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ERSTES KAPITEL 1

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Sie werden mich töten.

Mein Prozess hat drei Wochen gedauert. Und ich habe noch Glück, manch unglückliche Seele wartet jahrelang, nur um am Ende dieselbe Nachricht zu erhalten. Ich habe allerdings auch schon von schnelleren Urteilen gehört und gelesen, und so kam die zügige Entscheidung nicht überraschend. Jedenfalls nicht für mich. Schließlich ist das hier Iran.

Während der Urteilsverkündung stand ich in Handschellen in einem Saal voller düster dreinblickender Polizisten, zwei Psychiatern, einem Richter und einem Pflichtverteidiger, der sich große Mühe gab, ein enttäuschtes Gesicht zu machen. Er war ein guter Schauspieler, wenn man bedenkt, wie absehbar das Urteil war. Mein umfassendes Geständnis und meine Weigerung, mich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, wie es mir mitleidige Verwandte und barmherzige Nachbarn nahegelegt hatten, lassen ja auch keinen großen Interpretationsspielraum. Zumal es eine Augenzeugin gibt.

Ich erwarte nichts im Gegenzug für mein Geständnis; ich will keinen Deal machen, damit das Gericht mein Leben verschont; ich habe auch nicht versucht, den Prozess durch irgendwelche Anträge in die Länge zu ziehen. Man hat mir eine Frage gestellt und ich habe sie wahrheitsgemäß beantwortet. Ich dachte: Sheyda, warum muss im Leben immer alles an Bedingungen geknüpft sein? Warum gibt es überall diese Mentalität des Feilschens, selbst wenn es um hehre Ideale geht? Warum wird die Wahrheit ständig durch Duckmäuserei und Anspruchsdenken ausgehöhlt? Mein Leben lang hielt man mich für eine Lügnerin, dabei wollte ich im Prinzip immer nur eins: mich reinwaschen. Die Wahrheit befreit dich, heißt es, aber glaubt mir, rein gar nichts befreit dich.

Bis vor kurzem dachte ich, der Tod würde diesbezüglich ganz gute Dienste leisten, aber während ich in meiner Zelle hockte und zusah, wie die anderen Frauen zu ihrer Urteilsvollstreckung gebracht wurden, hatte ich genug Zeit, über diese Frage nachzudenken. Die Frauen würden glücklicher aussehen, dachte ich, wenn sie tatsächlich drauf und dran wären, sich frei wie ein Vogel in die Lüfte zu schwingen und die bleierne Schwere des Körpers hinter sich zu lassen. Ich fragte mich, warum keine dieser Frauen lächelte. Warum manche beteten, bevor man ihnen Handschellen anlegte und sie aus der Zelle führte. Worum kann eine Mörderin Gott schon bitten? Um Vergebung? Um Vergebung kann man nur das Mordopfer bitten, und da es nicht mehr unter den Lebenden weilt, wäre das unlogisch und sinnlos.

Mein Anwalt konnte mir nicht ins Gesicht sehen. Meinen hochgeschätzten Psychiater Dr. Fereydun wiederum verrieten seine weichen Knie. Er musste sich setzen und stand erst wieder auf, als ich aus dem Gerichtssaal gebracht wurde. Ich drehte mich noch einmal zu ihm um, grinste zufrieden und winkte.

Das Gute an einem Todesurteil ist, dass es die Dinge relativiert. In dieser Hinsicht ist es einer Nahtoderfahrung nicht unähnlich, auch wenn ich eine solche noch nie am eigenen Leib erfahren habe. Aber ich kenne alle möglichen Klischees von einem Licht und einem Tunnel und wie man in Gottes Hauptquartier entschwebt und von oben auf den eigenen leblosen Körper hinabblickt. Als ich im Gericht auf mich selbst hinabblickte, sah ich Tränen in meinen Augen und meine wie zum Gebet gefalteten Hände in Handschellen. Ich sah Tränen, die von den Zeitungen und von den Zuschauern vermutlich entweder als Krokodilstränen oder als Zeichen aufrichtiger Reue gedeutet wurden, und eine Handhaltung, die man als flehend oder fatalistisch hätte interpretieren können.

