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46. Vortrag

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Einleitung.

Sechsundvierzigster Vortrag.

Von da an, wo es heißt: „Ich bin der gute Hirt“ usw., bis dahin: „Der Mietling aber flieht, weil er ein Mietling ist, und er sich um die Schafe nicht kümmert“. Joh. 10, 11―13.

1.

Als der Herr Jesus zu seinen Schafen redete, sowohl zu den gegenwärtigen als zu den zukünftigen, die damals auch schon zugegen waren ― weil da, wo bereits Schafe von ihm waren, auch solche waren, die seine Schafe erst werden sollten ―, desgleichen zu den gegenwärtigen und zukünftigen, zu jenen und zu uns, und so viele auch nach uns seine Schafe sein werden, da zeigte er, wer zu ihnen gesandt sei. Alle also hören die Stimme ihres Hirten, wie er spricht: „Ich bin der gute Hirte“. Er würde nicht beifügen „gut“, wenn es nicht schlechte Hirten gäbe. Aber die schlechten Hirten, das sind Diebe und Räuber, oder wenigstens, wie oftmals, Mietlinge. Alle diese Personen, die er hier vorgeführt hat, müssen wir erforschen, unterscheiden, kennen lernen. Zwei Dinge hat der Herr schon ans Licht gezogen, die er gewissermaßen verschlossen vorgelegt hatte; schon wissen wir, daß die Türe er selbst ist, wir wissen, daß auch der Hirt er selbst ist. Wer die Diebe und Räuber sind, ist in der gestrigen Lesung offenbar geworden; heute aber haben wir vom Mietling gehört, wir haben auch vom Wolfe gehört; gestern ist auch der Türhüter genannt worden. Zu den guten Dingen also gehört die Türe, der Türhüter, der Hirt und die Schafe; zu den schlimmen gehören die Diebe und Räuber, die Mietlinge, der Wolf.

2.

Unter der Türe verstehen wir Christus den Herrn, unter dem Hirten ebenfalls ihn; wen aber unter dem Türhüter? Die ersteren zwei hat er uns nämlich selbst erklärt, den Türhüter überließ er uns zu suchen. Und was sagt er vom Türhüter? „Diesem“, sagt er, „öffnet der Türhüter“. Wem öffnet er? Dem Hirten. Was öffnet er dem Hirten? Die Türe. Und wer ist die Türe? Der Hirt selbst. Wenn Christus der Herr nicht selbst erklärt, nicht selbst gesagt hätte: „Ich bin der Hirt“, und: „Ich bin die Türe“, würde dann wohl einer von uns zu sagen sich getrauen, daß Christus selbst sowohl der Hirt wie die Türe ist? Wenn er nämlich sagen würde: „Ich bin der Hirt“, und nicht sagen würde: „Ich bin die Türe“, so müßten wir wohl zu erforschen suchen, wer die Türe sei, und würden vielleicht, etwas anderes meinend, vor der Türe stehen bleiben. Seine Gnade und Barmherzigkeit hat uns erklärt, wer der Hirte sei, er hat sich selbst damit gemeint; er hat auch erklärt, wer die Türe sei, er hat sich damit wieder selbst gemeint; dem Türsteher nachzuforschen, hat er uns überlassen. Wen werden wir als den Türhüter erklären? Wen immer wir finden mögen, wir müssen uns hüten, ihn für größer zu halten als die Türe, weil der Türhüter in den Häusern der Menschen größer ist als die Türe. Denn der Türhüter wird der Türe, nicht die Türe dem Türhüter vorgezogen, weil der Türhüter die Türe, nicht die Türe den Türhüter bewacht. Ich wage nicht, jemand größer zu nennen als die Türe, denn ich habe bereits gehört, was die Türe ist, es ist mir nicht unbekannt, ich bin nicht auf meine eigene Vermutung angewiesen, es ist mir kein menschliches Meinen gestattet: Gott hat es gesagt, die Wahrheit hat es gesagt, es läßt sich nicht ändern, was der Unveränderliche gesagt hat.

3.

