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Kapitel 2 Das Männliche wohnt im Reich der Freyheit, das Weibliche ist an die Erden gebunden Die Aufklärung legt den Grundstein der Ungleichheit

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Es war in diesen Jahren, als der Berliner Bankier Abraham Mendelssohn, am 16. Juli 1820, einen Brief an seine fünfzehnjährige Tochter Fanny schrieb und einen Vergleich mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Felix zog: »Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Thuns werden kann und soll; ihm ist Ehrgeiz, Begierde sich geltend zu machen … nachzusehen.« Es ehre Fanny, dass sie sich an dem Beifall freue, den der Bruder sich erworben hat. Dann folgt ein warnender Nachtrag an die Tochter: »Beharre in dieser Gesinnung und in diesem Betragen, sie sind weiblich, und nur das Weibliche ziert die Frauen.«

Zu verstehen ist diese eindringliche väterliche Ermahnung vor dem Hintergrund, dass Fanny und Felix Mendelssohn bis dahin eine gemeinsame musikalische Erziehung erhielten: exzellenten Klavierunterricht, für einige Zeit bei einer renommierten französischen Klavierlehrerin in Paris, dazu Unterricht in Komposition. Beide legten Alben an, in die sie ihre Kompositionen eintrugen. Fanny komponierte Lieder, Chöre, Klavierstücke. Die Geschwister waren miteinander sehr vertraut, tauschten ihre musikalischen Ideen auf gleichem Begabungsniveau miteinander aus. Das war der Zeitpunkt, als der Vater glaubte, eine eindeutige Trennung zwischen den Teenagern markieren zu müssen.

Beides war selbstverständlich: dass die musikalische Ausbildung des gerade einmal elf Jahre alten Felix nahtlos in einen Beruf als Musiker und Komponist übergehen würde und sein offensichtlicher Ehrgeiz deshalb gerechtfertigt war: ebenso sollte die vier Jahre ältere Schwester ihr sichtbares musikalisches Talent zurücknehmen, weil es im Leben einer Frau und der Definition von Weiblichkeit keinen Raum für beruflichen Ehrgeiz außerhalb des privaten Bereiches geben konnte. Sie hatte nur einen Beruf: Frau und Mutter zu sein.

Ein Jahr später, 1821, als die Familie von der Jägerstraße in das prächtige Palais in der Leipziger Straße 3 zog, endete die gemeinsame musikalische Ausbildung und das Zusammenleben der Geschwister in Berlin. Felix machte mit einem Lehrer die traditionelle Grand Tour junger Männer, um sich passende Kommunikationsformen und ein gewandtes Auftreten in der Öffentlichkeit für seine zukünftige Berufslaufbahn anzueignen. Leipzig, mit dem Gewandhausorchester Deutschlands Musikmetropole, Weimar, wo Goethe von dem klavierspielenden Wunderkind schwärmte, Paris, Süddeutschland, England waren die Stationen. Fanny, die von einer ähnlichen Bildungsreise nicht einmal träumen konnte, wurde zuhause durch Briefe von Felix Zuhause auf dem Laufenden gehalten.

Dass im Hause Mendelssohn – ab 1822 nannte man sich auf Initiative von Vater Abraham mit staatlicher Genehmigung Mendelssohn Bartholdy – die Lebenslinien von Schwester und Bruder bei gleicher Begabung in Bezug auf Ausbildung, berufliche und private Ziele radikal auseinander liefen, entsprach der Normalität im Verhältnis von Frauen und Männern. Friedrich Schlegel, Philosoph und Schriftsteller, dem Männerbund um Schiller und Goethe, dem Philosophen Fichte, dem Theologen Schleiermacher und romantischen Dichtern am Übergang zum 19. Jahrhundert verbunden, hat die herrschende Geschlechterdefinition plastisch auf den Punkt gebracht: »Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk.« Damit war für Fanny Mendelssohn und alle Frauen, die im 19. Jahrhundert ihr musikalisches Talent zum Beruf machen wollten, ein Berufsverbot ausgesprochen.

Was die Zeitgenossen den Frauen als ewiges und natürliches Gesetz predigten, wurzelte in einer Ideologie, gerade einmal fünf Jahrzehnte alt. Doch sie prägt das Verhältnis der Geschlechter bis ins 21. Jahrhundert. Und hat zu Emilie Mayers Zeiten auch die Entwicklung der Musik und das Leben der Frauen, die sich zu dieser Kunst berufen fühlten, zutiefst beeinflusst. Ohne die Anfänge dieser Entwicklung aufzudecken, ist das, was die Komponistin Emilie Mayer aus ihrem Leben machte und erreichte, nicht im Ansatz nachvollziehbar.

