Читать книгу In der Waldklause - Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahre und darüber - Augustin Wibbelt - Страница 12

Mein Patenkindchen

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Was man doch nicht alles erleben kann, sogar mitten im einsamen Walde! Ihr wisst, die letzten Tage war kaltes Wetter eingefallen, und es fror Stein und Bein. Nun, mir hat es nichts getan. Ich habe einen tüchtigen Eichenklotz ans Feuer gelegt und habe es draußen stürmen und schneien lassen nach Herzenslust. Gestern Mittag hatte es sich etwas aufgehellt, und ich hatte einen kurzen Gang gemacht durch das Tannicht, um zu sehen, ob die Meisen noch Hanfsamen in ihrer Vogelglocke haben. Es ist eine richtige Berlepsche Vogelglocke von rundem Glas, in das man Hanfsamen schüttet. Der Samen bleibt schön trocken und fällt langsam durch die untere Öffnung in ein Schälchen, das darunter befestigt ist.

Dann kommen die kleinen Meisen und klammern sich mit ihren geschickten Zehen an das Schälchen und knuspern den fetten Samen. Oh, das tut ihnen so gut in der Winterkälte! Ihr könntet auch eine solche Meisenglocke aufhängen in eurem Garten. Meine Glocke war noch halbvoll, und Herr Meis und Frau Meise haben sich bereits bestens bedankt.

Als ich heimging, kratzte ich mir ein Flöckchen Moos von dem alten, grauen Stein, der neben der Klause liegt. Ich nahm es mit herein und legte es auf den Tisch. Dann holte ich ein dickes, gelehrtes Buch, um den Namen der Moospflänzchen nachzuschlagen. Sie sind nicht leicht zu bestimmen, und gerade die kleinsten Pflänzchen haben die längsten Namen, in die man sie wohl zehnmal einwickeln könnte. Als ich das Moos nun auseinanderzerrte, hörte ich ein ganz leises, feines Stimmchen; ich bin nämlich sehr scharfhörig.

Es rief: »Nun drück mir doch mein armes Bäuchlein nicht platt!« Ich war sehr verwundert, denn ich sah nichts, so genau ich auch durch meine Brille hinschaute. »Wer bist du denn?«, fragte ich.

Da sagte das Ding: »Was? Kennst du mich nicht? Ich bin doch dein Patenkindchen.«

»Ei«, sagte ich, »wie heißt du denn?«

Die Antwort kam ganz feierlich heraus: »Ich heiße Hypsidius Wibbelti.«

Da fiel es mir ein. Es war früher einmal ein ganz gelehrter Pater bei mir gewesen, der immer auf der Jagd ist nach den winzig kleinen Moostierchen. Er kennt sie alle mit Namen, diejenigen ausgenommen, die noch gar keine Namen haben, weil noch kein Mensch sie entdeckt hat. So hat er auch in dem Moose an meiner Kirchenmauer ein unbekanntes Moostierchen gefunden. Weil er ein sehr höflicher Mann ist, hat er mir die Ehre angetan, es nach mir zu taufen. Gesehen hatte ich dies Patenkindchen noch nie, es ist auch nur ein Fünftel von einem Millimeter lang.

»Bist du denn das kleine Krüperchen«, so fragte ich, »das der gute Pater Gilbert entdeckt hat?«

Da wurde das kleine Ding patzig und murrte: »Pater Gilbert hat mich allerdings aufgefunden, aber ein Krüperchen bin ich nicht, wenn ich auch nicht so ein ungeschlachter Riese bin wie du.«

»Wir wollen uns nicht zanken, liebes Patenkindchen«, sagte ich, »aber ich möchte dich gern einmal sehen. Wo bist du denn?«

»Hier«, piepte es ganz fein, »mach deine großen Glotzaugen doch besser auf!«

Da kam die gute Frau Eule mir zu Hilfe. Sie lieh mir ihre grüne Bille, und als ich sie über meine eigene setzte, da sah ich wirklich den klitzekleinen Hypsidius Wibbelti. Ach, du lieber Himmel, wie winzig klein war er doch! Er hatte ein walzenförmiges Körperchen von brauner Farbe, bedeckt mit kleinen Warzen. An den sechs kurzen Beinen sah ich je zwei Krallen. Fünf Gürtel wie kleine Tonnenbänder hatte er sich um den Leib geschlungen. Schön war er gerade nicht, aber das habe ich dem kleinen Ding nicht gesagt, um es nicht verdrießlich zu machen. Auch die allerkleinsten Moostierchen sind ein bisschen eitel, gerade wie kleine Mädchen. Als ich mit dem Finger das Moos glattstrich, fing es an zu schreien: »Nimm doch den dicken Baumstamm weg! Oder willst du mich umbringen?«

Ich sagte: »Das ist kein Baumstamm, das ist mein Zeigefinger.«

»Einerlei«, piepte es, »nimm das wüste Ungetüm weg!«

Ich war nun ganz behutsam und fragte: »Warum hast du mich noch gar nicht besucht? Wohnst doch so nahe vor meiner Klause!«

Da murrte es: »Ich habe dich schon dreimal angerufen, als du vorbeigingst; aber du hast mich nicht gehört! Ihr habt so grobe Ohren!«

Ich sagte: »Nun sei artig, kleiner Hypsidius Wibbelti! Und dann sag‘ mal, ist es dir draußen nicht zu kalt?«

Da lachte er laut auf: »Hier in deiner Klause ist es freilich schön warm. Das gefällt mir wohl besser. Aber das bisschen Frost macht mir gar nichts. Ich ziehe mich zusammen und schlafe. Dem Pater Gilbert bin ich aber böse. Er hat mich einmal in 150 Grad unter null gebracht, und dabei ist mir eine Zehe erfroren am rechten Vorderfuße. Ich bin aber doch lebendig geblieben.«

Ich wunderte mich über diese Zähigkeit und sagte: »Wie kannst du dann die Sommerhitze aushalten, wenn die grelle Sonne auf deinen Stein prellt?«

Da lachte es wieder: »Oh, das tut mir auch nichts. Ich werde staubtrocken und schlafe wieder, bis ein Regen fällt und mich anfeuchtet. Dann werde ich wieder wach und strecke mein Beinchen.«

»Na«, sagte ich, »wenn wir das auch so könnten, dann könnten wir viel Holz und Kleider sparen und Essen dazu.«

»Ihr könnt auch nichts vertragen«, sagte der kleine Wicht verächtlich.

»Was isst du denn?«, fragte ich.

»Ich esse den süßen grünen Brei in den Moospflänzchen. Oh, der schmeckt lecker! Willst du ihn mal probieren?«

Ich bedankte mich und sagte, ich hätte schon gefrühstückt und augenblicklich gar keinen Appetit.

»Dann bringe mich wieder auf meinen Stein zurück«, sagte der Hypsidius, und ich tat ihm seinen Willen.

Ihr müsst das Tierchen aber nicht stören, liebe Kinder! Es schläft jetzt wieder.

In der Waldklause - Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahre und darüber

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