Ich werde also betreffs dieser tiefgründigen Frage sagen, was mir richtig scheint; wähle jeder, was ihm gefällt, er möge jedoch ehrerbietig urteilen, wie geschrieben steht: „Denket von Gott in Güte, und in der Einfalt des Herzens suchet ihn“1289. Vielleicht müssen wir unter dem Türhüter den Herrn selbst verstehen. Es besteht nämlich in den menschlichen Verhältnissen ein größerer Unterschied zwischen dem Hirten und der Türe als zwischen dem Türhüter und der Türe, und doch hat sich der Herr sowohl Hirt wie Türe genannt. Warum sollen wir ihn also nicht auch als Türhüter verstehen? In der eigentlichen Bedeutung ist nämlich Christus der Herr weder ein Hirt, wie wir gewöhnlich Hirten kennen und sehen, noch auch eine Türe, denn es hat ihn kein Handwerker gemacht; im bildlichen Sinne aber ist er sowohl Türe wie Hirt; ja ich wage zu sagen, auch Schaf ist er; das Schaf ist nämlich sonst unter dem Hirten, dennoch ist er sowohl Hirt wie Schaf. Wo ist er Hirt? Siehe, hier die Stelle, lies das Evangelium: „Ich bin der gute Hirt“. Wo ist er Schaf? Frage den Propheten. „Wie ein Schaf ist er zur Schlachtung geführt worden“1290. Frage den Freund des Bräutigams: „Siehe das Lamm Gottes, siehe, das da hinwegnimmt die Sünde der Welt“1291. Noch etwas Wunderbareres möchte ich hinsichtlich des bildlichen Sinnes sagen. Das Lamm nämlich, das Schaf und der Hirt sind unter sich befreundet, gegen die Löwen aber pflegen die Hirten die Schafe zu schützen, und doch lesen wir, wie von Christus, obgleich er Schaf und Hirt ist, gesagt wird: „Der Löwe aus dem Stamme Juda hat gesiegt“1292. Dies alles, Brüder, verstehet im bildlichen, nicht im eigentlichen Sinne. Wir sehen häufig die Hirten auf einem Felsen sitzen und von da die ihnen anvertrauten Herden bewachen; gewiß ist der Hirt mehr als der Fels, auf welchem der Hirt sitzt, und doch ist Christus sowohl Hirt wie Fels. Dies alles im bildlichen Sinne. Wenn du mich aber nach dem eigentlichen Sinne fragst: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“1293. Wenn du mich nach dem eigentlichen Sinne fragst, so ist der eingeborene Sohn, vom Vater in Ewigkeit von Ewigkeit erzeugt, gleich dem Erzeuger, durch den alles gemacht ist, zugleich mit dem Vater unveränderlich und durch die Annahme der menschlichen Gestalt nicht verändert, infolge der Menschwerdung Mensch, Sohn des Menschen und Sohn Gottes. All dies, was ich gesagt habe, ist nicht Bild, sondern Wirklichkeit.

4.

Wir dürfen also, Brüder, kein Bedenken tragen, ihn nach gewissen Ähnlichkeiten als Türe und als Türsteher zu nehmen. Denn was ist die Türe? Die Stelle, wo wir eintreten. Wer ist der Türsteher? Der öffnet. Wer also eröffnet sich, außer wer sich selbst auslegt? Siehe, der Herr hatte die Türe genannt, wir hatten es nicht verstanden; als wir es nicht verstanden, war es verschlossen; der aufgeschlossen hat, ist der Türhüter. Es liegt also keine Notwendigkeit vor, etwas anderes zu suchen, keine Notwendigkeit, aber vielleicht ist die Geneigtheit dazu da. Wenn die Geneigtheit dazu vorhanden ist, so weiche nicht vom rechten Wege ab, trenne dich nicht von der Trinität. Wenn du eine andere Person für den Türhüter begehrst, so möchte dir wohl der Heilige Geist in den Sinn kommen; denn der Heilige Geist wird es nicht verschmähen, der Türhüter zu sein, da der Sohn sich gewürdigt hat, die Türe zu sein. Betrachte als Türhüter den Heiligen Geist; sagt ja der Herr selbst zu seinen Jüngern vom Heiligen Geiste: „Er wird euch alle Wahrheit lehren“1294. Was ist die Türe? Christus. Was ist Christus? Die Wahrheit. Wer öffnet die Türe, als eben der, welcher alle Wahrheit lehrt?

5.

