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Sympoietische Annäherungen

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Etwas im Leben eine Chance zu geben, heißt für uns Menschen, dass wir diesem Etwas eine Stimme geben, dass wir es in Wortsprache bringen, dass wir darüber nachdenken, und vor allem auch, dass wir mit anderen darüber sprechen können. Katzen müssen das so nicht, zumindest wissen wir nicht viel darüber, ob und was eine Katze beim Streunen denkt und wie sie allenfalls ihre Erfahrung mit ihrer Mitwelt in Austausch bringt. Sie tut das ganz bestimmt in aller katzischen Handlungskraft. Wir können von Katzen in Sachen Streunen viel lernen. Wie sich im Raum bewegen, die Rhythmik von Stehen und Gehen, die Eigenwilligkeit ihrer Aufmerksamkeit, ihre konzentrierte Zuwendung zu dem, was ihr bedeutsam wird. Wir können versuchen so zu tun, als seien wir eine Katze, und unsere leibliche Empathie wird uns helfen, einen guten Einstieg ins Streunen zu finden. Aber im inneren sprachlichen Dialog und im Austausch mit anderen, da sind wir dann auf unsere typisch menschlichen Ressourcen zurückgeworfen.

Hier landen wir in dem, was wir Sprache nennen, samt Grammatik, Vokabular, Tiefenstrukturen, und in den kulturellen und biografischen Feldern, die durch sie erschaffen werden. Die Art und Weise, wie wir über das Streunen sprechen, greift ins Geschehen ein. »Die Sprache betont gewöhnlich nur eine Seite jeder Wechselwirkung«, meint Bateson (1982, S. 80 ff.). Sie suggeriere, dass ein einzelnes Ding irgendeine Eigenschaft haben kann. Das ist schlicht und ergreifend ungenau, weil nichts für sich alleine steht. Alles existiert nur in ständiger Beziehung und Wechselwirkung. Alles wird von eigenen Relationen und seinem Verhalten in Beziehung zu anderen Dingen und zum Sprecher »gemacht«. Für solch bewegte Sachverhalte eignet sich unsere Sprache nur wenig.

Wir, hier gemeint die indogermanischen Sprachgruppen, versprachlichen uns – zumindest seit ein paar tausend Jahren – ungenau. Unsere Sprache schafft Abgrenzungen, wo auch Beziehung waltet; sie hält fest, wo auch Bewegung ist, und schafft Hierarchien, wo auch Kreise und Wellen sein könnten. Wir suchen nach kausalen Schlüssen, wo etwas am Entstehen ist, und betonen das Individuum, wo es um Interaktion geht. Kurz: Unserer aktuellen Sprache fehlt es an Wortschatz und Struktur (glücklicherweise nicht an Poesie!), wenn es um lebendige Zusammenhänge geht. So gehen viele Facetten, viele Handlungen und ebenso viele Beteiligte des Geschehens im wahrsten Sinne des Wortes verloren und mit ihnen auch Stimmungen, Dissonanzen, Ideen, Möglichkeiten, Positionen. Am Ende verschwindet dieser fruchtbare Austausch mit anderen, der uns helfen könnte zu begreifen, was wir gerade erleben, was in unserer Nische geschieht und wozu es uns führt.

Für indogermanische Sprachen, die auf ihre Weise auf Abgrenzung und lineare Schlussfolgerungen spezialisiert sind, ist es schwierig, ein differenziertes Verhältnis zu kooperativen komplexen Vorgängen zu entwickeln.11 Es fällt uns schwer, in der Welt Kooperation zu sehen, Kooperation zu denken oder gar in diese Richtung zu forschen. Es fällt uns schwer, Fragen zu stellen, die uns dem beidseitig Ineinandergreifenden, Vielgestaltigen, Gleichzeitigen näherbringen.

