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Aufbruch und Ankunft

Es ist soweit. Heute werde ich Deutschland für unbestimmte Zeit verlassen. Ich stehe am Flughafen mit Daniel und zwei meiner besten Freundinnen, die gekommen sind, um sich von mir zu verabschieden. Wir machen Fotos mit einer selbst gebastelten Fahne, die auf der einen Seite Hamburg und auf der anderen Seite Kanada zeigt. In mir wühlen gemischte Gefühle, einerseits freue ich mich auf mein bevorstehendes Abenteuer und bin neugierig auf all das Neue, was mich erwartet, andererseits vermisse ich schon jetzt meine gewohnte Umgebung. Ich denke an meine gemütliche Wohnung in Barmbek, meine Freunde und meinen Sport. Mit einem kleinen Kloß im Hals winke ich meinen Freundinnen zu, bevor wir uns in die Warteschlange zur Security einreihen. Der Flug verläuft reibungslos, und mit einem bangen Gefühl gehe ich in die Ankunftshalle. Da ich keinen Rückflug gebucht habe, erwarte ich viele Fragen von dem kanadischen Grenzbeamten, aber stattdessen scanne ich meinen Reisepass an dem Automaten und beantworte die üblichen Fragen zur Einreise. Nachdem ich wahrheitsgemäß die Frage, ob ich Waffen bei mir trage, mit nein beantwortet habe, spuckt die Maschine den Zettel aus, der mich berechtigt, in Kanada einzureisen. Ich zeige dem Grenzbeamten den Zettel und darf passieren. Wir setzen uns ins Auto, und nach gefühlten 100 Stunden kommen wir in Quispamsis an und fallen todmüde ins Bett.

Bekanntlich soll es ja von Bedeutung sein, was man in der ersten Nacht in einem neuen Zuhause träumt. Leider kann ich mich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern, was mich in meinen Träumen beschäftigt hat. Ich weiß nur, dass ich sehr tief und fest geschlafen habe. Mit meinem Kaffeebecher in der Hand gehe ich durch das Haus und versuche mir vorzustellen, wie es mir in den nächsten Wochen hier gehen wird. Werde ich mich heimisch oder doch eher fremd fühlen? Daniel hat eines der ehemaligen Kinderzimmer für mich als einen Ort umgestaltet, in dem ich arbeiten und mich zurückziehen kann. Ich bin sehr gerührt, als ich den kleinen Sekretär, die Regale und den Lesesessel sehe, der dazu einlädt, sich mit einem guten Buch und einer Tasse Tee hinein zu lümmeln. Das kleine Fenster lässt den Blick auf den großen Garten frei, und ich fühle mich bereits jetzt sehr wohl in diesem Zimmer. Nachdem ich ein paar Fotos von meiner Familie und meinen Freunden, meinen Laptop und andere persönliche Dinge hinein gebracht habe, wird es noch mehr zu meiner privaten Oase.

Nach dem Frühstück machen wir einen Großeinkauf im nahe gelegenen Supermarkt. Obwohl ich es bereits von meinen Urlauben in Kanada kenne, bin ich immer wieder etwas eingeschüchtert von der Größe der Läden hier. Wir laufen mit dem Einkaufswagen durch breite, lange Gänge, und ich mir in Ruhe das Sortiment ansehen. Daniel ist aber eher pragmatisch und möchte zielgerecht einkaufen. Er geht schon mal vor, während ich vor einem Regal mit den Joghurts stehe und mich nicht entscheiden kann, ob ich lieber den fettarmen mit Himbeergeschmack oder den naturbelassenen ausprobieren soll. Schließlich fällt meine Wahl auf den eiweißreichen Joghurt mit Mangostücken, und ich schiebe den Einkaufswagen weiter, während ich mich gleichzeitig suchend nach Daniel umsehe. Wo ist er nur? Ich werde ein wenig unruhig und laufe ziellos durch die Gänge, bis ich ihn entdecke. Er steht am Milchregal und unterhält sich angeregt mit einem Mann. Wir werden einander vorgestellt. Der Mann ist ein ehemaliger Kollege von Daniel. Als er hört, dass ich aus Deutschland komme, sieht er mich neugierig an. Wie immer in solchen Situationen komme ich mir ein wenig exotisch vor. Nachdem wir uns verabschiedet haben, stellen wir uns in die Warteschlange zur Kasse an. Es gibt ordentliche Reihen, und niemand drängelt sich vor. Als wir an der Reihe sind, begrüßt uns die Kassiererin mit einem „How are you?“ Bei den ersten Malen war ich noch angenehm überrascht, dass die Angestellten im Supermarkt an meinem Wohlergehen interessiert sind und habe ausführlich geantwortet. Mittlerweile weiß ich, dass es nichts weiter als eine Begrüßungsfloskel ist, so wie bei uns „Guten Tag“, „Hallo“ oder „Moin“. Dennoch frage ich mich immer wieder, wie sie wohl reagieren, wenn ich ihnen eine lange Krankheitsgeschichte erzählen würde. Die Kassiererin, die übrigens stehen muss, greift bereits zu einer Plastiktüte und will gerade anfangen, die Waren einzupacken, als ich sie stoppe und freundlich mitteile, dass ich das selbst mache. Ich packe unsere Sachen in die Stoffbeutel, und die Angestellte fragt mich, ob ich hier arbeiten möchte. Offenbar beeindruckt sie meine in Deutschland lange Jahre erprobte schnelle und effiziente Packweise.