Was sagen wir aber vom Mietling? Nicht unter den guten Dingen ist dieser erwähnt worden. „Der gute Hirt“, sagt er, „gibt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber und der nicht Hirt ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht; und der Wolf raubt und zerstreut die Schafe.“ Der Mietling spielt hier keine gute Rolle, und doch ist er einigermaßen noch dienlich, er würde auch nicht Mietling genannt werden, wenn er von dem Mietenden keinen Lohn bekäme. Wer ist also jener Mietling, der sowohl schuldbar ist wie notwendig? Hier aber, Brüder, leuchte uns der Herr selbst, damit wir einerseits die Mietlinge erkennen, anderseits nicht selbst Mietlinge seien. Wer ist also ein Mietling? Es gibt in der Kirche gewisse Vorgesetzte, von welchen der Apostel Paulus sagt: „Sie suchen das Ihrige und nicht das, was Jesu Christi ist“1295. Was heißt: „Sie suchen das Ihrige“? Sie lieben Christus nicht selbstlos, suchen Gott nicht wegen Gott, streben nach zeitlichen Vorteilen, gehen auf Gewinn aus, haschen nach Ehren bei den Menschen. Wenn von einem Vorgesetzten diese Dinge geliebt werden und ihretwegen Gott gedient wird, ein solcher ist, wer immer er sein mag, ein Mietling, unter die Söhne soll er sich nicht rechnen. Denn von solchen sagt der Herr: „Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn empfangen“1296. Höre, was der Apostel Paulus von dem heiligen Timotheus sagt: „Ich hoffe aber im Herrn Jesu, euch bald den Timotheus zu senden, damit auch ich guten Mutes sei, wenn ich erfahre, wie es um euch steht; denn ich habe keinen, der einer Gesinnung mit mir ist und der so brüderlich für euch Sorge trägt. Denn alle suchen das Ihrige, und nicht das, was Jesu Christi ist“1297. Unter den Mietlingen seufzte der Hirt; er suchte einen, der die Herde Christi aufrichtig liebte, und fand in seiner Umgebung unter denjenigen, die zu jener Zeit bei ihm gewesen waren, keinen. Denn es war zwar damals in der Kirche Christi außer dem Apostel Paulus und Timotheus nicht etwa keiner, der brüderlich für die Herde besorgt gewesen wäre, vielmehr hatte er gerade zu der Zeit, als er den Timotheus sandte, keinen andern von den Söhnen bei sich, sondern es waren bloß Mietlinge bei ihm, „die das Ihrige suchten, nicht das, was Jesu Christi ist“. Und doch wollte er, in seiner brüderlichen Besorgnis um die Herde, lieber den Sohn senden und unter den Mietlingen bleiben. Auch wir gewahren Mietlinge; nur der Herr prüft sie; der ins Herz sieht, prüft sie; doch bisweilen werden sie von uns erkannt. Denn nicht umsonst hat der Herr selbst auch von den Wölfen gesagt: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“1298. Viele werden durch die Versuchungen auf die Probe gestellt, und dann kommen die Gedanken zum Vorschein, viele aber bleiben verborgen. Mag der Schafstall des Herrn zu Vorgesetzten sowohl Söhne wie Mietlinge haben1299. Die Vorgesetzten aber, die Söhne sind, sind Hirten. Wenn sie Hirten sind, wie ist dann doch nur* ein* Hirt, als weil sie alle Glieder des* einen* Hirten sind, dem die Schafe gehören? Denn sie sind auch Glieder desselben* einen* Schafes, weil er „wie ein Schaf zur Schlachtung geführt wurde“.

6.

