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Kapitel 4 Friedland war nicht der Ort, um in der Tonwissenschaft sich zu vervollkommnen 1831–1840

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Im Frühjahr 1831 warnten die Zeitungen in den preußischen Provinzen vor dem »Einrücken des Feindes in unsre Gränzen«. Aus dem Osten käme nicht mehr das Heil, sondern »das Verderben«. Was nach einem Überfall feindlicher Heere klang, war die Warnung vor der ersten Pandemie der späten Neuzeit in Europa. Um anzudeuten, dass es um mehr als ein medizinisches Phänomen ging, wurde die Cholera, die unsichtbar, aber todbringend von Russland in Richtung Westen vorrückte, als »asiatische Cholera« gekennzeichnet.

Die staatlichen Stellen in Preußen beschlossen den Medizinern zu glauben, die von einer Übertragung von Mensch zu Mensch ausgingen, während andere von einer Ansteckung durch die Luft überzeugt waren. Soldaten riegelten Preußens Grenze von der Ostsee bis hinunter nach Österreich ab. In Friedland, wo inzwischen rund 4.500 Menschen lebten, wurden zusätzlich Männer auf die Felder rund um die Stadtmauern beordert, damit kein Fremder unbemerkt den Ort betreten konnte. Auch wenn es keine wirkungsvollen Medikamente gegen die Cholera-Bakterien gab, war Ratsapotheker Mayer sicher Tag und Nacht im Dienst. Denn jedes Mittel war recht, um Erbrechen und Durchfall, die jedes Maß überstiegen und in wenigen Stunden zum Tod führten konnten, vielleicht etwas zu lindern. In manchen Orten wurden von verzweifelten Menschen die Apotheken geplündert.

Der menschliche Schutzwall hielt die Cholera nicht auf. Im September 1831 gab es die ersten Choleratoten in Berlin. In Preußen starben insgesamt 40.000 Menschen. Die Pandemie zog weiter; in Spanien, das ebenfalls 13 Millionen Menschen hatte, verloren 300.000 ihr Leben. Familie Mayer im pommerschen Friedland überlebte die Katastrophe. Im Mai 1831 war Emilie neunzehn Jahre alt geworden.

Friedrich August, der älteste Bruder aus der ersten Ehe des Vaters, hatte inzwischen die Apothekerlaufbahn eingeschlagen. Carl Friedrich Eduard, ein Jahr vor Emilie geboren, wollte Arzt werden. Alexander Friedrich Wilhelm, der jüngste Bruder, entschied sich ebenfalls für den Beruf seines Vaters. Louise lebte mit der drei Jahre jüngeren Emilie im väterlichen Haushalt. Für die beiden Schwestern hieß das Lebensziel: eine standesgemäße Heirat, um den angeborenen Beruf als Ehefrau und Mutter auszufüllen.

1835 machte sich Friedrich August als Apotheker in Stettin selbstständig, wo Unternehmer und Kaufleute Handel und Wandel erfolgreich vorantrieben. Spätestens 1839 ließ sich Carl Eduard als Mediziner in der angesehenen Universitätsstadt Halle nieder, und Louise heiratete den Mediziner Dr. Bertuch in Pasewalk, fünfunddreißig Kilometer östlich von Friedland. Ebenfalls 1839 übergibt Johann August Friedrich Mayer die Ratsapotheke an seinen jüngsten Sohn, der im Mai 1840 die Tochter des Bürgermeisters von Friedland heiratet. Der Vater konnte zufrieden sein: vier seiner fünf Kinder sind nach bürgerlichem Maßstab gut versorgt, ob als Ehefrau oder Männer in angesehenen Berufen. Und mit der Heirat von Alexander Friedrich Wilhelm würde Familie Mayer auch in der nächsten Generation die Ratsapotheke mit Leben füllen.

Nur die Zukunft von Emilie Mayer, die im Mai 1840 achtundzwanzig Jahre alt wurde, ist noch offen. Kein Dokument, kein Blick zurück öffnet auch nur einen winzigen Spalt auf die Jahre, als aus dem »liebenswürdigen, stets heiteren und naiven Mädchen«, das seine Umwelt am Klavier mit eigener Musik erfreute, eine junge Frau wurde. Ob sie ihrem Talent treu geblieben ist, mit dem Organisten Driver weiter am schwierigen Fach »Komposition« gearbeitet und auch ihr Klavierspiel vervollkommnet hat? Die Antwort darauf liegt in der Zukunft und die kommt schneller als gedacht.

Für den Vater scheint seine Tochter Emilie im Kreis der Geschwister gut aufgehoben und fähig, ihr Leben ohne väterlichen Beistand zu bestehen. Der siebenundsiebzigjährige Johann August Friedrich Mayer trifft am 28. August 1840 eine einsame Entscheidung und setzt seinem Leben im Haus der Ratsapotheke mit einem Pistolenschuss ein Ende. Auf den Tag vor sechsundzwanzig Jahren hat er den Sarg mit seiner zweiten Frau zum Friedhof begleitet.

Kein Wort darüber in ihrer kurzen Biografie, die Emilie Mayer am 4. Juli 1870 dem Musikkritiker Wilhelm Tappert in einem Brief skizziert. Nach dem Hinweis auf den Unterricht bei Driver und dass sie schon bald »Variationen, Tänze, kleine Rondos ect.« komponierte, geht es nahtlos im Lebenslauf weiter: »Da Friedland nicht der Ort war, um in der Tonwissenschaft sich zu vollkommnen, ging ich nach Stettin und wurde Loewes Schülerin von 40 bis 47 mit bedeutenden Unterbrechungen.« Die Aussage ist eindeutig: Nach dem selbst gewählten Tod ihres Vaters packte Emilie Mayer ihre Habseligkeiten zusammen und hat sich noch 1840 mit der Postkutsche von Friedland nach Stettin auf den Weg gemacht. Vielleicht hat der älteste Bruder, der seit fünf Jahren in der aufstrebenden Stadt an der Oder eine Apotheke leitete, seine Schwester abgeholt. Denn eine Dame reiste in damaligen Zeiten nicht allein.

Es traf sich bestens, dass in Stettin seit gut fünfzehn Jahren Carl Loewe, der als Komponist und Sänger einen internationalen Ruf hatte, erfolgreich als städtischer Musikdirektor wirkte. Durch ihre familiären Beziehungen zu erfahren, dass Loewe Schülerinnen im Fach »Komposition« unterrichtete, wird Emilie Mayer nicht schwer gefallen sein. Die Entschiedenheit, mit der sie als Achtundfünfzigjährige rückblickend diesen Entschluss und die radikale Wende in ihrem Leben beschreibt, lässt zwei Schlüsse zu: Für die achtundzwanzigjährige Emilie Mayer hat die Musik und der kreative Umgang mit den Tönen nichts an Bedeutung verloren, im Gegenteil. Sie hat sich in den langen Jahren in Friedland gedanklich darauf vorbereitet, einen günstigen Augenblick zu nutzen, um ihr Lebensziel zu realisieren – Komponistin zu werden. Wusste sie, worauf sie sich als Frau mit dieser Entscheidung eingelassen hatte?

Es ist an der Zeit, zu erfahren, welcher gewaltige Umbruch im Reich der Musik parallel zum polarisierten Verhältnis von Mann und Frau stattgefunden hat, und wie sehr die neue radikal ungleiche Stellung der Geschlechter sich auf die Arbeit und das Leben von Frauen auswirkte, die für diesen künstlerischen Bereich Talente und Fähigkeiten besaßen.

Emilie Mayer

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