Читать книгу Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über Preußen - Astrid von Schlachta - Страница 15
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Preußen assimilierte seine neuen Provinzen rücksichtslos
Die Expansion Preußens in der Frühen Neuzeit wirft zwangsläufig die Frage auf, wie Preußen die neu gewonnenen Gebiete integrierte. Die Intensität von Herrschaft kann daran gemessen werden, ob ein neues Gebiet integriert wurde, indem man alte Rechte und Eigenständigkeiten anerkannte oder durch Assimilation niederdrückte. Die Frage nach dem Ausgleich beziehungsweise der Angleichung regionaler Traditionen und Machtverhältnisse an gesamtstaatliche Interessen gehörte vermutlich zu den prominentesten, die die Hohenzollern zu lösen hatten. Versuche der Integration konnten über die Einberufung der Bewohner der Provinz in das Militär oder über die Vereinheitlichung von Verwaltung und Justiz laufen, wie beispielsweise durch das 1794 erschienene „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“. Es schuf ein einheitliches Recht für Gesamtpreußen, für dessen Vorbereitung Friedrich II. jedoch in allen Provinzen die regionalen Rechte hatte sammeln lassen.
Inwieweit nun wirklich Eigenständigkeit gewahrt wurde oder eine Assimilation geschah, hing von den Verhandlungen der Landstände mit dem Herrscher ab. Die Landstände versuchten, den Einflüssen aus der Zentrale möglichst viele Riegel vorzuschieben. Das Indigenatsrecht war solch ein Riegel; es besagte, dass die Stellen in Verwaltung und Justiz nur mit Einheimischen aus den jeweiligen Regionen besetzt werden durften. Bis in die Zeit Friedrichs II. versuchten die hohenzollernschen Herrscher, dieses Recht zu ignorieren und ihre Beamten in die neuen Territorien zu entsenden. Erst Friedrich II. garantierte in Ostfriesland und Kleve wieder das Indigenatsrecht, was auf Veränderungen in den Ideen zur Integration von Regionen schließen lässt. Zudem erkannte Friedrich II. im Fall Ostfrieslands auch die alten Rechte der ostfriesischen Landstände, die sogenannten Akkorde, an und bestätigte diese bei Herrschaftsantritt in einer „Konvention“. Sie enthielten die Privilegien, die die Stände seit dem späten 16. Jahrhundert mit den Grafen von Ostfriesland ausgehandelt hatten. Erst Ende der 1740er-Jahre, als das Geld nicht im erhofften Maße aus Ostfriesland floss, verstärkte der Landesfürst die Vereinheitlichung der Verwaltung.
Auch den Ständen der westlichen Provinzen, in Kleve und Mark, hatte der Große Kurfürst 1660/61 ihre Rechte auf Selbstversammlung, Steuerbewilligung und Indigenat zugesichert. In Jülich bestanden ebenfalls die alten ständischen Strukturen aus der Zeit der Herzöge von Jülich fort. Die gute wirtschaftliche Lage und der weit getriebene Ausbau von Industrie und Handel trugen im Westen Preußens zur Stärkung der Region bei. Zudem waren Industrie und Handel hier nicht nur auf die Städte beschränkt, sondern verschafften auch dem ländlichen Raum seine Bedeutung. Dass sich dadurch leichter auf politische Mitsprache pochen ließ, ist gut nachvollziehbar. Bürgertum und ländliche Bewohner waren an politische Mitsprache gewöhnt.29 Das preußische Beispiel zeigt also, dass Integration nicht kompromisslose Vereinheitlichung bedeuten musste. Die politischen Entscheidungsträger in den Provinzen behielten ihre Macht, auch wenn die Landesfürsten den Kampf um Privilegien und Eigenständigkeiten seit dem frühen 18. Jahrhundert tendenziell etwas häufiger gewannen.
Es ist bereits angesprochen worden, dass die Identifikation mit Preußen in vielen Regionen über die Dynastie der Hohenzollern lief. Um diesen Faktor der Identifikation zu verstärken und ihn für die Integration zu nutzen, spielte den Hohenzollern eine Entwicklung in die Hände, die sie selbst intensiv betrieben, nämlich ihre eigene Rangerhöhung. Die Krönung der Kurfürsten von Brandenburg zu Königen in Preußen im Jahr 1701 war eine selbst gesetzte Rangerhöhung, die Brandenburg-Preußen die Möglichkeit bot, das eigene Selbstverständnis und die gewachsene Macht zeremoniell und im Rang auszudrücken. Die Krönung sollte in Königsberg stattfinden, was die Abhängigkeiten vom Kaiser und vom Reich minimierte, da das Herzogtum Preußen und die Gebiete königlichen Anteils nicht zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gehörten. Allerdings konnte sich der brandenburgische Kurfürst lediglich zum König „in“ Preußen, also im alten Herzogtum, krönen lassen. Doch die Krönung „in“ Preußen bot dem Kurfürsten gerade auch die Möglichkeit, sich außerhalb des Reiches als souveräner und vom Kaiser unabhängiger Monarch zu etablieren. Erst 1772 nannten sich die Hohenzollern dann Könige „von“ Preußen.