Vernehmet aber, daß auch die Mietlinge notwendig sind. Viele nämlich, die in der Kirche zeitliche Vorteile suchen, predigen dennoch Christus und durch sie wird die Stimme Christi gehört, und es folgen die Schafe, nicht dem Mietling, sondern der Stimme des Hirten durch den Mietling. Höret, wie der Herr selbst die Mietlinge zeichnet: „Die Schriftgelehrten“, sagt er, „und Pharisäer sitzen auf dem Stuhle Mosis; was sie sagen, tut; was sie aber tun, tut nicht“1300. Was anders habe ich gesagt als: Durch die Mietlinge höret die Stimme des Hirten? Sitzend nämlich auf dem Stuhle Mosis, lehren sie das Gesetz Gottes, also lehrt Gott durch sie. Sollten sie aber das Ihrige lehren wollen, so höret nicht darauf, tut es nicht. Denn gewiß solche suchen das Ihrige, nicht das, was Jesu Christi ist; kein Mietling jedoch hat es gewagt, dem Volke Christi zu sagen: Suche das Deinige, nicht das, was Jesu Christi ist! Denn was er Böses tut, das predigt er nicht vom Lehrstuhle Christi; da fügt er Schaden zu, wo er Böses tut, nicht wo er Gutes sagt. Pflücke die Trauben, meide den Dorn! Gut, daß ihr es verstanden habt; aber wegen der Langsameren will ich dasselbe noch deutlicher sagen. Wie konnte ich sagen: Pflücket die Trauben, meide den Dorn, da doch der Herr sagt: „Sammelt man etwa von den Dornen die Traube oder von den Disteln die Feige?“1301. Wahr ist das auf jeden Fall, und doch habe auch ich wahr gesprochen: Pflücke die Traube, meide den Dorn, weil bisweilen die aus der Wurzel des Weinstockes hervorkommende Traube an einem Dorngehege hängt, es wächst der Rebzweig, verflicht sich mit den Dornen, und der Dorn trägt eine Frucht, welche nicht die seinige ist. Denn nicht wird der Dorn vom Rebzweig getragen, sondern der Rebzweig hat sich auf die Dornen gelegt. Befrage nur die Wurzeln; suche die Wurzel des Dornes, du findest sie außerhalb des Weinstockes; suche die Herkunft der Traube, der Weinstock hat sie aus seiner Wurzel hervorgebracht. Der Stuhl Mosis also war der Weinstock, die Sitten der Pharisäer waren die Dornen; die wahre Lehre, vorgetragen durch Schlechte, ist ein Rebzweig am Dorngehege, eine Traube zwischen den Dornen. Du mußt vorsichtig lesen, damit du nicht, wenn du eine Frucht suchst, die Hand verletzest, und wenn du einen hörst, der Gutes lehrt, nicht nachahmest, was er Böses tut. „Was sie sagen, tut“, leset die Trauben; „was sie aber tun, tut nicht“, meidet die Dornen. Höret auch durch die Mietlinge die Stimme des Hirten, aber seid keine Mietlinge, da ihr ja Glieder des Hirten seid. Derselbe heilige Apostel Paulus aber, der gesagt hat: „Ich habe keinen, der brüderlich für euch besorgt wäre; denn alle suchen das Ihrige, nicht das, was Jesu Christi ist“, ― sehet, was er an einer andern Stelle, zwischen Mietlingen und Söhnen unterscheidend, gesagt hat: „Einige predigen Christus aus Neid und Streitsucht, andere aber auch aus guter Gesinnung, einige aus Liebe, weil sie wissen, daß ich zur Verteidigung des Evangeliums aufgestellt bin; einige aber verkünden Christus auch aus Widerspenstigkeit, nicht in reiner Absicht, in der Meinung, daß sie meinen Banden Trübsal erwecken“. Das waren Mietlinge, sie waren eifersüchtig auf den Apostel Paulus. Warum waren sie eifersüchtig, als weil sie nach Zeitlichem strebten? Aber gebt acht, was er beifügt: „Was tut’s? Wenn nur auf jede Weise, sei es aus Vorwand, sei es in Aufrichtigkeit, Christus verkündet wird; des freue ich mich und werde mich freuen“1302. Christus ist die Wahrheit; mag die Wahrheit von den Mietlingen aus Vorwand verkündet werden, mag die Wahrheit von den Söhnen in Aufrichtigkeit verkündet werden: die Söhne erwarten geduldig das ewige Erbe des Vaters, die Mietlinge erstreben gierig den zeitlichen Lohn des Mietherrn; mir mag menschliche Ehre, auf welche ich die Mietlinge neidisch hinschauen sehe, vermindert werden; und doch soll durch die Zungen sowohl der Mietlinge wie der Söhne die göttliche Gnade Christi verbreitet werden, wenn nur, „sei es aus Vorwand, sei es in Aufrichtigkeit, Christus verkündet wird“.

7.

Wir haben nun auch gesehen, wer der Mietling sei. Wer ist der Wolf, wenn nicht der Teufel? Und was ist vom Mietling gesagt worden? „Wenn er den Wolf kommen sieht, flieht er, weil ihm die Schafe nicht eigen sind, und er sich um die Schafe nicht kümmert.“ War ein solcher etwa der Apostel Paulus? Das sei ferne. War ein solcher etwa Petrus? Das sei ferne. Waren solche etwa die übrigen Apostel, ausgenommen Judas, der Sohn des Verderbens? Das sei ferne. Waren sie also Hirten? Gewiß, sie waren Hirten. Und wie doch nur* ein* Hirt? Ich habe schon gesagt, Hirten deshalb, weil sie Glieder des Hirten waren. Sie erfreuten sich jenes Hauptes, waren unter jenem Haupte eines Sinnes, lebten durch* einen* Geist in der Gemeinschaft des* einen* Leibes, und so gehörten sie alle zu dem* einen* Hirten. Wenn also Hirten, keine Mietlinge, warum flohen sie, als sie Verfolgung litten? Erkläre es uns, o Herr. Ich ersah aus dem Briefe, wie Paulus floh, er wurde über die Mauer in einem Korbe herabgelassen, um den Händen des Verfolgers zu entgehen1303. Kümmerte er sich also nicht um die Schafe, die er bei der Ankunft des Wolfes verließ? Doch gewiß, aber er empfahl sie in den Gebeten dem im Himmel sitzenden Hirten, sich aber rettete er zu ihrem Nutzen durch die Flucht, wie er an einer Stelle sagt: „Im Fleische zu bleiben, ist nötig seinetwegen“1304. Denn vom Hirten selbst hatten sie gehört: „Wenn sie euch verfolgen in einer Stadt, so flieht in eine andere“1305. Diese Frage möge der Herr sich würdigen uns zu erklären. Herr, Du hast zu denjenigen, die nach Deinem Willen doch gewiß treue Hirten sein sollten, die Du zu Deinen Gliedern heranbildetest, gesagt: „Wenn sie euch verfolgen, so fliehet“. Du tust also jenen, welche den Wolf kommen sehen und fliehen, Unrecht, indem Du sie als Mietlinge tadelst. Wir bitten Dich, zeige uns an, wie es sich mit dieser schwierigen Frage verhalte; wir wollen klopfen, der Hüter der Türe, die er selbst ist, wird gegenwärtig sein, daß er sich erkläre.