Unsere Geschichte(n), Mythen und Wissenschaften sind entsprechend gefüllt mit Kämpfen, Kriegen, Helden und Märtyrern, vom Überlebenskampf in feindlicher Umgebung und Selektion der »Besten«. Wer den Blick auf kooperative Prozesse lenkt, wird belächelt, ignoriert oder gar behindert.

Als – um ein Beispiel zu nennen – Lynn Margulis (vgl. Margulis 2018), eine US-amerikanische Biologin (1939 – 2011), die sogenannte Endosymbiontentheorie aufgriff und vertieft beforschen wollte, wehte ihr lange kalter Wind entgegen. Die Idee, dass schon in frühen Stunden der Evolution symbiotische Prozesse zur Entwicklung von maßgeblichem Leben geführt haben könnten, schien den gängigen Auffassungen von Wirklichkeit absurd. Dass Symbiose und symbiotische Prozesse Leben bilden, widersprach der Idee einer linearen, auf Selektion und Adaption ausgerichteten Evolutionsschau. Auch wenn heute ihre Theorien weitestgehend bestätigt sind, bleiben sie und ihr Ansatz der Symbiogenese, der die Evolution kooperativ denkt, weitgehend unbekannt oder aber mit dem Geschmack von esoterischem Halbwissen belegt. Dass sie zu einer wesentlichen Vertreterin der mit James Lovelock entwickelten Gaia-Hypothese wurde, hat die Sache nicht einfacher gemacht. Da hat es auch nicht genützt, darauf zu verweisen, dass die Gaia-Hypothese keine alte Göttin ehrt, sondern die Erde als ein autopoietisches, lebendiges System beschreibt, in dem wir Menschen keine Passagiere sind, sondern aktive Mitwirkende. So ist das eben. Das kann man Darwin nicht vorwerfen. Er ist einfach der prominentere Kerl und wird es wohl auch noch einige Zeit bleiben.

Die Beschreibungen von Maturana und Varela rund um die biologischen und neurobiologischen Grundlagen waren revolutionär, aber ihr Fokus und ihre Wortwahl waren in den 1980er-Jahren auf die Autonomie und die operationale Geschlossenheit des Lebewesens bezogen. Ihnen war klar, dass eine autopoietische Einheit, ein sich selbst erhaltendes Lebewesen, nur in Kooperation mit »seinem« physischen Raum existiert, aber mit ihrer Begriffswahl lenkten sie die Aufmerksamkeit auf das abgegrenzte Lebewesen und nicht auf die Interaktionen mit der Umwelt.

Angenommen, Lynn Margulis hätte mit Humberto Maturana und Francisco Varela geforscht: Hätten sie vielleicht ihre Erkenntnisse unter dem Titel Sympoiese12 in die Welt hinausgetragen? Und wären sie dann auch so prominent geworden?

Wie auch immer: Auf der Suche nach der Sprache und den Narrativen, die uns helfen zu erzählen, was uns nicht nur beim Streunen passiert, sondern ganz generell beim Leben in und mit der Welt, kommen mir »Sympoiese« oder auch »sympoietisch« sehr entgegen. Sie lenken unseren Fokus auf das Beziehungsgeschehen, auf das Miteinander, auf das Mit-Machen, auf das Mit-Werden. Das können wir gut brauchen.


4 Das Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien ist ein seit den 1960er-Jahren aktives Bildungszentrum, das einen humanistisch-interdisziplinären Schwerpunkt und im Laufe der Jahre viele klingende Namen und Netzwerke beherbergt hat, ein gesellschaftskritischer Think Tank mit starken Einflüssen aus dem asiatischen Kulturraum. Michael Murphy, Henry Miller, Carl Rogers, Joan Baez und Fritz Perls haben hier gewirkt. Auch Gregory Bateson war an der Gründung mit beteiligt und hat seine letzten Lebensjahre dort verbracht. Siehe auch: www.esalen.org [29.06.2021].