Am Anfang dieser Ideologie steht Jean-Jacques Rousseau, eine Ikone der französischen Aufklärung, der mit seiner politischen Schrift »Du contrat social« zum Kampf für eine offene moderne Gesellschaft aufgerufen hat: »Der Mensch ist frei geboren und liegt überall in Ketten.« Im gleichen Jahr 1762 erscheint sein Roman »Émile oder Über die Erziehung«, der bis weit im 19. Jahrhundert ein Klassiker in bürgerlichen Haushalten, vor allem auch in Deutschland, war. Im Zentrum des Buches steht ein junger Mann und damit die männliche Identität, die der Autor scharf von der weiblichen absondert. Der Mann »ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau aber ihr Leben lang Frau …« Mit »gewissen Augenblicken« ist der Zeugungsakt angesprochen; kaum vorüber, ist der Mann wieder der Alte und kann ungehindert im öffentlichen Leben auftreten oder einem Beruf nachgehen.

Die Frau dagegen ist als Gebärende – und damit Mutter – lebenslang auf die »Erhaltung der Gattung« festgelegt. Sie muss die Kinder großziehen, den familiären Haushalt führen, ist aufgrund ständiger Geburten endlos damit beschäftigt und also muss ihr Platz auf ewig im Haus sein. Im fünften und letzten Buch von »Émile« taucht Sophie auf, seine zukünftige Frau. Sie lernt nähen, kochen und erhält ein wenig Musikunterricht, um dem Ehemann das Leben zu verschönern, wenn er sich nach schwerer Arbeit zu Hause ausruht.

Mit der Premiere fundamentaler Geschlechterdifferenz aufgrund der biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau legt Jean-Jacques Rousseau am Beginn der Aufklärung den Grundstein für die daraus folgende Zurücksetzung und damit die Diskriminierung der Frau. Sie ist nun das »zweite Geschlecht« und – verglichen mit dem Mann – nach dem Gesetz der Natur kein vollwertiger Mensch. Auf diese Weise hat der prominente Vertreter der Aufklärung ein Dilemma gelöst. Sein Motto für eine neue Gesellschaft heißt ins Konkrete übersetzt: »Der Mann ist frei geboren …«

Keine dreißig Jahre zuvor war die Welt eine andere. Das »Grosse vollständige Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste«, von dem Buchhändler und Verleger Johann Heinrich Zedler gegründet, die umfassendste deutsche Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, bringt 1735 in Band 64 einen Eintrag zum Begriff »Geschlecht«. Es bedeutet »famille, Maison, die Abkunft, das Abstammen und Herkommen eines Menschen von dem anderen«, wie zum Beispiel das Geschlecht der Hohenzollern. Kein Hinweis auf eine biologische Definition, die den Menschen in Mann und Frau teilt. Entscheidend ist die soziale Komponente, die Menschen aufgrund einer gemeinsamen Abstammung verbindet. Eine Definition, die im westlichen Europa fast tausend Jahre das Verhältnis zwischen Frauen und Männern bestimmte.

Zweifellos prägten Männer in diesem Zeitraum Politik und Gesellschaft. Aber soziale Differenzen waren – im Gegensatz zu biologischen – flexibel, veränderbar und nicht das unumstößliche Grundgesetz. Frauen hatten über Jahrhunderte die Möglichkeit, ihre Talente außerhalb von Mutterschaft und Ehe auszuleben und öffentlich aufzutreten. Dass diese verbreitete weibliche Lebenswirklichkeit, von Frauen aus der Bürgerschicht, in den Geschichtsbüchern der Moderne keinen Platz findet, ist den Begründern der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert geschuldet.

Zu einer Zeit, als Frauen »natürlich« kein Gymnasium besuchen durften, geschweige denn eine Universität, haben die ersten hoch gerühmten Professoren der Geschichtswissenschaft die Quellen der Vergangenheit entlang der biologischen Geschlechterdifferenz gedeutet und so die Geschichte von Jahrtausenden grundlegend verzerrt und bis heute festgeschrieben. Als ob die Steinzeitmenschen – die Frauen Sammler, die Männer Jäger – nach dem Familienmodell des 19. Jahrhunderts lebten; als ob seit ewigen Zeiten allein Männer im öffentlichen Raum aktiv und Frauen auf Kinder, Küche und Kirche beschränkt waren und keinerlei Rechte besaßen.

