Читать книгу In der Waldklause - Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahre und darüber - Augustin Wibbelt - Страница 16
Die Entdeckung
ОглавлениеEs geht etwas vor im Walde. Wir werden etwas erleben, große Dinge bereiten sich vor. Riecht ihr nichts? Schnüffelt nur einmal mit eurem Näschen in den Wind, dann werdet ihr bald merken, dass ein wunderbarer süßer Duft ganz leicht und leise durch die Luft kommt. Ich habe eine herrliche Entdeckung gemacht. Soll ich es euch verraten? Der junge Herr Frühling ist unterwegs.
Die letzten Tage ging ein gewaltiger Sturm durch den Wald. Er hat die alten Eichen mit ihren strubbeligen Köpfen zusammengestoßen, dass sie laut aufheulten und mit allen Armen um sich schlugen. Meine Waldquelle war auch wie verrückt. Sie sprang in wilden Sätzen zu Tal und zischte und schäumte wie nichts Gutes. Und ist doch sonst so zahm und manierlich.
Als ich einen Augenblick aus meiner Klause trat, hätte der Sturm mich bald umgeworfen. So ungestüm stieß er mich in den Rücken. Ich musste zuerst lachen, denn ich sah zwei Krähen kopfüber, kopfunter über die kahlen Wipfel flattern, indem sie einander zuriefen: »Frau Base, welch ein Wetter, krahkrah! Eine Haube hängt ganz schief auf dem Kopfe!«
Zuletzt wurde ich böse, und da habe ich den Sturm tüchtig ausgeschimpft. Der lachte oben in den Wipfeln, dass es rollte wie Donner und schrie: »Freu dich, alter Waldbruder! Es kommt bessere Zeit; mein Herr, der Frühling, zieht ein!«
Ich sagte: »Es ist merkwürdig, dass feine Herren oft so unfeine Diener haben.«
Da gab er mir einen Stoß, dass ich in meine Klause taumelte und mit Mühe die Tür zurammelte.
Die Nacht war schrecklich. Ich habe einen Rosenkranz extra gebetet, damit mir meine gute Waldklause nicht umgeworfen werde. Es ging immerfort Hoiho, Hoiho, gerade wie die Wilde Jagd. Am Morgen wurde es still. Als ich mein Fensterchen losmachte und hinauslugte, saß der Zaunkönig auf einem Ast und strich sich die zerzausten Federn glatt.
»Guten Morgen, Waldbruder«, rief er mir zu, »weißt du es schon, dass der Frühling kommt?« Dann stellte er sein keckes Schwänzchen steil in die Höhe und schlug einen Triller.
»Ich kann es so recht noch nicht glauben«, antwortete ich.
Er machte eine zierliche Verbeugung, denn er ist ein höflicher Mann, und sagte: »Geh mal hinaus auf die Lichtung, wo die Haseln stehen; dann wirst du es schon glauben.«
Ich zog meine dicken Nagelschuhe an, denn der Weg war aufgeweicht und voller Pfützen. Dann nahm ich meinen Knotenstock, denn glitschig war es auch, und stapfte durch den Morgennebel zu der Lichtung. Da hat man vor zwei Jahren die alten Buchen gefällt, und nun haben die Nusssträucher sich tüchtig in die Höhe gereckt. Wie ich so durch den Wald patsche, höre ich ein tausendstimmiges Summen und Singen. Erst meinte ich, es sei einen Bienenschwarm, aber wo sollte der herkommen um diese Zeit? Ich horche genauer hin, und da sind es ganz feine, feine Stimmchen, und sie kommen aus den Knospen am Gesträuch. Bei den Eichen war es noch ganz still, aber bei den Erlen und Birken und Buchen ging es lebhaft zu.
Bald verstand ich auch einzelne Worte: »Ich will hinaus, ich will hinaus – es ist mir hier zu enge – ich platze vor Ungeduld – lass los, du dumme Hülle!«
Da merkte ich, dass der Sturm die Knospen aus dem Winterschlafe geweckt hatte und dass sie ans Licht drängten. Das freute mich recht von Herzen, aber helfen konnte ich ihnen nicht.
Ich sagte: »Ihr müsst allein fertigwerden«, und ging weiter. Als ich nun zu den Haseln kam, da machte ich unwillkürlich einen Hopser vor lauter Pläsier. Hingen da an den Zweigen lange, schlanke Kätzchen und schaukelten im Winde und streuten feinen, wehenden Goldstaub umher. Wie ich genauer zusehe, sitzen auch die roten Härchen auf den Knospen, wie zarte Federbüschlein. Ihr kennt sie sicher. Ich war froh wie ein König und faltete die Hände, um dem lieben Gott zu danken, dass er nun wirklich den Frühling schicken wolle. »Guck! Guck!«, rief es da vom nächsten Baum, und Frau Eichhorn schaute listig und lustig hinter dem Stamme hervor.
»Freust dich wohl, alter Waldbruder! Ja, das gibt Nüsse für nächsten Herbst, ich will aber meinen Teil mithaben.«
»Ich auch, ich auch! Hähähä!«, schrie der Häher und schoss quer über die Lichtung, dass die blauen Schwungfedern in der Sonne aufleuchteten. Seht, liebe Kinder, es ist gar kein Zweifel mehr. Der Frühling ist unterwegs, und wenn er kommt, gibt es eine große Revolution, aber eine schöne und lustige! Mich soll bloß wundern, was der alte Winter macht. Tot ist er noch nicht, aber steinalt, und wahrscheinlich schläft er irgendwo in einem dunklen Winkel. Wenn er merkt, dass der junge Frühling nach seiner Krone greift, dann wird er wütend, und wir können noch etwas erleben. Ich weiß es von früheren Jahren her, wie er dann mit Schnee und Hagel und kaltem Wind angestoben kommt und den ersten vorwitzigen Blumen die zarten Hälse umdreht. Aber er hat kurzen Atem und hält es nicht lange aus. Der junge Frühling ist ganz artig gegen ihn. Er macht es nicht wie so viele naseweise junge Leute, die grob und unmanierlich sind gegen die Alten.
Der liebe Herr Frühling tritt sachte zurück, wenn der zornige Winter daher poltert, und lässt ihn ruhig schimpfen. Dann kommt er leise lächelnd näher und streichelt den Alten mit seiner weichen, warmen Hand über den Rücken und summt ihm ein Liedchen ins Ohr. Es wird dem Winter so schwül, dass er den dicken Pelz lüften muss. Er brummt und knurrt dazu, aber er wird schon ruhiger. Bald kann er die buschigen Augen vor lauter Schlaf nicht mehr offenhalten, und die Knie werden ihm müde. Der Frühling fasst ihn unter die Arme, redet ihm zu und führt ihn beiseite in die dunkelste Höhle.
»Na, na«, sagte der alte Winter dann, »ich muss ein bisschen schlafen. Da, bewahre mir solange meine Krone.«
Und dann ist Herr Frühling König und regiert. So geht das.