Nach dem Einkauf fahren wir zu Daniels Bank, wo ich ein Bankkonto auf meinem Namen eröffne und schließen einen Handyvertrag für mich ab. Ich bin sehr erstaunt, dass ich hier als Deutsche, mit nichts weiter als einem Touristenvisum ausgestattet, problemlos Verträge abschließen kann. Im Gegensatz zu Deutschland kann man diese Verträge auch jederzeit wieder kündigen. Abends gehen wir italienisch essen und lassen den Tag vor dem Kamin mit einem Glas eggnogg ausklingen. Die amerikanische Version von Eierlikör, das hier gerne zur Weihnachtszeit getrunken wird, und die Wärme des Feuers führen bei mir zu einer angenehmen Bettschwere.

Ein Leben ohne Sport ist möglich, aber für mich nicht denkbar. Aus diesem Grund habe ich Daniel gebeten, sich nach einem Fitnesstudio für mich umzusehen, bevor ich überhaupt hierher kam. Zum Glück gibt es auch eines, dass nur etwa 5 Autominuten von Daniels Haus entfernt ist. Ich darf in dem Studio eine kostenlose Probestunde mitmachen, und suche mir einen Zumbakurs aus. Die Trainerin kommt vor dem Kurs auf mich zu, und wir wechseln ein paar Worte. Sie ist sehr sympathisch und stellt mich den anderen Kursteilnehmerinnen vor, die fasziniert sind, als sie hören, dass ich aus „Germany“ komme. Zwei der Teilnehmerinnen waren schon mal in Deutschland und schwärmen davon. Der Kurs macht sehr viel Spaß, und die Gruppe scheint sich gut zu kennen. Hier kann ich vielleicht Freunde finden, denke ich und unterzeichne den Vertrag mit dem Fitnesstudio. Dabei hilft mir ein netter Mitarbeiter, und als Daniel kommt, um mich abzuholen, stellt sich heraus, dass sich die beiden kennen. Der Trainer ist mit Patricia befreundet und war früher viel in Daniels Haus zu Gast. Als er erfährt, dass ich selbst Trainerin bin, ist er begeistert und möchte mir am liebsten gleich Kurse übertragen. Dies ist leider nicht möglich, da ich als Touristin nicht in Kanada arbeiten darf, aber ich freue mich über das Vertrauen und sehe Möglichkeiten, wie ich hier zukünftig Geld verdienen könnte.

Am Nachmittag gehen wir mit Cu spazieren, und ich lasse meine neue Umgebung auf mich einwirken. Es ist sehr ruhig. Nur hin und wieder begegnen wir anderen Menschen. Dafür sehen wir um so mehr Rehe, die in aller Seelenruhe die Straße überqueren und auch vor Cu nicht weglaufen. Die Bäume sind noch bunt gefärbt, so dass ich in den Genuss vom Rest des von uns Deutschen genannten „indian summers“ komme. Es ist eine Woche vor Halloween, und fast alle Grundstücke sind bereits mit Gespenstern, Vampiren oder sonstigen Monstern dekoriert.

Später sitze ich in meinem Arbeitszimmer, blicke aus dem Fenster und denke über den Ort nach, in dem ich gelandet bin.

Quispamsis ist ein Ort im Kings County in New Brunswick mit 17.655 Einwohnern. Es liegt am Ostufer des Kennebecasis River, und die nächst größere Stadt ist Saint John. Von Daniels Haus erreicht man die Stadt in etwa 20 Minuten mit dem Auto. Ursprünglich war Quispamsis von Maliseeindianern bewohnt. Der Name Quispamsis bedeutet in der Sprache der Ureinwohner „Kleiner See“ und bezieht sich auf den in der Nähe gelegenen Ritchie Lake. Vor etwa hundert Jahren gab es hier fast nur Wald und ein paar Farmen. Jetzt ist es deutlich mehr besiedelt. Vor allem Familien lassen sich hier gerne nieder. Die meisten, die hier leben, arbeiten in Saint John. Ich würde es als eine Art Vorort von Saint John bezeichnen. Es gibt auch eine Bushaltestelle, allerdings hängt dort kein Fahrplan aus, und ich habe bisher auch noch keinen Bus gesehen. Dafür stehen vor jedem Haus mindestens ein,oft auch zwei oder mehr Autos, und zwar meist in der aus europäischer Sicht gefühlten Größe eines Kleinlasters. Ich befinde mich ganz klar in einem Land, in dem das Autofahren wie das tägliche Zähne putzen zum Leben dazu gehört. Als ich auf Kuba den Kanadiern gegenüber erwähnte, dass ich kein Auto habe, wurde ich angesehen, als sei ich ein Wesen von einem anderen Stern. Wenn ich mich hier unabhängig fortbewegen will, wird mir also nichts anderes übrig bleiben, als mich auch wieder an das Auto fahren zu gewöhnen.

Zwischen Fernweh und Heimweh

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