Читать книгу Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen - Ava Farmehri - Страница 16

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Als nichts zu helfen schien und niemand meinen Eltern sagen konnte, was mit mir los war, wandte sich meine Mutter an Gott. Gott war ihr Sicherheitsnetz, Gott und die Porzellanengel. Meine Mutter, die Götzendienerin, die früher so gern in die Disco gegangen war, meine Mutter mit ihren verführerischen nachtschwarzen Augen! Während ihr rosa Cocktailkleid zusammen mit dem Rest ihrer Siebziger-Jahre-Garderobe im Schrank von Motten zerfressen wurde, unternahm sie Pilgerreisen zu Moscheen und Mausoleen. Mich nahm sie mit, wild entschlossen, jemanden zu finden, der mich segnete oder mir die Dämonen austrieb.

Doch auch das half nicht.

Wir fuhren zum Tadschrisch-Platz und besuchten die Imamzadeh-Saleh-Moschee. Am Tor mussten wir unsere Schuhe bei einer Frau abgeben, die sie in grüne Regalfächer stellte. Dann suchte sich meine Mutter aus einem Stapel Stoff ein großes geblümtes Tuch aus, das sie sich wie einen Tschador umhängte und mit schmalen Fingern vor ihrem Herzen zusammenhielt.

»Narz mikonam barat, Sheyda dschan«, sagte meine Mutter. »Falls Gott meine Gebete erhört, werde ich ihm in deinem Namen etwas zurückgeben. Sitz du einfach still da und lies im Koran.«

Ich konnte an nichts anderes denken als an die arme Frau, deren Aufgabe es war, den ganzen Tag stinkende Schuhe einzusammeln.

Offenbar erhörte Gott die Gebete vieler Leute, denn im Hof kamen wir an Menschen vorbei, die uns mit Pistazien gefüllte Plätzchen, Datteln und pralle blau-weiße Säckchen Salz anboten. Meine Mutter dankte den großzügigen Spendern fromm, und ich, die ich die Geschenke tragen durfte, wiederholte ihre Worte und imitierte ihre Gesten, zog mir das Tuch vors Gesicht und neigte sittsam den Kopf. Das Gebet meiner Mutter dauerte ewig. Die ganze Zeit tat ich, als würde ich auch beten, als wüsste ich, was ich da machte und worum ich Gott bitten sollte. Ich vermisste Gott und sagte ihm, dass ich ihn gerne mal sehen würde und dass er bitte meine Eltern glücklich machen solle.

Plötzlich war mir zum Weinen zumute. Mein Gesicht begann zu brennen, und mein Herz schlug heftig gegen seinen Käfig. Ich wollte frei sein von all dem, frei von der Traurigkeit, frei von Gott. Am liebsten hätte ich mich auf den Boden gelegt, wäre eingeschlafen, die Wange auf den kalten Marmor gepresst, und hätte meinem schlafenden Herzen gelauscht. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, während meine Mutter aufstand, sich vorbeugte, auf die Knie ging, sich zu Boden warf und dabei dieselben arabischen Verse murmelte, die wir in der Schule auswendig gelernt hatten, ohne ein Wort davon zu verstehen. Sie wiederholte wieder und wieder dieselben Formeln, und ich hörte die weißen Perlen der Gebetskette an ihrem Handgelenk verzweifelt aneinanderschlagen. Als sie endete, hob ich den Blick und sah, dass sie weinte. Ich wollte so schnell wie möglich fort von diesem traurigen, beklemmenden Ort.

Alle Menschen hier sahen unglücklich aus; alle beteten für ein Wunder, einen guten Rat oder einen Segen. Mütter beteten für die sichere Rückkehr ihrer Männer und Kinder; Mädchen beteten für immerwährende Liebe; Ehefrauen beteten für den frühen Tod ihrer Schwiegereltern; alte Jungfern beteten für einen Prinzen auf einem weißen Pferd; junge Männer beteten für einen Weg aus Iran; Alte beteten für den Jungbrunnen; zahnlose Männer beteten für eine zweite Frau; reiche Männer beteten für Gesundheit; Arme beteten für Geld.

