Читать книгу Mein innerer Käfig - Azin Heidari Nejad - Страница 5
ОглавлениеEs war warm. Bei dem Gedanken an deinen Blick, deine Stimme und den vertrauten Duft deines Körpers durchströmte mich ein Gefühl von Wärme. Welcher Tag, welcher Monat war es? Ich weiß es nicht.
Es war warm und dunkel. Bei Halbmond stand ich neben einer Trauerweide. Ihr Stamm war zu dünn, um mich vor deinem Blick zu verbergen. Er war zu dünn, als dass du mich nicht entdeckt hättest. Einige Stunden stand ich da, starrte auf die Straße und die Laterne, die einen Lichtfleck auf die Schwärze des Weges warf, der bis zur Weide führte. Bis zu mir? Ich weiß es nicht.
In Gedanken vermaß ich deinen Schatten. Den Schatten, der von dir bis an die Spitze meines Fußes am Ende des Weges reichen würde. Insekten umkreisten die helle Lampe wie ein Heiligtum. In der Dunkelheit war sie zu ihrer Sonne geworden.
Hin und wieder berauschten sich einige von ihnen so sehr daran, dass sie mit ihrem Körper gegen die heiße Lampe prallten. Sie stießen gegen ihre Sonne und verbrannten.
Ich stand direkt neben der Laterne.
Wenn du gekommen und in diesem Lichtschein stehengeblieben wärst, dann hätten alle Luftmoleküle zu tanzen begonnen und mir den Duft deines Körpers, die Wärme deines Blicks und dieses süße Lächeln in deinen Mundwinkeln überbracht.
Wenn du in jener Nacht gekommen wärst, hätte ich mich nicht mit einem Lächeln begnügt. Wenn du in jener Nacht das Licht durchquert hättest, wäre ich dir entgegengeeilt, bevor du mich am Ende des Weges erreicht hättest. Ich wäre auf dich zugeeilt und hätte dich in meine Arme geschlossen.
Ich hatte es mir fest vorgenommen. Aber du bist nicht gekommen.
Unvermittelt wurde ich aus einem Land voller Sonne, aus einer Zweimillionenstadt, aus einem gastfreundlichen Haus, aus Gassen voller Spielgefährten und Vertrauten, in eine Stadt mit gerade einmal siebzigtausend Einwohnern geschleudert, die mich nicht willkommen hieß, in der mich keiner erwartete und keiner kannte.
Als ich ankam, war es Herbst. Sieben Uhr abends. Nachdem ich die Koffer abgestellt hatte, ging ich hinaus, um mir noch ein wenig die Beine zu vertreten. Es regnete leicht und die alten Pflastersteine glänzten im Licht der Straßenlaternen.
Die Geschäfte waren geschlossen, einige Passanten mit Regenschirmen gingen vorüber. Ich blieb stehen. Ich hatte keinen Schirm und lechzte nach dem Regen. Ich bot meinen Körper den sanften Tropfen, die vom Himmel fielen, dar, nicht ahnend, dass es in den nächsten Tagen keine Spur von der heißen Sonne meiner Heimat geben würde.
Wieder blieb ich stehen. Vor mir erhob sich die alte Kirche der Stadt und Gott schaute aus der Höhe auf mich herab wie auf eine Ameise. Hinter mir war ein Modegeschäft. Ich wandte mich um. Von den Puppen in den beleuchteten Schaufenstern hatte eine die Hand in die Taille gestützt und das Kinn nach oben gereckt, eine andere ihre Brust herausgestreckt, verächtlich blickten sie mich an.
Es wurde acht Uhr und mir wurde klar, dass ich hier fremd war. Ich musste mein Ich vergessen. Ich musste die Sprache der Menschen von hier lernen. So machte ich mich auf den Rückweg, die Schritte schwer durch ein verschwommenes Gefühl von Angst, Neugierde und Heimweh. Die Auslage eines großen Buchladens lockte mich an. Mein Blick traf einen alten Bekannten, den »Kleinen Prinzen«. Als das Geschäft am nächsten Tag geöffnet war, kaufte ich das Buch.
»›Zieh es nicht so in die Länge, das ist ärgerlich. Du hast dich entschlossen zu reisen. So geh!‹, sagte die Rose zum kleinen Prinzen.«1
Ich suchte auch nach diesem Satz, aber fand ihn nicht:
»Was ist trauriger, als dass du kommst und niemand freut sich darüber? Dass du gehst und niemand bemerkt es!« Hatte ich diese Worte nicht in einer persischen Fassung des Buches gelesen? Aber vielleicht hatten sich vor der großen Reise meine Ängste zu diesen Gedanken in mir verdichtet.
1Antoine de Saint-Exupéry: »Der kleine Prinz«.