Bereits seit seinem Herrschaftsantritt gab es aufseiten Friedrichs III. den Wunsch, die eigene Dynastie im Rang zu erhöhen. Dabei war ihm vor allem wichtig, das Einverständnis Kaiser Leopolds I. zu erlangen. Dies geschah schließlich am 30. November 1700; im sogenannten „Krontraktat“ erhielt Friedrich III. die Bestätigung des Kaisers, dass dieser die Krönung anerkennen würde. Das Dokument erlegte Brandenburg-Preußen jedoch auf, seine Position im Reich unverändert zu lassen und aus der neuen Königskrone keine neuen Rechte zu ziehen.
Die positive Antwort auf den brandenburgischen Wunsch war ein Spiel auf Gegenseitigkeit. Österreich steckte zu der Zeit in den Auseinandersetzungen über die spanische Thronfolge, die man für den jungen Erzherzog Karl, den späteren Kaiser Karl VI., sichern wollte. Es war wohl vor allem das Bestreben Österreichs, mit dem „Krontraktat“ Brandenburg-Preußen als wichtige Klientel an Habsburg zu binden und von anti-habsburgischen Bündnissen im Norden abzuhalten. Leopold I. befürchtete einen Zweifrontenkrieg, in dem Österreich im Süden durch die Auseinandersetzungen über die spanische Erbfolge und im Norden durch eine antihabsburgische Koalition aus Sachsen-Polen, Frankreich und Brandenburg-Preußen beziehungsweise durch ein Bündnis Brandenburgs mit Hannover-England hätte gebunden werden können.30
Nach der kaiserlichen Einwilligung ging alles sehr schnell. Nur sechs Wochen später, am 18. Januar 1701, sollte die Krönung stattfinden – die Kürze der Zeitspanne weist darauf hin, dass die Vorbereitungen in Brandenburg schon weit fortgeschritten waren. Der Königsmantel, die Krone und das Szepter waren bereits fertig, bevor das kaiserliche Einverständnis kam.31 Friedrich III. hatte sich zudem sehr ausführlich darüber informiert, wie die Krönungszeremonie durchzuführen sei, welche Symbole und welche Abläufe man wählen sollte. Letztendlich traf er die Entscheidung, die Krönung selbst durchzuführen und sich die Krone zunächst selbst auf sein Haupt zu setzen und dann seine Frau zu krönen. Zudem trennte er die Krönung von der Salbung, das heißt, es wurde erst die Krönung durchgeführt, der weltliche Akt also dem geistlichen vorangestellt. Die Salbung konnte so als Bestätigung der Krönung angesehen werden. Für die Salbung ernannte Friedrich III. zwei neue Bischöfe, einen calvinistisch-reformierten und einen lutherischen. Die Botschaft war klar: Der König steht über der Kirche, ist oberster Kirchenherr und beide Kirchen sind in Preußen gleichberechtigt: eine wichtige Botschaft, die die lutherischen Untertanen hier von ihrem reformierten König erhielten. Nach der Zeremonie empfing das neue Königspaar die Jubel- und Huldigungsrufe des Hofstaates und der Vertreter der Stände.
Anlässlich der Krönung stiftete Kurfürst Friedrich III., der nun König Friedrich I. war, einen eigenen Orden, den Orden vom Schwarzen Adler – ein für den neuen König „als notwendig erachtetes Repräsentationsinventar“ und ein „unbedingt erforderliches Status- und Belohnungsritual für höchste Funktionsträger“.32 Das neue Königreich musste sich auch in Ordensangelegenheiten auf eine Ebene mit den anderen Herrscherhäusern stellen; Habsburg verlieh beispielsweise den Orden vom Goldenen Vlies. Der brandenburgisch-preußische Orden stand unter dem Motto „Suum cuique“ („Jedem das Seine“): „Als ein Bild der Gerechtigkeit zeiget er eben den Endzweck Unseres Reiches und Ordens an, und worauf beydes abzielet; nämlich Recht und Gerechtigkeit zu üben und jedwedem das Seine zu geben.“ So die Statuten des neuen Ordens. Der neue Orden integrierte und band vor allem den Adel an das Herrscherhaus. Er ist Ausdruck des in der Frühen Neuzeit stets angestrebten Geschäfts auf Gegenseitigkeit, das den Landesfürsten und seine Mittelgewalten zu einem Interessenausgleich führte. Herrschaft wurde nur selten durch- und aufgedrückt, sondern unterlag meist einem Prozess des Aushandelns.