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Zweites kapitel

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Leopold Lesser zieht Bilanz

Während Emilie mit ihrer Tochter das Wochenprogramm entwarf, sass Leopold, ihr Gatte, mit seinem Freunde Adolf Jacoby in seinem Arbeitszimmer und zog Bilanz.

„So’n dicken Kopf haben wir in Neutomischel nie gehabt,“ sagte Leopold zu Iacoby.

„Andere Welt!“ erwiderte er.

„Sag’ lieber: andere Menschen!“

„Das mein’ ich natürlich; und das ist schliesslich dasselbe. Es passt sich eben jeder dem Milieu und den Verhältnissen an.“

„Ne!“ widersprach Lesser. „Wer sozusagen was Persönliches hat – er braucht darum nicht gleich ’en Genie zu sein –, der bleibt derselbe, – gleichgültig wo er ist. Denk’ nur einmal an meinen Schwiegervater – na, das ist doch gewiss kein bedeutender Mensch. Aber meinst du, der wär’ auch nur um soviel anders geworden – oder hätt’ auch nur eine seiner Gewohnheiten abgelegt, wenn er nach Berlin übergesiedelt wäre?“

„Ich bitt dich! in dem Alter!“ erwiderte Jacoby.

„Das kommt nicht auf die Jahre an! wenigstens nicht ausschliesslich. Das liegt tiefer – liegt im Blut! – oder sonstwo! Jedenfalls: meine Frau und ich sind anders!“

„Leider!“ stöhnte Jacoby.

„Wenn’s sich nicht in tausend anderen Dingen zeigte, dann genügten allein die Zahlen!“

„Was für Zahlen?“ fragte Emilie, die eben mit dem Wochenprogramm in der Hand hereingetreten war, ohne dass Leopold und Jacoby es bemerkt hatten.

„Ich bitte dich, Emilie gewöhn dich daran, anzuklopfen, bevor du reinkommst. Erstens bekommt man regelmässig einen Schreck; und dann – du bemühst dich doch sonst in allen Dingen so fein zu sein – es gehört sich nicht.“

„Und ich bitte dich,“ erwiderte Emilie, – „mich nicht in Gegenwart deines Personals zu massregeln.“

„Jacoby ist kein Personal“ erwiderte Leopold. – „Er ist Freund des Hauses! Seit fünfzehn Jahren.“

„Ich wüsste nicht, dass er deine Bücher aus Freundschaft führt. Ich dachte, dass du ihn dafür bezahlst.“

„Das tu ich auch! Das ist ganz selbstverständlich. Das hindert aber nicht, dass er ...“

„Jemanden, der für Geld Bücher führt,“ unterbrach sie ihn – „nennt man einen Buchhalter – und Buchhalter sind für gewöhnlich Angestellte.“

„Sie haben nicht immer so gedacht, Frau Emilie!“ erwiderte Jacoby verletzt; „und ich entsinne mich einer Zeit, zu der Ihnen meine Besuche sehr willkommen waren.“

„Möglich, dass das früher – in Neutomischel – einmal der Fall war. Wie gesagt: möglich! – Ich gebe mir Mühe, diese Zeit zu vergessen. Neutomischel – wenn ich dies Wort nur höre! – existiert für mich nicht mehr.“

Jacoby trat an sie heran:

„Ich kann das ja begreifen,“ – sagte er zärtlich – „aber ich bin doch mit Ihnen gegangen – so gut wie Leopold und Ihre Kinder – Sie können doch unmöglich von heute auf morgen vergessen, Emilie, was zwischen uns beiden ...“

„Werden Sie nicht unfein!“ unterbrach ihn Emilie, „und sprechen Sie laut! Es schickt sich nicht, in Gegenwart meines Mannes zu flüstern. Er kann alles hören, was Sie mir zu sagen haben – Herr Jacoby!“

„Ne Kinder,“ sagte Leopold, ohne von seinen Büchern aufzusehen – „es ist mir schon lieber, ihr sprecht leise – ich fange jetzt bereits zum dritten Male an, zu zählen. – Oder noch besser, ihr geht nach oben – in einer halben Stunde komme ich nach – ich will nur hier erst die Bilanz fertigmachen.“

„Ich wüsste nicht, worüber ich mich mit Herrn Jacoby unterhalten sollte ... etwa über die Propheten oder die Quitzow?“

„Wir haben uns früher verstanden, auch ohne dass wir über den Propheten oder die Quitzows miteinander gesprochen haben,“ sagte Jacoby.