8.

Wer ist der Mietling, der den Wolf kommen sieht und flieht? Wer das Seinige sucht und nicht das, was Jesu Christi ist, den Sünder nicht freimütig zurechtzuweisen wagt1306. Siehe, es hat irgendeiner gesündigt, schwer gesündigt, er ist zu rügen, zu exkommunizieren, aber wenn er exkommuniziert wird, wird er feindlich gesinnt sein, nachstellen, schaden, wo er kann. Der nun, welcher das Seinige sucht, nicht das, was Jesu Christi, wird, damit er nicht verliert, was er anstrebt, den Vorteil menschlicher Freundschaft, und nicht die Unannehmlichkeit menschlicher Feindschaft sich zuzieht, schweigen, nicht zurechtweisen. Siehe, der Wolf hat das Schaf an der Kehle gepackt, der Teufel den Gläubigen zu einem Ehebruch verführt; du schweigst, du tadelst nicht; o Mietling, du hast den Wolf kommen sehen und bist geflohen. Er antwortet vielleicht und sagt: Siehe, ich bin da, ich bin nicht geflohen. Du bist geflohen, weil du geschwiegen hast; da hast geschwiegen, weil du dich gefürchtet hast. Die Flucht der Seele, das ist die Furcht. Dem Leibe nach bist du stehen geblieben, dem Geiste nach bist du geflohen. Das hat jener nicht getan, welcher sagte: „Obwohl ich dem Leibe nach abwesend bin, bin ich dem Geiste nach bei euch“1307. Denn wie floh der dem Geiste nach, der, obgleich körperlich abwesend, die Hurer schriftlich tadelte? Unsere Affekte sind Bewegungen des Gemütes. Die Freude ist eine Ausdehnung des Gemütes, die Trauer eine Zusammenziehung des Gemütes, die Begierde ein Vorwärtsstreben des Gemütes, die Furcht eine Flucht des Gemütes. Du dehnst dich nämlich im Gemüte aus, wenn du dich erfreust; du ziehst dich im Gemüte zusammen, wenn du niedergeschlagen bist; du strebst vorwärts im Gemüte, wenn du etwas verlangst; du fliehst im Gemüte, wenn du dich fürchtest. Siehe, warum es von jenem Mietling heißt, daß er beim Anblick des Wolfes flieht. Warum? „Weil er sich um die Schafe nicht kümmert.“ Warum kümmert er sich nicht um die Schafe? „Weil er ein Mietling ist.“ Was heißt das: Er ist ein Mietling? Er sucht zeitlichen Lohn und wird nicht auf ewig im Hause wohnen. Es gibt hier noch manche Dinge, die mit euch zu untersuchen und zu erörtern wären, aber ich möchte euch nicht weiter belästigen. Denn wir reichen die Speise des Herrn den Mitknechten; auf den Weiden des Herrn nähren wir die Schafe und nähren uns mit euch. Wie nicht verweigert werden soll, was notwendig ist, so ist auch das schwache Herz nicht mit einem Übermaß von Speise zu beschweren. Eure Liebe nehme es also nicht übel, daß ich nicht alles, was ich hier noch für erörternswert halte, heute schon behandle, aber es wird uns im Namen des Herrn an den Tagen, an welchen wir eine Rede schulden, dasselbe Lesestück nochmals verlesen und mit seinem Beistande eingehender erklärt werden.

Vorträge über das Johannes-Evangelium, Band 2

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