Als Klara Runtinger 1390 in Regensburg Hans Graner heiratete, kamen die beiden größten Vermögen der Stadt zusammen. Wie unter Kaufmannsfamilien üblich, wurde im Ehekontrakt unter Zeugen festgelegt, dass Klara im gleichen Maße erbberechtigt war wie ihr Mann. Ihre Schwester Barbara heiratete 1401 ebenfalls einen wohlhabenden Regensburger Kaufmann. 1418 ging die Ehefrau wegen interfamiliären Vermögensstreitigkeiten vor den Rat der Stadt, und sie fand Gehör. Der Ehemann musste sich entschuldigen und »besonderlich versprechen, dass ich mit meiner Hausfrau Barbara fürbass freundlich und ordentlich leben soll und will«. Eine »Hausfrau« musste nach städtischem Recht im Mittelalter keineswegs Zuhause schweigend Unrecht erdulden.

Unabhängig von Ehestreitigkeiten waren die mittelalterlichen Runtinger-Frauen – wie die anderer Kaufmannsfamilien – nach der Heirat berufstätig. Sie arbeiteten am Wechseltisch oder verhandelten mit Interessenten im Gewölbe, wo die teure Ware lagerte. Sie erledigten die Geschäftskorrespondenz, wenn die Ehemänner auf Einkaufsreisen waren. In Köln betrieb die Frau des Kölner Kaufmanns Johann Liblar im 15. Jahrhundert unabhängig von ihrem Mann eine der größten Seidenfabriken der Stadt.

Die Schmetterlingsforscherin und Künstlerin Maria Sibylla Merian fand mit ihrem Buch »Der Raupen wunderbare Verwandelung …«, 1683 in Nürnberg erschienen, Anerkennung bei den Insektenforschern in ganz Europa. Sie trennte sich von ihrem Mann, lebte einige Jahre in einer christlichen Kommune in den Niederlanden, ließ sich mit ihren Töchtern in Amsterdam nieder und brach 1699 zu einer zweijährigen Forschungsexpedition in die Kolonie Surinam in Südamerika auf.

Einige wenige Frauenschicksale, die vor dem 18. Jahrhundert für viele stehen. Als sich die biologische Geschlechter-Polarität der Aufklärung mit Rousseaus »Émilie« in den bürgerlichen Kreisen durchsetzte, war Frauen die Grundlage entzogen, ein selbstbewusstes eigenständiges Leben führen zu können. Vor allem jenseits des Rheins im deutschen Kulturraum fand dieses Frauenbild schnelle und breite Resonanz. In seiner Schrift »Ueber die Weiber« erklärt 1787 der Jurist Ernst Brandes: »Die Natur wollte das Weib zu keinem selbständigen Wesen schaffen. Das Weib soll sich dem Manne nachbilden, ihm nachgeben. … Es zeigt sich, dass im Ganzen die Weiber … zum Leben in der häuslichen Gemeinschaft, nicht zum Treiben und Wirken in den größeren bürgerlichen Verbindungen, nicht zum öffentlichen Leben bestimmt sind …«

Poetisch beschreibt der Schriftsteller, Pädagoge, Verleger und überzeugte Anhänger der Aufklärung Joachim Heinrich Campe 1789 im »Vaeterlichen Rath für meine Tochter« das unentrinnbare Schicksal der Frauen: »Es ist also der übereinstimmende Wille der Natur und der menschlichen Gesellschaft, dass der Mann des Weibes Beschützer und Oberhaupt, das Weib hingegen die sich ihm anschmiegsame, sich an ihn haltende und stützende, treue, dankbare und folgsame Gefährtin sey – er die Eiche, sie der Epheu …«

Es dauerte nicht lange, bis dieses neue, plakativ einseitige Geschlechter-Modell im Staatsapparat angekommen war, wo Bürokraten es umgehend in Gesetze gossen. Am 5. Februar 1794 trat das »Allgemeine Landrecht für die preussischen Staaten« in Kraft. Darin wurde die autoritäre Stellung des Ehemannes festgeschrieben und er zum »Haupt der ehelichen Gemeinschaft« erklärt. Die Rechte, die einer Frau im angeblich dunklen Mittelalter zustanden, verschwanden über Nacht. Nun wechselte bei der Heirat eine Frau aus der Vormundschaft des Vaters in die des Ehemannes, weil sie für sich selber nicht verantwortlich sein konnte. Er allein war »befugt, die Person, die Ehre und das Vermögen seiner Frau in und außer Gerichten zu verteidigen«. Höhepunkt der staatlichen Gängelei: »Eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu säugen verpflichtet.« Höhepunkt der rechtlich verbrieften Gewalt des Ehemannes: »Wie lange sie aber dem Kind die Brust reichen solle, hängt von der Bestimmung des Vaters ab.«