„Ich wiederhole Ihnen,“ rief Emilie wütend, – „Sie erinnern mich mit jedem Blick und jeder Silbe an Neutomischel – mir steigt förmlich der Geruch dieser Stadt in die Nase, wenn ich Sie sehe. Wenn Sie also wirklich eine Spur von Anhänglichkeit haben, so sorgen Sie dafür, dass wir uns nicht mehr begegnen – ich bitte Sie darum.“

Jacoby liess den Kopf sinken:

„Also gehe ich!“ sagte er.

„Was soll das heissen?“ fuhr Leopold auf.

„Ich will niemandem im Wege sein. Am wenigsten Ihnen, Frau Emilie.“

„Ich brauch’ dich!“ brüllte Leopold.

Jacoby zog die Schultern in die Höhe.

„Tut mir leid!“ sagte er.

„Ich find’ mich ohne dich nicht aus in meinen Büchern!“

„Hab’ dich nicht so!“ schalt Emilie; ’n Buchhalter wird wohl noch zu ersetzen sein!“

„Nich so leicht wie’n Liebhaber!“ erwiderte Jacoby.

„Was soll das heissen? – was bedeutet das?“ schrien Emilie und Leopold gleichzeitig.

„Weshalb soll ich keine Vergleiche ziehen?“ erwiderte Jacoby in aller Ruhe. „Ein Liebhaber is wie der andre – – was da verlangt wird, du lieber Gott, das weiss am Ende jeder. Aber ein Hauptbuch gleicht nicht immer dem andern!“ – und er wies auf den Tisch, auf dem Leopolds Bücher lagen – „und ein Buchalter, der sich da herausfindet, den soll sich Leopold erst mal suchen.“

„Wem sagst du das?“ erwiderte Leopold. „Meinst du, ich weiss nicht, was ich an dir habe?“

Jacoby sah zu Emilie hinüber.

„Mir fällt es auch nicht leicht,“ sagte er – „und schliesslich ist man ja in den fünfzehn Jahren nicht nur unter sich, sondern auch mit den Büchern verwachsen.“

„Nu also!“ erwiderte Leopold.

„Trotzdem gehe ich – leb’ wohl!“ sagte er und wandte sich zur Tür.

„Jacoby!“ rief Leopold, „du bist wahnsinnig!“ und sprang auf.

Jacoby wies auf Emilie.

„Gib ihm ein gutes Wort!“ sagte Leopold zu seiner Frau.

„Ich bitte dich, lass mich aus deinen geschäftlichen Dingen heraus. Wenn du ihn brauchst, musst du ihn halten. Ich kann dazu nichts tun!“

„Ich brauche ihn!“

„Dann bist du ein Esel, wenn du ihn gehen lässt.“

„Du hörst doch, Jacoby,“ sagte Leopold – „sie will, dass du bleibst.“

Jacoby wandte sich von der Tür ab und trat wieder ins Zimmer.

„Is das wahr?“ fragte er zaghaft.

Emilie sah ihn gross an. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte:

„Aussehn tun Sie wieder, Jacoby! Jedem Stück, das Sie auf dem Leibe haben, sieht man an, dass es aus Neutomischel stammt. Wenn Sie sich wenigstens einmal die Haare schneiden liessen und einen Scheitel trügen! Sehen Sie sich doch die Leute auf der Strasse an, ob Ihnen auch nur ein einziger begegnet, der aussieht wie Sie!“

„Nu,“ sagte Leopold, „nu bist de doch wohl zufrieden – denn wenn ne Frau erst anfängt, sich um die Toilette eines Mannes zu kümmern, denn is er ihr auch nicht mehr gleichgültig.“

„Einem Hausdiener, der aussähe wie er, würde ich auch Vorhaltungen machen.“

Da wandte sich Jacoby, ohne ein Wort zu sagen, zur Tür und ging. –

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich ihn brauche!“ brüllte Leopold, als er draussen war.

„So ruf ihn zurück!“ erwiderte Emilie – „aber erst wenn ich draussen bin. Er fällt mir auf die Nerven.“

Dann trat sie an den Schreibtisch und reichte ihm den Vergnügungsanzeiger für die nächste Woche.

„Was ist das?“ fragte er.

„Vielleicht nimmst du dir die Mühe, es dir anzusehen.“

Leopold warf einen Blick auf den Zettel:

„Danach steht mir jetzt nicht der Kopf,“ sagte er und legte den Zettel beiseite.

„Ich verlange, dass du dich wenigstens fünf Minuten mal mit deiner Familie beschäftigst.“

„Keine Redensarten, liebe Emilie, wenn ich bitten darf.“

„Was soll das heissen?“ fragte sie.

