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Ich kam in Gefangenschaft zur Welt.

Ich wurde am 1. April 1979 in Teheran geboren, am selben Tag wie die Islamische Republik.

Monate vor meiner Geburt wurde ein Schah von seinem Volk verraten und auf den Mattscheiben weltweit als Verräter dargestellt. Zusammen mit seiner Kaiserin wurde er ins Exil und dann in einen Tod geschickt, der seinen größten Schmerz und seine schlimmsten Albträume übertraf. Monate vor meiner Geburt wurde die Geschichte eines Landes seziert, man kaute darauf herum wie auf dem fleischigen Teil eines Hühnerhalses, und das Gerippe seiner Zukunft wurde bärtigen Hunden und Krähen vorgeworfen, die krächzend ihr heiliges Buch zitierten, nur um dasselbe Buch dann wegzuwerfen und sich hinter hohen Säulen zu verbergen. Ein Hubschrauber hob ab, und Iran stand unter Belagerung.

Monate vor meiner Geburt beerdigten alte Frauen verkohlte Leichen, von denen sie annahmen, dass es ihre Kinder waren, und fragten Gott: Warum? Warum? Junge Männer und Frauen, die dem Gebrüll der Demonstrationen hatten entfliehen wollen, saßen im Cinema Rex und sahen sich Gavaznha an. Sie lachten über die Ironie im Film, ohne zu wissen, dass sie die Ironie des Schicksals im nächsten Moment am eigenen Leib erfahren würden. Männer und Frauen, die nicht lange genug lebten, um zu erfahren, dass der Film seinen Titel Gavaznha, »Reh«, erst in letzter Minute bekommen hatte, genauso wie sie selbst sich in letzter Minute auf der grausamen Liste des Todes wiederfanden, quasi Gottes letzter Gedanke vor dem Einschlafen. Männer und Frauen, gejagt und getötet, die Gesichter von Naivität entstellt.

Monate vor meiner Geburt erschien der Tod auf den Straßen Irans. Im Narrenkostüm eines Rattenfängers rief er die Kinder bei ihrem Namen, spielte auf seiner magischen Flöte und lockte sie in den Fluss, wo sie ertranken. Bildhübsche Mädchen räumten ihre Miniröcke in den Schrank und bügelten einen Tschador, der schwarz war wie ihre Tränen. Flochten ihr langes Haar zu Altfrauenzöpfen. Es war die Zeit der Cordhosen, Pluderhosen, Schlaghosen, der Armreifen und Jumpsuits, der Stirnbänder und Makramé-Gürtel, der Römersandalen und Batik-T-Shirts, die Zeit, in der langhaarige Europäer beiderlei Geschlechts Friedensplakate in die Höhe reckten und in grünen Ford Cortinas oder himmelblauen Rovers nach Katmandu fuhren. Es war die Zeit von »Kung Fu Fighting« und »Greased Lightning«, von Abba und den Bee Gees. Es war die Zeit von amerikanischen Nachbarn, mit denen wir alles teilten, Freundschaft und Essen, Leben und Geschichten, die Zeit, bevor wir unsere Schwerter zogen und sie als Geiseln nahmen, bevor sie uns Terroristen nannten und drohten, bei uns für Ordnung zu sorgen. Es war die Zeit, in der Frauen nicht fürs Verliebtsein gesteinigt wurden, Männer nicht für ihre Meinung gehängt wurden, Schultern nicht ausgepeitscht wurden, weil sie nackt waren, Haar nicht dafür bestraft wurde, weil es schön war, Träume nicht erstickt wurden, weil sie Träume waren, und Flügel nicht gestutzt wurden, weil sie fliegen wollten. Aber ich war damals noch nicht da, um all das zu sehen. Ich bin zu spät geboren. Als ich die Augen in dieser finsteren Welt aufschlug, war eine Dynastie zerschlagen worden. Eine Weste war dreckiggewaschen und ein Land saubergeraubt worden.