5 Es müsste hier freilich Wildnisraum heißen. Ich spreche hier abwechselnd von wildem Raum oder Wildraum, weil eigentliche Wildnisräume, also Räume, die in einem ausgewogenen Maß menschlicher Beeinflussung ausgesetzt sind und eigenlebendig existieren, weder in stadtnahen noch in landwirtschaftlichen Gebieten vorhanden sind. Mit Wildräume meine ich also »Naturräume«, die zumindest weitestgehend werbefrei sind.

6 Matthew Crawford stellt in seiner Ethik der Aufmerksamkeit das Konzept der Aufmerksamkeitsallmende vor und will in ihr die eigene Aufmerksamkeit als allgemeines Gut sehen. »Es gibt nichts, was uns mehr gehört als unsere Aufmerksamkeit. Im Normalfall suchen wir uns aus, worauf wir Aufmerksamkeit richten wollen, und das bestimmt in einem sehr realen Sinn, was in unseren Augen wirklich ist – was tatsächlich in unserem Bewusstsein existiert. Daher ist die Inanspruchnahme unserer Aufmerksamkeit eine besonders persönliche Sache.« (Crawford 2016, S. 28)

7 Übersetzung der Autorin; Zitat aus The Origin of Life and the origin of Living, Beitrag von Humberto Maturana und Ximena Dávila in der 33bienal, Sao Paulo 2018 (Lehrunterlage der Weiterbildung »Fundaments of Cultural Biology«, Matriztica Institute).

8 Jene West-Ost-Verbindung, die seit den 1960er-Jahren und der 68er-Bewegung sowohl politisch also auch kulturell sehr präsent ist, könnte auch in einem wesentlich größeren Bogen gesehen sein. Jan Assmann nimmt in seinem Buch Achsenzeit den Diskurs von Karl Jaspers’ Idee der »Achsenzeit« auf und zeigt darin, dass dieses Modell, das von einer zeitgleichen Erscheinung großer prophetischer Männer und ihrer transzendenten Einheitslehren nur aufgrund der Ausblendung des bereits existierenden Kulturen des Südens möglich war bzw. ist. Er sieht hier die bis heute wirksame Tendenz, die Verbindung von West und Ost anstelle einer gesamthaften Schau in den Blick zu nehmen.

9 Hartmut Rosas Ausführungen zu Resonanz (2018) und Unverfügbarkeit (2020) helfen hier beim Weiterdenken: »Resonanz bedarf einer erreichbaren, nicht einer (grenzenlos) verfügbaren Welt. Die Verwechslung von Erreichbarkeit und Verfügbarkeit liegt an der Wurzel des Weltverstummens in der Moderne« (Rosa 2020, S. 67).

10 Vgl. Maturana u. Verden-Zöller (2005). Das kommt dem sehr nahe, was Maturana in seinen Überlegungen zur Biologie der Liebe zu erkennen meint: »Love is a manner of relational behaviour through which the other arises as a legitimate other (as an other that does not need to justify his or her existence in relation to us) in a relation of coexistence with oneself« (Maturana in einem unveröffentlichten Skript zu der Weiterbildung Fundaments of Cultural Biology).

11 Mit dem Schicksal indogermanischer Völker, das gemeinsam mit seiner Sprache als eine Geschichte von Kriegen und Gewalt erzählt wird, beschäftigen wir uns genauer im Kapitel »Wohin reichen unsere Erinnerungen« (S. 165 ff.).

12 In ihrem Buch Unruhig bleiben widmet Donna Haraway ein Kapitel der Sympoiesis. Dort stellt sie auf Seite 88 fest: »Solange Autopoiesis nicht selbstgenügsames selber machen/sich-selber-machen meint, sondern von der Gewichtung verschiedener Aspekte systemischer Komplexität handelt, besteht zwischen Autopoiesis und Sympoiesis ein produktives Reibungsverhältnis, oder auch: ein Verhältnis der generativen Umarmung, nicht eines der Opposition« (Haraway 2018, S. 88).

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