„Du weisst so gut, wie ich, dass ich mich von früh bis spät mit euch beschäftige, indem ich für euch Geld verdiene. Leider – na, wozu soll ich dir auch noch den Kopf verdrehen?“

„Was ist? bitte, rede!“ drängte sie.

„Nun, wir haben Bilanz gemacht.“

„Ja, und? ...“

„Die Ausgaben übersteigen die Einnahmen im letzten Jahre um 8700 Mark.“

„Wennschon!“ erwiderte Emilie. „So wirst du im nächsten Jahre eben mehr verdienen müssen. Ich wollte sowieso mit dir darüber sprechen.“

„Worüber?“ fragte Leopold.

„Nun, dass es in dem Stile natürlich nicht weitergehen kann.“

„Was willst du damit sagen?“

„Dass wir dazu nicht nach Berlin gezogen sind, um hier unser Leben von Neutomischel weiterzuführen – dann hätten wir ebensogut bleiben können, wo wir waren!“

„Wer war denn der treibende Teil, der das Leben in Neutomischel nicht mehr ertrug?“

„Ich, ich!“ erwiderte Emilie gereizt – „ich geb’s ja zu; noch ein Jahr in dieser Enge und unter diesen Menschen und ich wäre verrückt geworden.“

„Und mir hast du immer erzählt, es geschähe nur der Kinder wegen.“

„Gewiss! auch! – aber in erster Linie hab’ ich natürlich an mich gedacht. Damit aber, dass wir uns nun hier von allem ausschliessen, habe ich freilich nicht gerechnet.“

„Was das nur heisst,“ erwiderte Leopold und schlug eins der grossen Bücher auf. – „Hier überzeug dich selbst. In Neutomischel haben wir im letzten Jahre Siebentausendvierhundert Mark gebraucht und in Berlin im ersten Jahre weit über Vierzigtausend. Das ist das sechsfache.“

„Im Verhältnis von Berlin zu Neutomischel ist es die Hälfte! verlass dich drauf!“

Leopold nahm den Zettel, den ihm Emilie gegeben hatte, vom Schreibtisch auf und sagte:

„Und dieses Wochenprogramm beweist auch nicht gerade, dass wir uns von allem ausschliessen – im Gegenteil! Vielmehr liegen die Dinge so, dass wir ruiniert sind, wenn wir weiterhin alles mitmachen, statt uns einzuschränken.

Emilie glitt auf den Sessel, der ihr am nächsten stand.

„Einschränken ...“ wiederholte sie tonlos: – „wo man eben anfangen wollte, zu leben.“

„Es tut niemandem mehr leid, als mir;“ lenkte Leopold ein. „Ich hatte es mir auch anders gedacht.“

„Mit deinem Mitleid änderst du nichts.“

„Gewiss nicht!“

„Also wirst du wohl andre Mittel suchen müssen, um zu Geld zu kommen.“

„Es gibt keine!“

„So reden Feiglinge und Krämer! Wenn es so nicht geht, so versuche es ... in Kupfer ... oder in Getreide ... oder an der Börse ... oder, was weiss ich – jedenfalls wird es doch noch etwas andres auf der Welt als Buckskin geben!“

„Und meine Bestände?“ fragte Leopold.

„Was für Bestände?“

„Nu, mein Lager, – allein in Kommissionswaren hab’ ich für über achtzigtausend Mark Ware liegen.“

„Such’ die an Papa in Neutomischel loszuwerden; darin hast du doch Uebung.“

„Meinst du, der hat nicht längst gemerkt, wie wir ihn bei der Separation übers Ohr gehauen haben?“

„Sag’ ruhig: betrogen haben!“ ergänzte Emilie. „Wir brauchen einander doch nichts vorzumachen.“

„Nenn’s, wie du willst; jedenfalls wird er ein zweites Mal vorsichtiger sein.“

„Nicht einmal soviel traust du dir zu, mit einem Manne von zweiundsiebzig Jahren, der noch dazu dein Schwiegervater ist, fertig zu werden?“

„Würde es dir etwa passen, wenn ich den alten Mann zugrunde richte?“

„Was das für Redensarten sind!“ erwiderte Emilie; „wer spricht denn von zugrunde richten? Es ist doch selbstverständlich, dass ein anderer verlieren muss, wenn du gewinnen willst. – Also mach was du willst; jedenfalls ist es deine Pflicht, für einen standesgemässen Unterhalt deiner Familie zu sorgen. Wie du das machst, ist deine Sache!“

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