Ich kam unfrei zur Welt. Ich hörte die nostalgischen Geschichten von den Lippen der Menschen um mich herum und hielt sie für erfunden. Abends zappelte ich in meinem Bett herum und drückte meinen Teddy an mich, der genauso begierig wie ich darauf war, Scheherazades zeitgenössische politisch-religiöse Nacherzählung einer Vergangenheit zu hören, die anders als die Gegenwart nicht nur aus Schwarz, Weiß und Grau bestand, einer Vergangenheit aus eleganten Kleidern und seltsamen Frisuren. Eine Nacht von vielen in diesem Land aus Tausendundeiner. In der neuen Version der Geschichte war die Tochter des Wesirs fromm und sittsam gekleidet, und sie sprach mit gedämpfter Stimme, weil die Stimme einer Frau nun einmal etwas ist, wofür sie sich schämen muss. In dieser Version war es Scheherazade egal, ob sie lebte oder starb.

»Unser Land ist ein Land der Geschichten und ein Land der Gegensätze. Und keine Geschichte ist zu alt, als dass man sie nicht immer wieder erzählen könnte«, raunte mir meine Mutter zu. Dann zog sie Kleidungsstücke aus dem Schrank und führte sie mir vor: Vaters Polyesterhemd und ein schulterfreies goldenes Paillettenoberteil aus einer Zeit, als sie noch in Discos ging. In Discos! Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie meine heiligengleiche Mutter in einem knappen rosafarbenen Cocktailkleid mit Faltenrock und Plateauschuhen an einer Olive aus ihrem Martini knabberte, während sie dem Mann schöne Augen machte, der an jenem Abend ihre Lippen küssen und Monate später mein Vater werden würde. Meine Mutter, die ihr Leben lang alles mit der Zurückhaltung einer Mona Lisa angesehen und angelächelt hatte: Bin ich glücklich oder traurig? Ist das wirklich ein Lächeln? Ich bin ein Irgendwas, ein namenloses Dazwischen. Immer, wenn ich die Augen öffnete und meinen Teddy ansah, lächelte auch er mit schockgeweiteten Augen sein aufgenähtes Mona-Lisa-Lächeln. Meine Mutter war ein Teddybär.

»Es gibt Fotos!« Als Beweis hielten mir meine Mutter und meine Tante Bahar Fotoalben vor die Nase und wiesen auf ihre glattrasierten nackten Beine, die bodenlangen Festkleider, die unverschleierten Hochsteckfrisuren und die lackierten Zehennägel, die aus Sandalen hervorschauten. Aber ihre Erzählungen und das, was ich um mich herum sah, passten nicht zusammen. Ich nahm die Fotos in die Hand, sah nachdenklich aus dem Fenster und dachte: »Wie sind wir von dem da zu dem hier gekommen?«

Meine Mutter sagte oft: »Das alles gab es wirklich. Wir hatten ein Leben in asadi, in Freiheit.«

Asadi. Asadi. Von dem Wort bekam ich Albträume. Es bedeutete alles und nichts. Es war ein unerreichbares Ideal, wie »Perfektion« und »Gott« und »wahre Liebe« und »Zuhause«. Es ist ein Ideal, das man sehen, berühren, schmecken und am eigenen Leib erfahren muss. Man muss die Freiheit erlebt haben, um an ihre Existenz zu glauben. Man muss sie geliebt haben, um an ihre Wahrheit zu glauben.

»Und wie hat sich das angefühlt?«, fragte ich die beiden oft.

»Also … äh …«, stammelten sie. Sie wussten nicht, was sie antworten sollten, die Sprache hatte sie verlassen. Aber ihre Augen drückten aus, was ihre Zungen nicht sagen konnten.

Ich wurde in Gefangenschaft geboren. Und mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, ob überhaupt irgendjemand frei geboren wird.

Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen

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