Als 1896 im Reichstag zu Berlin die dritte und letzte Lesung des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) für das Deutsche Kaiserreich ansteht, kämpft die Frauenbewegung mit Kundgebungen, Demonstrationen und Unterschriftenlisten dafür, die Rechtlosigkeit der Frau endlich aufzuheben und sie dem Mann gleichzustellen. Vergeblich, denn Rechtsfragen sind Machtfragen, das wissen die führenden Männer in Staat und Gesellschaft nur zu gut.

Als das BGB am 1. Januar 1900 in Kraft tritt, hat der Ehemann weiterhin »in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten« das letzte Wort und das betrifft auch die gemeinsamen Kinder. Die meisten Familien-Paragrafen des BGB hatten in der Bundesrepublik Deutschland bis 1958 Gültigkeit; erst die umfassenden Reformen von 1977 schufen juristisch eine Gleichstellung von Frau und Mann. Geschichte ist kein Museum. So paradox es auf den ersten Blick aussieht: Die Wurzeln dieser frauenfeindlichen Gesetze gehen zurück auf die Aufklärung und ihr polarisierendes Geschlechter-Verhältnis, das mit dem ewigen Gesetz der Natur begründet wurde.

Es gab auch Widerstand gegen das einseitige Geschlechter-Bild. Einer, der radikal das Wort für die Emanzipation der Frau ergriff, war Theodor Gottlieb von Hippel, Jurist, Schriftsteller, Stadt- und Polizeipräsident von Königsberg. 1778 erschien seine Schrift »Über die Ehe«, 1792 folgte ein weiteres Werk »Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber«. Der Hauptvorwurf des hohen Beamten an seine Geschlechtsgenossen: dass die »Weiber bloß Privilegia und keine Rechte haben; dass der Staat sie nur »wie parasitische Pflanzen behandelt, die ihr bürgerliches Dasein und ihren Wert nur dem Manne verdanken …« Ginge es nach gleichem Recht, müsste der Staat den Frauen »persönliche Freiheit und Unabhängigkeit wiedergeben« und ihnen »Cabinette, … Hörsäle, Comptoire und Werkstätten« öffnen. Stattdessen »erniedrige man ein ganzes Geschlecht zur Sklavenklasse«.

Ironisch nimmt Hippel die Einwände gegen Gleichberechtigung auf: »Schwangerschaft und Kindbette. Dacht’ ich es … Darum, Lieber, hätte die Natur die Weiber für unfähig zu regieren erklärt? Gehen denn S. Exzellenz nicht jährlich ins Bad?« Unter dem Deckmantel der Aufklärung und dem Vorwand von Naturgesetzen werden für den Juristen die Errungenschaften der Vernunft – und damit der Kultur – wieder beseitigt: »Im rohen Naturzustande entscheidet bloß das Recht des Stärkeren … wenn der Mensch die innige Überzeugung erreicht hat, dass die Vernunft das einzige Vorrecht sei, welches uns über das Tier erhebt, dann schwindet das Recht des Stärkeren …« Mit Hilfe der Vernunft »hat sich der Mensch zur hohen Stufe der Kultur hinaufgeschwungen«. Die logische Folge wäre: »Eiche« und »Efeu« begegnen sich auf Augenhöhe.

Der Stadtpräsident von Königsberg war ein einsamer Rufer in der gesellschaftlichen Wüste. Dichter und Denker führten unter Deutschlands bürgerlich-gebildeten Eliten das große Wort. Vorweg Goethe und Schiller, für die das Thema »Frauen« eine magisch-manische Anziehungkraft hatte. Schiller vor allem dichtete gegen Ende der 1790er Jahre unermüdlich über »Die Würde der Frauen«, »Die berühmte Frau« und breitete im »Lied von der Glocke« das ideale Familienleben, die naturgegebenen Rollen von Mann und Frau in üppigen Bildern aus: »Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben, / Muss wirken und streben / Und pflanzen und schaffen, / Erlisten, erraffen, / … Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, / Die Mutter der Kinder, / Und herrschet weise im häuslichen Kreise / … und reget ohn Ende / Die fleißigen Hände …«

Mochte Schillers gute Bekannte Caroline von Schlegel mit ihrer Familie über diese Zeilen »vor Lachen fast von den Stühlen gefallen sein«. Tausende haben dieses beschwörende Bild durch das ganze folgende Jahrhundert und darüber hinaus gelesen, zitiert und als Abbild der guten alten Zeit ernst genommen.