Eins möchte ich klarstellen: Meine Tränen waren Freudentränen. Meine Handhaltung war allerdings tatsächlich fatalistisch. Ich barg mein ganzes Leben, die zwanzig Jahre, die ich als Sünderin in Gefangenschaft auf dieser Welt verbracht hatte, in der hohlen Hand. Ich blickte hinab auf meine Stirn, die weiß schimmerte, obwohl ich seit Tagen nicht geduscht hatte, und eins kann ich euch sagen: Meine Stirn war makellos wie eine blütenweiße Weste. Meinen blonden Pony hatte ich extra kurzgeschnitten, um meine Ehrlichkeit zu betonen. Alle sollten sehen können, wie aufrichtig ich war.

Mein fahles Gesicht unter dem schwarzen Kopftuch sah fast aus wie das einer Heiligen. Ich hatte meinen Lebtag nicht so friedlich gewirkt, mit einem solch grotesken Ausdruck der Entzückung, ähnlich wie meine Mutter bei ihrem Tod. Mein Blick wanderte zu meinem Rücken, und tatsächlich, rechts und links der Wirbelsäule sprossen Flügel. Kräftige weiße Federn bohrten sich zaghaft durch die Haut. Ich schwebte in dem kalten Gerichtssaal und sah nichts als fremde Gesichter. Niemand kannte mich. Ich war ein Engel, ein missverstandener Engel. Das bin ich immer noch.

Wird man mich nach islamischem Brauch neben meinen Eltern begraben? Wird mich irgendwer auf dem Friedhof besuchen und Rosenwasser auf meinen Grabstein sprenkeln? Wird irgendwer das Unkraut oder die Blumen auf dem grünen Grasteppich begießen, unter dem ich schlafe? Wird irgendwer ein Gebet für meine verlorene Seele sprechen? Wird irgendwer Tränen vergießen ob der vielen Ungerechtigkeiten, die mir von allen Blicken verborgen widerfahren sind?

Wer bin ich? Nur ein weiteres Gesicht. Irgendein Name. Ein gebrochenes Genick von vielen. Die Menschen werden mich schnell vergessen, so wie sie alle vergessen, einschließlich ihrer toten Verwandten. Meine Gefängnisakte wird im Archiv verstauben; ich werde nichts als eine flüchtige Schlagzeile in der Zeitung sein, ein Gesicht, das man wiedererkennt und auf das man spuckt: »Das ist doch das Monster, das seine Mutter umgebracht hat.«

Wer wird zu meiner Beerdigung kommen? Menschen, die erleichtert sind, dass ich tot bin? Nein. Zu meiner Beerdigung sollen nur Vögel kommen. Mein seelenloser Körper soll in einem Turm des Schweigens aufgebahrt werden, damit die Geier sich über ihn hermachen können. Legt meinen Leichnam oben auf einen kahlen Berg und lasst die Natur von meinen Zehen und Ohren zehren, bis nichts mehr von mir übrig ist. Ich will neben blutigen, zerfetzten, verwesenden Leichen ruhen. Die kahlköpfigen, hässlichen Vögel sollen mich in die Lüfte heben und mich dann wieder fallen lassen. Während meines Sturzes wird mein Kopf am gebrochenen Genick hin- und herpendeln, und meine Augen werden zum Himmel stieren. Ich will zerschmettert werden. Ich will, dass die Vögel mein Knochenmark aussaugen.

Ich will, dass Geier mit mir in die Freiheit fliegen, dass sie mich in ihren geblähten Bäuchen zum Himmel tragen, dass sie meine Träume bitter auf ihren sehnigen Zungen schmecken, dass ihnen mein Haar aus dem Schnabel hängt. Ich will, dass mein Gesicht in ihren wütenden schwarzen Augen brennt und meine versklavten braunen Augen ihnen als Erinnerung ins Gesicht geschrieben stehen. Und wenn sie krächzen, werden sie klagend meinen Namen krächzen.

Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen

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