Читать книгу ... kannst du mich verstehen? - Barbara Namor - Страница 10

Kapitel 8: Mittwoch, 12.2. – 18 Uhr 58

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Von den fünfzehn Hühnerbeinen liegen nur noch abgenagte Knochen auf dem Tisch. Das Essen war großartig. Ich vermute, Brian könnte auch auf einer Feuerzeugflamme ein Dreigangmenü für eine Kompanie kochen, wenn es nötig sein sollte. Ich bin heilfroh, dass er uns heute hier besucht, denn mit so großen Mengen komme ich beim Kochen nicht gut zurecht. Er schon.

Niemand macht Anstalten, die Küche aufzuräumen, so wie es sonst vollkommen selbstverständlich ist; die lassen ganz bewusst einmal für ein paar Stunden die Zügel schleifen. Für mich fühlt sich das an wie die Ruhe vor dem Sturm. Es liegt etwas in der Luft und ich weiß nicht, um was es sich dabei handeln könnte. Aber ich habe den dringenden Verdacht, dass ich diesmal nicht damit wegkomme, nur unbeteiligte Zuschauerin zu bleiben. Das dämpft meine Stimmung ein wenig. Ich lehne an Toms Schulter und höre einfach zu.

Alle erzählen reihum haarsträubende Geschichten von Missgeschicken, die ihnen in ihrem Job zugestoßen sind. Nie fallen dabei Namen, weder von Zielpersonen noch von den Orten, an denen sich die Szenen abgespielt haben. Brian berichtet unter allgemeinem Gelächter, wie er sich bei einer Observation mit seinem damaligen Partner als vermeintliches Pärchen in einen Schwulenklub einschleichen musste und dort eine wilde Eifersuchtsszene ausgelöst hatte, weil er einem der Gäste offenbar sehr gut gefiel. Frank erzählt davon, wie eine seiner Operationen aufflog, weil in dem Pool, in den seine Zielperson sprang, unbemerkt zuvor ein großer Alligator eingezogen war – als der auftauchte, sah sich Frank gezwungen, sofort und ohne Rücksicht auf seine Deckung einzugreifen. Und Rob gibt zögernd preis, wie das war, als wir uns auf Langeoog kennenlernten. In diesem Kreis kann er ohne Bedenken erzählen, wie ich ihn damals in den Dünen mit seinem ausgerenkten Knöchel gefunden hatte. Dummerweise war ihm der Unfall in einem Funkloch zugestoßen und sein Kontaktruf bei Jeff war bald nach dem Missgeschick fällig. Aus diesem Funkloch schaffte ich ihn heraus, indem ich von einer Weide ein Pferd stahl und mit Rob, der sich so fest an mich klammerte, dass ich kaum atmen konnte, einen tollen Ritt den Strand entlang erlebte. Rund um den Küchentisch grölen alle vor Lachen – es ist bekannt, dass Rob sich Tiere gern vom Leib hält und vor allem keine Pferde mag.

Tom, der noch am nüchternsten scheint, meint: „Davon steht aber kein Wort in deinem Bericht von damals.“

Und Jeff gesteht lachend: „Ja, die Episode war so schräg, die haben wir ganz rausgelassen. Hätte sowieso niemand geglaubt. Wir ließen einfach unerwähnt, dass sich Rob verletzte und dass wir den Rest der Observation dann in einem halben Meter Entfernung von der Zielperson durchgeführt haben.“ Und bevor Tom sich dazu kritisch äußern kann, setzt Jeff hinzu: „Wir pflegen doch alle unsere kleinen Geheimnisse, was unsere Arbeit im Zusammenhang mit Sara angeht, oder?“

Bis weit nach Mitternacht sitzen wir beisammen. Joe hat wohlweislich reichlich zu knabbern von seinem Einkauf mitgebracht, es wird weiter gegessen und getrunken und viel gelacht. Joe schläft am Ende einfach am Tisch ein. Als Brian ihn sich auf die Schultern packt, um ihn ins Bett zu verfrachten, löst sich die Runde langsam auf.

Tom gibt noch die Parole aus: „Frühstück um zehn. Einsatzbesprechung um elf.“ Damit ist der schöne Abend endgültig vorbei.

Als ich mit Tom schließlich im Bett liege, fühle ich mich ziemlich müde – der Tag hat für mich ja reichlich früh begonnen. Obwohl ich neugierig bin, frage ich nicht, was Tom morgen für einen Einsatzbefehl ausgeben wird. Da Ur mich immer wieder zwingt, mich ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, weil alle Äußerungen auf Ur mit einmaligen Raum-Zeit-Koordinaten unterlegt sind, fällt es mir nicht schwer zu akzeptieren, dass auch Tom und seine Kollegen sich bemühen, möglichst in der Gegenwart zu leben.