Alle wollten Gott ihre Geschichte erzählen, alle erhoben ihre Stimmen zu einem einmütigen »Amen«. Alle wollten, dass Gott eingriff, dass er einen Blick, nur einen kurzen Blick, auf ihr jämmerliches Leben warf und Mitleid mit ihnen hatte, weil sie selbst hilflos waren und niemand sonst sie bemitleidete. Ein Gebet ist ein Akt der Verzweiflung. Es geht dem Selbstmord voraus. Es kann zu ihm führen. Diese Leute gehörten alle in Therapie.

Der Höhepunkt des Ausflugs zum Tadschrisch-Platz waren die verwinkelten Gassen des Basars, wo hinter Schaufensterscheiben Goldketten und Anhänger in Form von Herzen und Schmetterlingen schimmerten oder rosa und blaue Duschschwämme unblutig an Wände genagelt waren. Perücken in verschiedenen Haarfarben balancierten auf den abgetrennten Köpfen von Schaufensterpuppen, und in Lingerie-Geschäften bedeckten rote Spitzenhöschen, aufreizende Push-up-BHs und Strapse ihre enthaupteten Körper.

Ich fragte meine Mutter, warum die Schaufensterpuppen sich so kleiden durften. Sie erklärte mir, die Puppen dürften tun und lassen, was sie wollten, weil sie tot seien. Und ihre Körper seien verstümmelt, damit sie keiner lebenden Frau ähnelten, anderenfalls wären ihre Leichen wohl auch auf Lastwagen gestapelt und abtransportiert worden. Der Tod war in unserer Familie schon immer ein Thema, das untrennbar mit Freiheit und dem Ende einer Gefangenschaft zusammenhing.

»Wenn du eine Schaufensterpuppe wärst«, hätte ich am liebsten zu meiner Mutter gesagt, »könntest du dich auch so anziehen.« Aber meine Gedanken gingen in dem dichten Gedränge unter. Wir schoben uns durch die engen Gassen und lauschten dem Ruf zum Abendgebet, der einen Schwarm Tauben aufscheuchte. Die Vögel flatterten mit lautem Flügelschlag durch den dunklen, verrauchten Gang. Wir lächelten, als mit einem Mal ringsherum an Bäumen, Dächern und Mauern orange Lichter aufflammten. Sie brachten unsere Augen zum Leuchten, verliehen allem einen rätselhaft sinnlichen Schimmer und erhellten die düsteren Winkel und Ecken, die nach abgestandenem Regenwasser und Apathie stanken. Wir sahen Erdbeeren, groß wie Mangos und hellrot wie verdünntes Blut. Einmachgläser mit eingelegten Rüben, Oliven und roten Paprika standen in Reih und Glied, und darüber hingen Seile mit getrockneten gelben Limetten.

Als meine Mutter stehen blieb, um Erdnüsse für meinen Vater zu kaufen, drückte mir der Verkäufer ein paar Cashewnüsse in die Hand und fragte mich, wie ich heiße. Ich antwortete brav, schob mir dann die Cashews in den Mund, kaute auf dem salzigen Brei herum und schmeckte seinen alltäglichen Kampf, das Nörgeln seiner Frau, die Tränen seiner Kinder und die Liebe zu seinem Gebetsteppich. Pantoffeln, billiger Schmuck, Spielzeug, Fahnen, Zimt, Safran, Versprechen, Garantien, Rabatte, Zwei-zum-Preis-von-einem, weiße Zuckerwattebäusche, die aussahen wie essbare Perücken von Adeligen, Talismane, in die dein Name und der deiner Mutter eingraviert wird, Geburtssteine, jeder in einer anderen Farbe und aus einem anderen Material, die etwas über dich und dein Leben aussagen. Ich bin Widder, ich bin der kristallklare Diamant des Monats April; angeblich bin ich voller Unschuld. Meine Mutter stieß ein höhnisches Lachen aus und schob mich aus dem Laden.

