Читать книгу Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über Preußen - Astrid von Schlachta - Страница 6

Einleitung

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Preußen polarisiert! Es fällt schwer, zu Preußen eine neutrale Meinung zu haben. Entweder man deklariert sich als „Preuße“ und blickt freudig-stolz auf die Erfolgsgeschichte und das Ethos, die Preußen hervorgebracht hat, oder man ist entrüstet über die kaltschnäuzige Politik und die moralische Infiltration der Untertanen und Staatsbürger. Im Guten wie im Negativen hat Preußen zur Mythenbildung beigetragen und manchmal erscheint der ganze Staat als Mythos, so viele Botschaften will man ihm aufdrücken.

Ebenso reichhaltig sind die Bilder, die man mit Preußen verbindet. Die französische Schriftstellerin Madame de Staël verglich Preußen in ihrem 1815 erschienenen Buch Über Deutschland mit einem Januskopf, der ein militärisches und ein philosophisches Gesicht hat. Sie setzt diese Janusköpfigkeit gleich mit Friedrich II., der in ihren Augen für den Charakter Preußens steht – „ein Deutscher von Natur, ein Franzose von Erziehung“. Ambivalenz und Gespaltenheit ziehen sich durch die Rezeptionsgeschichte Preußens. Die Familie Johann Wolfgang von Goethes war gespalten über die Einschätzung des Siebenjährigen Krieges und der Rolle Preußens darin. Goethe beschreibt in seinen Memoiren Dichtung und Wahrheit, wie unterschiedlich die Meinungen der einzelnen Familienmitglieder über die preußischen Siege waren. Während sein Großvater bei der Krönung von Franz I. Stephan den Krönungshimmel getragen hatte und deshalb auf österreichischer Seite stand, tendierte sein Vater, den Karl VII. zum kaiserlichen Rat ernannt hatte, auf preußischer Seite. Goethe selbst begeisterte sich für Friedrich II., so dass er schrieb: „Und so war ich denn auch preußisch oder, um richtiger zu reden, fritzisch gesinnt: denn was ging uns Preußen an?“1

Ein weiteres Bild, das häufig von Preußen gemalt wird, ist jenes des „Militär- und Beamtenstaates“. So der Titel eines zentralen Aufsatzes, den der Historiker Otto Hintze 1908 veröffentlichte. Gleich anschließen lässt sich das Bild des „Maschinenstaates“, das Preußen seit dem späten 18. Jahrhundert verfolgt. Im romantischen Konservatismus verankerte Staatstheoretiker wie der Berliner Adam von Müller oder der Dichter Ernst Moritz Arndt warfen dem preußischen König eine übersteigerte Rationalität vor, die einen Maschinenstaat habe entstehen lassen, in dem alle gewachsenen, historischen, vor allem aus dem Germanischen hergeleiteten Rechte missachtet worden seien. Die Bildungsnation und der frühe Rechtsstaat ergänzen die Bilder, die Preußen beschreiben.

Dominante Figur der preußischen Geschichte ist Friedrich II., „der Große“. Eine Persönlichkeit, die, ganz im Duktus Madame de Staëls, mit seiner Ambivalenz für die gesamte preußische Geschichte steht. Theodor Schieder gab seiner Biographie über Friedrich II. den Untertitel „Königtum der Widersprüche“. Allerdings sind viele Ambivalenzen und Widersprüche der preußischen Geschichte nicht einmal unbedingt zeitgenössisch, sondern aus der späteren Beschäftigung mit dem Land entstanden. Die Aufarbeitung preußischer Geschichte geschieht nicht selten unter einem normativen Blickwinkel, was die Widersprüchlichkeit nicht kleiner macht.

Die ganz vielfältige Art und Weise, preußische Geschichte aufzuarbeiten, aber besonders auch das häufig damit verbundene Anliegen, einen Nutzen aus ihr zu ziehen, brachten ein sehr breites Spektrum an normativen Aussagen hervor, denen preußische Vorbilder zugrunde gelegt sind. Keine Figur polarisierte so wie Friedrich II. und nur wenige Königinnen erlebte eine solch kulthafte, geradezu mythische Verehrung wie Königin Luise. Sie war über das gesamte 19. Jahrhundert Identifikationsfigur Nr. 1 der preußischen Geschichte, bis ihr Friedrich II. in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus den Rang ablief.

Preußens Geschichte ist geprägt von einer vergleichsweise recht späten Erweiterung und Konsolidierung des Landes. Mit einer augenscheinlich sehr konsequenten politischen Zielgerichtetheit wurde aus der „Streusandbüchse“ der Mark Brandenburg ein wirtschaftlich prosperierendes und europaweit anerkanntes Preußen geschaffen, das sich zum habsburgischen Kaisertum positionierte und diesem im 18. Jahrhundert massive Gegenwehr leistete. Preußens Aufstieg ist jedoch auch geprägt von der Unterstützung, die die Herrscher ins Land holten: Kolonisten, die entweder ihre Heimat aufgrund ihres Glaubens hatten verlassen müssen oder aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen woanders einen Neuanfang wagten. Die neuen Siedler taten dem Land gut; sie machten es urbar, brachten neue Ideen und sorgten somit für Offenheit und Innovation.

