Читать книгу In der Waldklause - Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahre und darüber - Augustin Wibbelt - Страница 17
Verdruss
ОглавлениеIch habe eine kleine Aufmunterung nötig. Es scheint nicht immer die Sonne, draußen nicht und im Menschenherzen auch nicht. Aufrichtig gesagt, bin ich die letzten Tage etwas trübselig geworden. Ich weiß nicht, ob mir eine Erkältung im Leibe steckt. Allerlei Verdrießlichkeiten habe ich auch gehabt.
So habe ich mich mit Frau Eule ganz überworfen, und sie ist ausgezogen aus meiner Waldklause. Das heißt, eigentlich habe ich sie hinausgeworfen. Es war aber auch zu arg mit ihr. Denkt euch, sie hat eins von meinen weißen Mäuslein aufgefressen mit Haut und Haar, und nun sind die anderen traurig und furchtsam und wollen nicht mehr Komödie spielen. Und dann wollte sie über mein Rotkehlchen her, das jeden Tag in meine Klause kommt und sich Brotkrümchen holt. Es wohnt draußen in einem Astloche über der Tür, denn in der Klause zu wohnen getraute es sich nicht aus Furcht vor Frau Eule. Sie wollte es auch richtig fangen, hat es aber nicht bekommen, denn der Zaunkönig schlug rechtzeitig Lärm. Da habe ich die böse Eule beim Schlafittich genommen und vor die Tür geworfen. Mag sie sehen, wo sie ein Unterkommen findet. Zum Abschied riss sie mir einen Fetzen Haut vom Daumen.
Der zweite Verdruss war noch ärger. Mir war es schon einige Male aufgefallen, dass meine Vorratskammer neben dem Herd sich so schnell leerte. Es war gerade, als wenn das Brot sich selbst verzehrte, und die Äpfel und Nüsse schmolzen wie Schnee in der Sonne. Nur die Kartoffeln hielten sich. Die süßen gelben Möhren aber schienen heimlich davonzulaufen.
Gestern habe ich eine genaue Untersuchung angestellt und ein Loch entdeckt in der Wand meiner Klause. Aha, dachte ich, da geht der Dieb ein und aus! Ich hing eine Schlinge vor das Loch, und als es eben dunkel geworden war, hörte ich es quäken und schreien. Ein fetter Hamster saß in der Schlinge. Ich war so böse, dass ich ihn erst totschlagen wollte, aber ich brachte es nicht übers Herz. Da hättet ihr hören sollen, wie er bat und bettelte! Er sagte, er hätte bloß nachsehen wollen, ob meine Äpfel auch faul würden. Da habe ich ihm eine strenge Strafpredigt gehalten.
»Du bist ein Dieb und Lügner«, habe ich ihm gesagt, »und es ist ganz in der Ordnung, dass die Menschen das Wort ›Hamster‹ als Schimpfwort gebrauchen. Schämst du dich nicht, einem armen Waldbruder das Wenige zu stehlen? Du bist viel fetter als ich und hast deinen Bau sicher ganz voll von guten Sachen.«
Er sagte, er wolle mir alles wiederbringen, und weinte dicke Tränen. Ich glaubte nicht, dass seine Reue ganz echt war, aber ich habe ihn doch mit einem tüchtigen Klaps laufenlassen. Er war sehr eilig und guckte sich gar nicht mehr um. Das Loch habe ich zugemacht. Seht, so hat man auch im Walde allerlei Ärger, und Frau Elster hat mir prophezeit, ich würde noch mehr Verdruss haben. Nun, ein bisschen Kreuz gehört zum Leben, denn wenn es uns immer gut geht, dann werden wir mutwillig. Ich freue mich, dass ihr gekommen seid. Jetzt wollen wir erst ein Lied zusammen singen; es geht nach der Melodie »Ein Männlein steht im Walde« – also eins, zwei, drei – los!
Wenn dich die Grillen plagen!
So sing’ ein Lied!
Soll sehn, der dumme Ärger
Sich schnell verzieht.
Singen ist wie Medizin,
All die bösen Sorgen flieh‘n,
Und die graue Welt wird wieder grün.
So, das haben wir gut gemacht. Wenn ihr aus Sachsen kommt, liebe Kinder, dann reimt es sich ganz gut; denn in Sachsen sagt man statt »grün« immer »grien«.
Jetzt will ich euch meine Schneeglöckchen zeigen, sie stehen in meinem Gärtchen in voller Blüte. Dass ihr sie mir aber nicht abpflückt! Des Abends, wenn es dunkel wird, läuten sie wunderfein, und ich kann so gut dabei einschlafen. Wisst ihr noch, warum das Schneeglöckchen so früh kommen darf und den kalten Schnee gar nicht zu fürchten braucht? Großmutter Märchen hat es mir erzählt. Also passt auf!
Als der liebe Gott alle Dinge erschaffen hat, da hat er zuletzt den Schnee gemacht, und da war ihm die Farbe ausgegangen. Es war kein Tröpflein mehr in allen Farbtöpfen.
Da sagte der liebe Gott: »Mein guter Schnee, ich habe keine Farbe mehr, du musst sie dir erbetteln bei den Blumen, denn die haben Überfluss.«
Der Schnee war sehr betrübt, denn es ist genierlich, wenn man keine Farbe hat; die Leute können einen gar nicht recht sehen und haben keinen Respekt vor einem. Da ging der Schnee zur Rose, denn er dachte, Purpur sei die allerschönste Farbe. Aber die Rose ist sehr vornehm; sie tat, als wenn sie seine Bitte gar nicht einmal hörte.
Da ging der Schnee zum Löwenzahn, denn das goldene Gelb gefiel ihm auch nicht übel. Der Löwenzahn ist ein grober Patron, er schrie: »Scher dich weg, von mir kriegst du nichts.«
Da ging der Schnee zum Veilchen und bettelte: »Gib mir doch etwas blaue Farbe!« »Ich täte es ja gern«, sagte das Veilchen, »aber ich habe so wenig; sieh, mein Kleidchen ist kurz, ich kann nichts abgeben.«
Da wurde der arme Schnee so traurig, dass er anfangen wollte zu weinen. Aber es fiel ihm zur rechten Zeit ein, dass er dann leicht schmelzen könnte. Darum ließ er das Weinen sein und seufzte bloß aus Herzensgrund.
»Wer seufzt da so erbärmlich?«, fragte das Schneeglöckchen, das fein und zierlich auf dem Rasen stand in seinem weißen Hemdlein. »Ich höre etwas und sehe nichts. Was ist das?«
Da klagte der Schnee: »Ach, liebes Kind, ich bin der Schnee und habe noch gar keine Farbe. Alle Blumen haben mich abgewiesen. Aber warte, wenn ich sie erwische, dann sollen sie alle erfrieren.«
»Nun sei nicht gleich so böse«, sagte Schneeglöckchen, »meine Farbe ist nur ganz einfach weiß; aber wenn sie dir passt, will ich dir gern etwas mitgeben.«
Seht, so ist der Schnee weiß geworden, und aus Dankbarkeit tut er dem Schneeglöckchen nichts zuleide.