Die Denker waren ebenso bemüht, die grundsätzliche und wertende Differenz zwischen Männern und Frauen als Naturgesetz zu etablieren. 1795 schreibt Wilhelm von Humboldt »Ueber den Geschlechterunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur«: »Alles Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit«. Für den Bruder des berühmten Entdeckers Alexander von Humboldt, Gelehrter und Staatsmann, ist der Unterschied der Geschlechter eine Tatsache, »welche die Natur zu einer sich so scharf entgegengesetzten Verschiedenheit bestimmt hat«. Im Jahr darauf stellt der Philosoph Johann Gottlieb Fichte in seiner »Grundlage des Naturrechts« die Behauptung auf, die Passivität der Frau – aktiv, selbsttätig ist ja von Natur aus der Mann – führe zu ihrem »fortdauernden nothwendigen und ihre Moralität bedingenden Wunsch, unterworfen zu sein«. Wäre diese Unterwerfung nicht »unumschränkt«, würde die Frau sich »ohne Zweifel« selbst »tief herabwürdigen«. Deshalb, so der Philosoph, tritt sie ihm bei der Heirat selbstverständlich alles ab – Rechte, Besitz, Identität.

Noch einmal Protest gegen diese pseudophilosophischen Anmaßungen, diesmal aus weiblicher Perspektive: »Denkt etwa unser Geist nach anderen logischen Gesetzen? Nimmt er die Dinge der Außenwelt anders auf, als die Männer?« Was als überflüssige Frage erscheint, wird von der Pädagogin und Frauenrechtlerin Amalie Holst 1802 in ihrer Schrift »Über die Bestimmung des Weibes zur Höhern Geistesbildung« vehement verneint. Sie fordert gleiche Bildung für Frauen und Männer; empfiehlt Frauen die Lektüre des Königsberger Stadtoberhauptes von Hippel und schreckt nicht davor, in Richtung berühmter Zeitgenossen von »Weiberhassern« zu reden.

Mutig, aber erfolglos. Auch die wissenschaftlichen Autoritäten stellen sich auf die Seite der Dichter und Denker, wenn es um die »Physiologie des Menschen« geht. Der Chirurg und Augenarzt Philipp Franz von Walther hat 1807 keine Zweifel: Das Männliche »ist das Erschaffende, wahrhaft Erzeugende, Positive, das Weibliche ist lediglich das Empfangende, Negative … Das Männliche aber wohnt im Reich der Freyheit … das Weibliche ist an die Erden gebunden …« Fazit: »Durchaus ist das Männliche das edlere.«

Mit dem »Conversations-Lexicon Brockhaus« ist das radikalgegensätzliche Verhältnis der Geschlechter 1824 im bürgerlichen Bücherschrank angekommen. Es verkündet ohne weitere Erklärungen, dass sich beide Geschlechter weit zurück in der Naturgeschichte entzweit haben – »in das zeugende, schaffende und das empfangende … oder das männliche und weibliche«. Das Männliche sei »im Verhältnis zum weiblichen das Stärkere, jenes sich unterwerfende«.

Aber darin erschöpft sich der biologische Unterschied von Frauen und Männern keineswegs, so das Lexikon. Er hat grundsätzliche Folgen für Charakter, Verstand und Stellung im Leben: »Der Geist des Mannes ist … aus sich heraus in das Weite wirkend … zur Verarbeitung abstracter Gegenstände, zu weitaussehendem Planen geneigt.« Während sein Platz im »öffentlichen Leben« ist, begrenzt das Naturgesetz das Wirken der Frau auf den »stillen häuslichen Kreis«.

Damit ist auch das Verhältnis von Frauen und Männern zur Musik fundamental gegensätzlich bestimmt. Als Abraham Mendelssohn im Juli 1820 seine Tochter Fanny beschwor, ihr musikalisches Talent ihren weiblichen Verpflichtungen unterzuordnen und im Gegensatz zu ihrem Bruder in diese Richtung keinen Ehrgeiz zu entwickeln, hatte er die bürgerliche Bildungselite zu neunundneunzig Prozent auf seiner Seite.

Emilie Mayer

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