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Moderne Trennungen
ОглавлениеLandesgrenzen werden bekanntlich an Grenzposten entlang von Luft-, Land- und Wasserstraßen gehütet. Sie sind genau genommen nicht mehr als wenige Punkte entlang ausgewählter Linien. Es handelt sich um Repräsentanten eines wesentlich umfassenderen Raumes, der ein Land ausmacht. Wir sind es gewöhnt, diese Verkehrspunkte, -knoten und -linien zu einer gesamten Fläche zusammenzudenken. Das hat vereinfachende Wirkung, ist jedoch – um in Batesons Jargon zu bleiben – ungenau. Diversität und Größe des irdischen, natürlichen Raumes kippen aus unserer Aufmerksamkeit, gehen im stereotypen Netz nationaler Grenzpunkte verloren. Sie rücken erst dann wieder ins Bewusstsein, wenn soziale, politische, ökonomische oder biologische Umstände die repräsentierenden Grenzübergänge in Frage stellen. Dann wird an andere Stellen ausgewichen und versucht, in das Gebiet »einzufallen«.
Dazu fällt mir eine berührende Geschichte ein: Viele Jahre lang sind wir von unseren Seminarreisen in Griechenland mit den Autofähren von Patras, Peloponnes, nach Venedig, Italien, gefahren. Es war noch zu einer Zeit, in der wir mit Kajaks, also mit einem Anhänger voller schlanker Boote unterwegs waren. Der Fährhafen von Patras war jedes Jahr von einem höheren, jedoch noch improvisierten Zaun eingefasst, an dem sich Flüchtlinge und Asylsuchende drängten, nach irgendwelchen Schlupflöchern Ausschau haltend, durch die sie sich im dichten Gemenge von LKWs und Autos einen Weg ins Innere dieser Schiffe bahnen konnten. Welch trauriges, ja unglaubliches und unwürdiges »Schauspiel« für alle Anwesenden. Wir also fuhren mit unserem Auto und seinem Anhänger, mit unseren Pässen und Tickets auf das Schiff, schaukelten sicher durch das Mittelmeer und fuhren – wie schon so oft – von Venedig hoch, über Südtirol, den Brennerpass und von dort Richtung Westen in die Schweiz. Als wir in Vorarlberg an einer Tankstelle Halt machten (ca. fünfeinhalb Stunden später), fiel mir sozusagen mein Herz in die Hose, als ich es deutlich aus einem der Boote klopfen hörte! Wir konnten und wollten gar nicht glauben, was jedoch immer wirklicher wurde: Wir hatten in einem unserer Kajaks einen blinden Passagier! Als schließlich dieser Jemand seine kleine Hand aus der Sitzluke streckte, war es für uns alle unübersehbar: Da war ein Mensch. Seit wann, wissen wir nicht, sicherlich jedoch seit Venedig, in einer Kajakluke untergebracht, mit uns über die Alpen gefahren! Wer schon mal in einem Kajak gesessen ist, kennt die Kleinheit des Raumes, und es ist klar, dass ihm, wer auch immer er war, von anderen geholfen wurde. Und jetzt stehen wir mit ihm in Vorarlberg. Was ist jetzt die gute Hilfe? Wir sprachen ihn an, berieten miteinander und entschieden, die Polizei zu kontaktieren. Was hätten wir tun sollen? Wenn es für ihn eine Chance gab, dann über den formellen Asylweg. Berührt bin ich heute noch, auf welch schöne und sichernde, kompetente Weise jene Polizistin und ihr Kollege diesen hageren Menschen aufgenommen haben, den wir in ihrer Anwesenheit wenige Minuten später aus dem Boot befreit haben. »Ihr kommt aus Patras, okay, alles klar, da ist viel los«, kommentierten sie mitfühlend. Wie seine Geschichte weiterging, das kann ich nicht sagen. Wir hoffen, die waghalsigen Abenteuer illegaler Grenzüberschreitung haben ihn an einen lebenswerten Ort geführt. Der Hafen von Patras wurde übrigens am Stadtrand neu gebaut und mit neuen soliden Mauern versehen. Das änderte an der Situation der Migrationsbewegung jedoch wenig.
Wer dieses Hin und Her auf allen (Un-)Wegen eindämmen will, muss auf Erden gewaltige Mauern, eiserne Vorhänge und Zäune bauen, muss zu Wasser und zu Land patrouillieren und überdies in der Luft kontrollieren und organisieren. Diese Projekte sind allesamt sehr aufwändig und fehleranfällig, werden als bedrohlich bis unwürdig erlebt und führen uns Tag für Tag vor Augen, dass saubere Trennungen von Ländern oder politischen Gebilden illusorisch sind. Diese Trennungsideen mögen noch viel menschliches Leid und weite Auslöschungen von kultureller und biologischer Diversität mit sich bringen, aber auch der beständige lebendige Austausch wird gesehen und ungesehen fortdauern und »Mauern fallen lassen«.
Ebenso wie Grenzübergänge nicht das ganze Land sind, umfassen die kulturellen Vereinbarungen, die heute unser Verständnis von psycho-sozialer Beratung prägen, noch lange nicht das ganze soziale Geschehen, das uns bewegt. Es sind lediglich Netzwerkpunkte, die wir zu einem vereinfachenden und vermeintlichen Ganzen zusammenfassen. Hier wie dort geraten dabei die grünen Grenzräume für gewöhnlich aus dem Blick, und auch hier wirken Trennungsideen bzw. Handlungsabkommen.
Unsere moderne Welt fordert zwei wesentliche Unterscheidungen: Sie besteht darauf, dass wir als Menschen von einer nichtmenschlichen Dingwelt getrennt sind. Sie gründet demnach in der Vorstellung, dass das Menschliche eine eigene Welt, ja oft sogar eine extraterrestrisch verstandene Welt bildet. Zusätzlich verweist sie darauf, dass das einzelne menschliche Individuum autonom und selbstbestimmt von den anderen Menschen verstanden werden muss. Diese Fokussierungen auf das unabhängige, frei kreative Menschliche, gepaart mit dem Glauben an das abgegrenzte, autonome Individuum an sich, bilden die Basis unserer Moderne und finden ihren Widerhall in allen gesellschaftlichen Bereichen.15
Nicht verwunderlich, dass sich auch die anerkannte Psychotherapie in diesen Sichtweisen entwickelt hat und ihr Knowhow diesen beiden Grundannahmen zur Verfügung stellt. Sie blickt auf das zwischen-menschliche Geschehen, als sei es vom natürlichen Raum losgelöst, und unterstützt das Individuum bei Einsicht und Selbstermächtigung.16
Politisch korrekte Psychotherapie hat sich darauf verständigt, Grenzverschiebungen entlang der gegebenen Straßen zu bewirken, und hält sich selbst und ihre Klienten mithilfe von Diagnose- und Abrechnungsschlüsseln nachweislich auf rechten Wegen. So können tiefenpsychologische Schulen dem Unbewussten Raum geben, müssen in der Reflexion jedoch im vorgegebenen patriarchalen Analyse-Schema bleiben. Humanistische Schulen erlauben zwar emotionale und körperorientierte Expression, jedoch nur mit dem Ziel, das Individuum mit sich selbst zu verbinden. Systemische Schulen denken in familiären und anderen systemischen Bezügen, lassen die »natürliche« oder auch »politische« Umwelt aber oft außen vor.