Vor allem die borussischen Historiker des 19. Jahrhunderts sahen den Aufstieg Brandenburg-Preußens als eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die im 17. Jahrhundert begann. Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der „Große Kurfürst“, erscheint als erste Lichtgestalt, die versuchte, auf den Trümmern des Dreißigjährigen Krieges und auf einem zersplitterten, teilweise dünn besiedelten Gebiet den Grundstein für Einheit und Stärke zu legen. Für Heinrich von Sybel beispielsweise war Friedrich Wilhelm jener Monarch, der die Macht hatte, um „den Staat erst zu gründen“. Die folgerichtige Weiterentwicklung stellten in Sybels Interpretation die Königskrone von 1701 und die innere Konsolidierung beziehungsweise die „Durcharbeitung und Vollendung in allen Theilen des innern Staatswesens“ unter dessen Enkel, dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. dar. Dessen Sohn wiederum, König Friedrich II., hatte in seinen „Denkwürdigkeiten“ den Großen Kurfürsten als den Begründer der brandenburgisch-preußischen Macht gewürdigt: Sein Urgroßvater Friedrich Wilhelm „war des Namens der Große würdig, den seine Völker und die Nachbarn ihm einstimmig verliehen haben. Der Himmel hatte ihn eigens dafür geschaffen, durch seine Tatkraft die Ordnung in einem Lande wiederherzustellen, das durch die Mißwirtschaft der vorangegangenen Regierung völlig zerrüttet war. Er wurde zum Schützer und Neubegründer seines Vaterlandes, zum Ruhm und zur Ehre seines Hauses.“2

Der Blick auf die Epochen nach dem Großen Kurfürsten lassen manchmal die frühen Jahrhunderte der „brandenburgisch-preußischen“ Geschichte verschwinden, so dass es lediglich eine „preußische“ Geschichte zu geben scheint. Theodor Fontane, kritischer Zeitgenosse, Beobachter und Darsteller preußischer Milieus des 19. Jahrhunderts, leitete den Band über das Havelland seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg 1872 mit einem Gedicht ein, das folgendermaßen schließt: „Grüß Gott Dich Tag, Du Preußen-Wiege,/Geburtstag und Ahnherr unsrer Siege,/Und Gruß Dir, wo die Wiege stand,/Geliebte Heimat, Havelland!“ Als Mark Brandenburg begann das spätere Preußen in die Geschichte einzutreten. Von den Askaniern als frühe Herrscher führte der Weg über die Wittelsbacher und die Luxemburger hin zu den Hohenzollern.

Namensgebend für das Territorium wurde ein slawischer Stamm im Nordosten, die Prussen, die der Deutsche Orden christianisierte. Der letzte Hochmeister des Ordens, Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach, säkularisierte den Ordensstaat unter dem Einfluss Martin Luthers, verzichtete auf die Hochmeisterwürde und leistete dem polnischen König Sigismund I. 1525 in Krakau den Huldigungseid. Somit stand das Gebiet seit 1525 unter polnischer Lehenshoheit und der Ordensstaat wurde in ein weltliches Herzogtum umgewandelt. Als 1618 der letzte fränkische Hohenzoller, Albrecht Friedrich von Preußen, stirbt, fällt das Lehen des Herzogtums Preußen als Erbschaft an Brandenburg. 1657 erhalten die Hohenzollern als Kurfürsten von Brandenburg dann mit dem Vertrag von Wehlau die volle Souveränität über das Herzogtum Preußen; ein Schritt, der die Krönung „in Preußen“ 1701 möglich machte. Die Souveränität des Kurfürsten von Brandenburg wurde vom polnischen König anerkannt und 1660 im Frieden von Oliva bestätigt. Königlich Preußen kommt erst 1772, mit der 1. Teilung Polens, vollständig an Preußen, das ab diesem Zeitpunkt über eine geschlossene Ländermasse an der Ostsee verfügt. 1871 wird Preußen führende Macht im neu gegründeten Deutschen Reich. Der Niedergang vollzieht sich von der Abdankung Kaiser Wilhelms II. 1918 bis zur Auflösung Preußens durch den Alliierten Kontrollrat 1947.

Was blieb von Preußen? Vorbildhafte Tugenden oder spießbürgerlicher Untertanengeist? Bescheidenheit oder rücksichtsloser Expansionsdrang? Es geht beim Thema „Mythos Preußen“ nicht um ein bloßes Infragestellen von Identitäten oder den Einsturz vermeintlich festgefügter Denkmäler, die eine lange Zeit Fundament historischer Erinnerung waren. Es geht um einen unaufgeregten Umgang mit der preußischen Geschichte und es geht vielleicht auch darum, Komplexe loszuwerden, die gerade in Deutschland im Hinblick auf Preußen entstanden sind. Besonders gut lassen sich diese lösen, wenn man versucht, Preußen so umfassend wie möglich zu kontextualisieren und in Vergleich zu anderen Territorien und Staaten zu bringen.

Nach 1945 tat sich die Geschichtswissenschaft zunächst schwer mit der Aufarbeitung der preußischen Geschichte. „En vogue“ war das Thema nicht gerade. 1968 schrieb der Publizist Burghard Freudenfeld, Preußen sei wie ein „lebender Leichnam“, gekennzeichnet durch „Modergeruch und Wehmut, Trotz und manche stille Mahnung“.3 Erst in den 1980er-Jahren begann sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR eine erneute intensivere Auseinandersetzung mit der preußischen Geschichte. Anlass bot der 200. Todestag Friedrichs II. im Jahr 1986. Das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zeigte eine Ausstellung, ebenso wie die DDR im Neuen Palais. Der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker hielt eine viel beachtete Rede, die sich der Ambivalenz Friedrichs II. widmete. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde das Thema Preußen dann richtig salonfähig, bis hin zu dem Vorschlag, ein fusioniertes Bundesland Berlin-Brandenburg wieder „Preußen“ zu nennen, was 1996 jedoch per Volksentscheid abgelehnt wurde. Nahrung erhielten die Diskussionen noch einmal im Jahr 2001, als des 200-jährigen Jubiläums der Königskrönung gedacht wurde, was jedoch „Preußen“ als Bundesland ebenfalls nicht wieder auferstehen ließ.

Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über Preußen

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