Wir gingen zurück nach draußen auf den Platz. Vor dem Eingang des Basars stand ein Mann neben einer Holzkiste voller Laub und rief: »Schmetterlinge zu verkaufen! Schmetterlinge zu verkaufen!« Ich entzog mich dem Griff meiner Mutter und lief zu ihm. In der Kiste tummelten sich Raupen mit schwarzen, weißen und gelben Zebrastreifen. Ich zuckte zurück: »Das sollen Schmetterlinge sein?« Er grinste. »Möchtest du eine, meine Kleine? Du musst sie nur füttern, dann wird sie zu einem wunderschönen Schmetterling. Versprochen.« Als er sah, dass ich immer noch wie gebannt war vor Angst und Faszination, zog er ein großes raupenzerfressenes Blatt aus der Kiste und ließ eine gelangweilte Raupe mit unzähligen winzigen Füßchen auf seinen Finger kriechen. Dann hielt er mir den Finger vors Gesicht. Ich kreischte auf und klammerte mich an den langen Mantel der Frau neben mir. Als ich merkte, dass es meine Mutter war, seufzte ich erleichtert. Sie lächelte. Da meine Mutter einverstanden zu sein schien, bewegte der Mann seine Hand vor und zurück, amüsiert über mein Kichern und mein ängstliches Quieken, das ich zugegebenermaßen übertrieb, weil ich das Grinsen und die belustigten Blicke der Passanten genoss.

»Möchtest du eine? Ich schenke sie dir.«

Ich klatschte begeistert in die Hände, aber meine Mutter, die mit einem Mal ganz bleich geworden war, sagte nein. Es gebe niemanden, der sich um das Tier kümmern könne. Komm jetzt.

Sofort.

»Chanum, die Raupe kümmert sich um sich selbst. Setzen Sie sie einfach mit einer Schüssel Wasser und ein paar Blättern in ein großes Glas.«

Nein.

Ich stampfte auf und warf mich zu Boden. Das ganze Gewicht des Tages floss aus mir heraus. Ich hörte erst auf zu heulen, als ein Kompromiss gefunden war. Der Mann wies mich an, ihm die Hand hinzuhalten. Dann stupste er die Raupe mit einem zweiten Blatt an, und wir beobachteten, wie sie langsam von einem Finger auf den anderen wechselte, wobei sie sich krümmte wie ein Komma.

»Ein Schmetterling, es ist ein Schmetterling, meine Kleine.« Er sah meine Mutter an und lächelte.

Mein Vater, der uns am Tadschrisch-Platz abgesetzt hatte, hatte versprochen, uns wieder abholen zu kommen. Also liefen wir über die Brücke zurück zur Hauptstraße, um dort auf ihn zu warten. Unter uns rauschte der schwarze Fluss vorbei, als hätte er es eilig. Am liebsten hätte ich mich auf die Steinmauer gekniet, so wie meine Mutter sich vorher zum Gebet hingekniet hatte, und gelauscht, wie der Fluss durch die zitternde Nacht pulsierte und einer geschichtsvergessenen Stadt Leben spendete. Ich wollte, dass der Fluss meine Erinnerungen abwusch, dass er mich gründlich einseifte, umdrehte, mich von der anderen Seite einseifte und dann abspülte. Ich wollte, dass er mir dreimal kräftig auf den Rücken klopfte, damit ich meine überbordende Phantasie und all die anderen Dinge, die meine Mutter traurig machten, ausspuckte wie ein Stück Brot, das mir in den falschen Hals geraten war. Meine Mutter hechelte ihrem eigenen Atem hinterher, sog pfeifend die Luft durch die Nase und redete mit sich selbst oder mit mir. Ständig sah sie sich nervös um und murmelte wütend: »Wo ist dein Vater? Wo bleibt er nur? Warum begleitet er uns nie? Ich –«

Ich begann, ein Lied zu singen, und dachte an die flaumigen Beine der Raupe, die die Landschaft meiner Handfläche überquert hatte.

»Dieser dreckige Bastard hat mir seinen Finger reingesteckt«, flüsterte meine Mutter dem traurigen Fluss zu. Dann flüsterte sie dasselbe noch einmal der unter Gedächtnisschwund leidenden Nacht zu, weil ich, ihre Tochter, weit weg war, verloren in meinen Träumen.

Ich sang weiter vor mich hin, melodisch und selbstvergessen.

