da sie so selten sind. Aber es gibt natürlich auch Geldtransfers, Überweisungen und Ähnliches.”

Der Professor drehte nachdenklich die Münzen in seiner Hand.

„Du hast uns doch damals die Münzen gegeben, um uns etwas auf der Flucht zu essen kaufen zu können. Was ist daraus eigentlich geworden?”

„Mary hat sie euch wieder abgenommen, da es hier natürlich keine Krügerrand gibt. 10 Gramm Gold entsprechen hier einem Sol. Wenig später habe ich veranlasst, dass jedem von euch 150 Sol gutgeschrieben werden, die immerhin 150.000 Euro entsprechen.”

„Aber du kannst uns doch nicht solche Summen einfach schenken.”

„Ich hatte bereits erwähnt, dass ich genug Geld habe und ich mir daher keine großen Gedanken um mein finanzielles Wohlergehen machen muss.”

„Das kann einfach nicht sein. Wir kennen uns erst seit wenigen Wochen und du kannst nicht jedem von uns Geld im Gegenwert von einem relativ luxuriös eingerichteten Haus im Libanon schenken.”

Knud schmunzelte lediglich auf diese Feststellung und gab keine Antwort.

„Aber wie viel hast du denn, wenn ich fragen darf?”, bohrte Wahid weiter, der nun endgültig wissen wollte, welche finanzielle Partie sein Schwiegersohn für Mouad abgeben würde. Seine levantinische Neugierde ließ sich nicht mehr im Zaume halten. Ganz arm schien Knud zumindest nicht zu sein.

Aber Knud lachte nur. Es war ein klares, helles, befreites Lachen, ohne eine Spur Bösartigkeit oder Beleidigtseins.

„Ich weiß, Wahid, dass in der Weltregion, aus der du stammst, eine solche Information bei einer Heirat von überragender Bedeutung ist. Aber in dieser Gesellschaft ist mein Vermögen kein großes Geheimnis, da materieller Besitz hier nicht so wichtig ist. Armut ist an diesem Ort kein Thema. Zudem wird Geld hier ganz anders, vor allem nachhaltiger und sozialverträglicher eingesetzt. Dazu später mehr. Jetzt reicht es erst einmal zu wissen, dass ich ein Vermögen von ungefähr einer Billion Stella verwalte.”

„Wie bitte?” fragte Wahid entgeistert.

-

„Damit kannst du ja ganze Planeten aufkaufen.”

Knud lachte erneut.

„Nun ja, dafür reicht es vielleicht nicht ganz. Aber nun mal ernsthaft: Diese enormen Summen werden zur Vorfinanzierung neuer planetarischer Großprojekte benötigt. Daher gehört mir das Geld auch nicht in dem Sinne, wie dies bei steinreichen Humanoiden auf Terra der Fall ist. Der Großteil davon wird von mir treuhänderisch verwaltet und ist für nachhaltige Projekte einzusetzen. Aber nicht, dass du jetzt falsche Schlussfolgerungen daraus ziehst - denn wie ich schon sagte: Wegen des schnöden Mammons verbringe ich keine schlaflosen Nächte.”

Der Professor musste auch dies erst einmal verarbeiten.

„Du musst aber jetzt nicht jedem davon erzählen.”

Wahid nickte.

„Mir wird kalt, können wir nicht weitergehen?”

„Wo möchtest du denn hin, ins Quartier zurück um zu schlafen? Oder vielleicht etwas essen gehen? Die Brücke des Schiffes kann ich dir auch noch anbieten.

Aber wenn wir zu den beiden zuletzt erwähnten Orten gelangen, wirst du unweigerlich auf andere Rassen treffen. Menschen sind hier an Bord nur eine Minderheit; und ich möchte nicht ständig alle anderen nichtmenschlichen Besatzungsmitglieder bitten, einen Bogen um uns herum zu machen. Denn das habe ich bis jetzt veranlasst, damit du nicht unter der Last zu vieler Eindrücke zusammenbrichst.

Doch wenn du noch unsicher bist und meinst, diese neue Herausforderung noch nicht zu schaffen, dann kann ich dich auch gerne wieder zurück zu deiner Familie begleiten, die übrigens bis jetzt wie ein Murmeltier schläft und meiner Einschätzung nach froh ist, dem Chaos des Libanon entronnen zu sein. Um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen.”

Der Professor überlegte und schien sich zu sammeln.

„Du weißt, dass ich immer offen für alle neuen Eindrücke war. Ich hatte schon im Libanon dahingehend Überlegungen angestellt, dass es doch eigentlich andere Rassen im Universum geben müsste.”

Er machte wieder eine Pause und fuhr dann, für Knud doch ziemlich überraschend, fort:

„Dann lass uns was essen gehen. Könntest du mir dabei nicht den einen oder anderen deiner außerirdischen Freunde vorstellen?

Obwohl...”

Der Kurator, Band 2

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