Читать книгу Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen - Ava Farmehri - Страница 11

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In meiner Kindheit war meine zweitliebste Geschichte die meiner Geburt. Auf Platz eins stand die Geschichte meiner Zeugung, aber die erzählte mir meine Mutter nie. Dafür kam sie mir auf anderem Weg zu Ohren. Bei uns währt kein Geheimnis lang, jedenfalls kein solches. Beide Geschichten waren etwas ganz Besonderes, weil sie von einer Zeit handelten, in der ich noch hätte gerettet werden können; von einer Zeit, in der noch nicht feststand, welche Richtung mein Leben nehmen würde. Meine Mutter hätte abtreiben können. Sie hätte uns alle beide töten können. Sie hätte das Land verlassen können, wie so viele andere es getan hatten und immer noch taten. Das Leben ist ein russisches Roulette, und aus einem seltsamen Grund zeigte die Mündung der Pistole immer auf meine Schläfe. Und jedes Mal, wenn ich Bekanntschaft mit einer Kugel machte, fiel mir auf, dass nicht ich den Abzug betätigt hatte. Immer gab es jemanden in meinem Leben, der das für mich übernahm.

Als die Wehen einsetzten, hielt meine Mutter sie für ganz normale Bauchschmerzen, und obwohl ihre Krankenhaustasche seit Wochen gepackt war, rief sie meinen Vater erst an, als die Fruchtblase geplatzt war. »Sei stark, ich liebe dich«, rief er, bevor er auflegte und panisch irgendwelche Nummern wählte und jede weibliche Person, die ans Telefon ging, anflehte, doch bitte seiner Frau zu helfen. Während meine Mutter neun Monate Schwangerschaft hinter sich ließ, spielte unser Schwarzweißfernseher, eine bizarre kopflose Kreatur auf Holzbeinen, stumm die Nachrichten, die damals alle Iraner verfolgten, und sah zu, wie meine Mutter mich in die Welt hinauspresste.

Es wehte ein neuer Wind. Hinfort mit allem Neuen, her mit dem Alten!

Meine Mutter lag auf einer Matratze, die sie hinterher wegen der großen Blutflecke wegwarf. Meine Großmutter mütterlicherseits, Nana Farangis, saß hinter ihr, drückte den Kopf meiner Mutter an ihren mächtigen Busen und wischte ihr mit einer braunen Hand übers Gesicht, während Schweißtropfen auf ihren Bauch tropften. Nach fünf Stunden Gebrüll und Gebettel, nach fünf Stunden, in denen meine Mutter abwechselnd zu Gott gebetet und ihn dafür verflucht hatte, dass er sie als Frau erschaffen hatte, nach fünf Stunden, in denen sie ins Kopfkissen gebissen, meiner Oma fast den Arm ausgerissen und die Hebamme so rachsüchtig in die Brüste getreten hatte, dass meine Tante Bahar, die jüngere Schwester meiner Mutter, in die Küche laufen und der armen Frau ein Glas Wasser holen musste, war der Kampf vorbei und ich gab mich geschlagen.

Ich kam zur Welt, in einem gemeinschaftlichen Kraftakt meiner Großmutter und einer derb fluchenden Hebamme aus der Nachbarschaft, saftig und glitschig wie eine empfindliche, überreife Frucht. Ich wurde aus dem Schoß der Zeit geboren, aus einer ewigen Dunkelheit hinein in eine Wirklichkeit aus Licht, Sonnenschein und Bomben, aus Nachtigallen, die frei über den Himmel flogen, blind für alle Grenzen, während mein Volk in Gefangenschaft verreckte. Ich schlug die Augen in einer Welt auf, in der rote Mohnblumen sehnsüchtig inmitten grüner Felder leuchteten. Zuerst kam mein Kopf, ein zerknautschtes Gesicht mit wütend zusammengekniffenen Augen und verzerrtem Mund, dann folgten ein langer Hals und ein Rumpf mit dürren Armen und Beinen, die eine beachtliche Körpergröße und eine flachbrüstige Jugend verhießen. Als Letztes kam der volle, runde Po, der Körperteil, den die wenigen Männer, mit denen ich geschlafen habe, neben meinen Lippen am meisten geliebt haben.

Das Erste, was ich sah, als ich kopfüber zur Welt kam, war das verschwommene Fernsehbild. Ich schrie nicht, und ich atmete nicht. Am liebsten wäre ich gleich wieder zurück in den Schoß meiner Mutter gekrochen und dort für immer geblieben. Ich wollte weiter in der sicheren Dunkelheit vor mich hindämmern, weit weg von dieser unbarmherzig grellen Welt. Doch die Hebamme schlug mir dreimal hart auf den Rücken, und mir blieb nichts anderes übrig als zu schreien. Der körperliche Schmerz war realer als die Ungewissheit meiner Zukunft. Als mein Vater schließlich von der Arbeit kam und mich in eine Decke gewickelt im Arm hielt, weinte er, und dieselben Glücks- und Sorgentränen, die ihm damals übers Gesicht liefen, liefen auch meiner Mutter jedes Mal übers Gesicht, wenn sie mir die Geschichte meiner Geburt erzählte. Und immer endete sie mit folgenden Worten: »Meine liebeskranke Nachtigall, der Tag, an dem du auf die Welt kamst, war der schönste und schmerzhafteste Tag meines Lebens.«

Mütter und Väter sind pathologische Sünder. Sie verdammen unzählige Seelen zu einem Leben im Exil, zu gescheiterten Träumen und Ehen, zu selbstmörderischen Geliebten, zu Tod und Gefängnis, und das alles nur aus Liebe und hoffnungsloser Zuversicht, aus einem egoistischen Bedürfnis, als wüssten sie es nicht besser, als hätte das Leben sie nicht eines anderen belehrt. Eltern sind wirklich und wahrhaftig die schlimmsten Verbrecher.

Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen

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