Meine Mutter und ich unternahmen eine weitere, allerdings weniger denkwürdige Pilgerreise nach Maschhad im Nordosten von Iran, wo sie im Imam-Reza-Mausoleum weinte und für meine geistige Gesundheit und mein Seelenheil betete. Es war das erste und einzige Mal, das ich den Zug nahm. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden fuhren wir in schaukelnden, rostigen Waggons durch vier verschiedene Jahreszeiten. Berggipfel trugen eine Federboa aus gleißendem Schnee, Blumen glänzten golden in der Sonne, Wolken schwebten am klaren Himmel und folgten unserer frommen Reise wie Fäuste, die sich urplötzlich zusammenballten und Regensplitter aufs Waggondach trommeln ließen, bevor sie langsam davonzogen, um betrunkenen, schläfrigen Göttern als Kissen zu dienen. Vagabundierende Herbstblätter verließen ihre heimischen Baumwipfel und wurden dem Zug von einem sanften Wind ins Gesicht geblasen, und es war, als würden sie um ihre Zukunft trauern.

Das Mausoleum war voller Menschen, eine ganze Flut von Menschen, die wie Ameisen in einem unterirdischen Bau durcheinanderwimmelten. Meine Mutter nahm mich an die Hand und führte mich durch unzählige Innenhöfe. Ich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten, weil die blauen und schwarzen Tschadors der Frauen mit ihrem Geruch nach Schweiß und Tränen mein Gesicht streiften. Ich sah mir alles ganz genau an. Ich sah andere Kinder mit verwirrten Augen und rotzverschmierten Gesichtern, sah, dass auch sie am liebsten woanders gewesen wären, und sie blickten mich an und schüttelten stumm den Kopf. Wir verstanden uns wortlos. Ich sah, wie Männer mit Ringen an den haarigen Fingern sich im Schritt kratzten, wie sie mich überragten und Sonnenlicht durch den weißen oder gelblichen Stoff ihrer Hemden schien.

Alles war golden. Goldene Minarette und eine goldene Kuppel leuchteten über dem goldeingefassten Grab von Imam Reza, dem heiligen Mann, vor dessen Tod die Gazellen gewarnt hatten, indem sie mit den Hufen stampften, und als er an vergifteten Trauben starb, weinten die Tiere, weil er einst eine Artgenossin vor den Pfeilen eines Jägers gerettet hatte. Wir schritten über kalten Marmor, wie Millionen anderer vor uns, und in der Moschee wärmten wir unsere Füße an teuren Teppichen, auf denen Menschen schliefen und beteten und auf Wunder warteten, und die ganze Zeit umgab uns von allen Seiten der penetrante Geruch schuhloser, bestrumpfter Füße. Im Innenraum sah ich hoch zu den Kronleuchtern, die wie funkelnde Diamanten aussahen, meine Geburtssteine. In ebendiesen türkisenen, mit arabischer Kalligraphie verzierten Wänden hatten fromme Männer den Vater des Schahs den »neuen Yazid« genannt und waren Tage später eines gewaltsamen Todes gestorben.

Auf dem Weg nach draußen segnete mich ein einarmiger Bettler, der als frommer Mann verkleidet auf einer Matte auf dem Boden saß und meine Mutter um Geld bat. Meine Mutter griff in ihre Tasche, zückte ihr Portemonnaie, nahm alle Scheine heraus und drückte sie dem alten Mann in dessen einzige Hand. Münzen klirrten in ihrem Portemonnaie, und sie zog den Reißverschluss auf, holte eine 100-Rial-Münze hervor, zeigte mit einem Finger auf die Rückseite und sagte zu mir: »Hier sind wir, siehst du?« Sie drehte mein Gesicht zu der Moschee und hielt die Münze daneben. »Siehst du es jetzt?« Sie schüttelte mich.

»Ja«, sagte ich mit schniefender Nase.

Dann stellte meine Mutter ihre Geldbörse auf den Kopf und leerte den Inhalt auf die Matte des hocherfreuten Bettlers. Die Münzen prallten gegeneinander: pling, pling, pling.

»Ein Segen ist nicht mit Geld aufzuwiegen«, säuselte der Bettler.

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