Im Bett liegt Tom wie meistens hinter mir, sodass sich mein Rücken an seine Brust schmiegt. Sein Arm ruht warm auf meiner Seite – ich fühle mich ganz geborgen. Er wünscht mir eine gute Nacht und küsst zärtlich meinen Nacken. Aber ich will noch nicht schlafen.

„Tom?“

„Hmmm.“

„Warum verstehe ich mich mit dieser Truppe so gut?“

„Hmmm? Wie meinst du das?“

„Du weißt doch, wie meine Zeit war, bevor ich euch kennengelernt habe. Du hast meine Biografie und die Akte über mich so oft gelesen, du müsstest sie auswendig kennen. Also warum?“

„Warum was?“ Tom klingt schläfrig.

„Warum verstehe ich mich mit diesen Menschen aus meinem Team so gut?“

„Freu dich doch einfach drüber!“

„Tu ich ja. Aber ich begreife nicht, weshalb in diesem Kreis nie die Probleme auftauchen, mit denen ich zum Beispiel an der Schule immer kämpfen musste. Du weißt, dass ich jahrelang furchtbar ausgegrenzt worden bin. Und du weißt auch, wie ich darunter gelitten habe. Aber ich wusste wirklich nicht, was ich dagegen tun sollte. Ich war schlichtweg anders als meine Mitschüler und das mochten die nicht. Die ahnten nichts von Ur, aber gespürt haben sie den Unterschied schon. An der Uni ist es jetzt zwar anders, viel besser, aber ich gehöre wieder nicht wirklich dazu. Wieso habe ich das Problem mit dir und deinen Kollegen nicht?“

Tom seufzt. Ich merke förmlich, wie er sich zwingt, wieder ein paar Grade wacher zu werden, weil er fühlt, dass ich mir eine Antwort auf meine Frage dringend wünsche. Dann sagt er: „Kinder sind in mancher Beziehung ziemlich verschieden von erwachsenen Menschen. Ich habe immer den Eindruck, dass es für Kinder unheimlich wichtig ist, eine Hackordnung festzulegen und dafür zu sorgen, nicht zu weit unten zu landen. Selbstbewusstsein spielt dabei eine große Rolle. Wer sich seiner selbst, der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten genau bewusst ist, kann sich auch gut einschätzen. Kinder und Jugendliche können das meist noch nicht. Die wollen nur an die Spitze der Hackordnung, ob sie da nun hingehören oder nicht. Und wer sich selbst das Meiste zutraut, berechtigt oder nicht, landet gern mal ganz oben. Du bist krass anders gewesen als Kind und als Jugendliche – du wusstest genau über dich Bescheid und auch über deine Mitschüler, kanntest deine und ihre Stärken und Schwächen. Das haben die gespürt und es war ihnen wahrscheinlich verdammt unangenehm, dass niemand dir etwas vormachen konnte. Diese Art von Überlegenheit hat sie zum Widerstand gegen dich herausgefordert. Die haben auf dir herumgehackt aus Angst, dass du sonst ganz oben auf der Hühnerleiter landest und sie unter deine Fuchtel bringst.“

„Aber das war doch überhaupt nicht mein Ziel! Ich wollte bloß dazugehören.“

Tom streichelt meinen Rücken. „Das wussten die aber nicht. Da hat sich niemand je die Mühe gemacht, überhaupt herauszufinden, wer du wirklich bist – deine Freundin Jule stellt diesbezüglich allerdings eine Ausnahme dar. Jetzt mit den Leuten aus dem Dienst liegt der Fall vollkommen anders. Bei meinem Verein sind nur hochkarätige Fachleute beschäftigt. Handverlesen. Jeder einzelne ein Spezialist. Abgesehen von der militärischen Ausbildung ist dafür gesorgt worden, dass alle über eine gute Allgemeinbildung verfügen und so schnell mit keinem Thema zu verblüffen sind. Darüber hinaus hat jeder von den Mitarbeitern im Dienst gelernt, selbstständig zu denken und zu entscheiden, wenn nötig. Es ist schwieriger, den Leuten das beizubringen als bloße Disziplin, das lass dir mal gesagt sein.“

Ich drehe mich zu Tom um, sodass ich ihm im Schummerlicht, das durch die Vorhänge dringt, ins Gesicht sehen kann. „Ich weiß, wie toll die Leute ausgebildet worden sind, aber was hat das mit deren Einstellung mir gegenüber zu tun?“

Tom streicht mir mit einer behutsamen Bewegung die Haare aus der Stirn: „Du bist etwas ganz Besonderes, Sara. Meine Kollegen sind es aber auch. Und die wissen das. Niemand muss sich vor dem anderen klein oder unbedeutend fühlen. Jeder kennt die Stärken der anderen. Brian verdient eigentlich ein paar Sterne als Koch und kann mit einer Hand bestimmt einen Panzer aufhalten. Jeff bringt alles zum Fahren, was sich dazu eignet und gäbe wahrscheinlich in mancher Rennserie einen heißen Titelfavoriten ab. Außerdem kann er wie ein Chamäleon von einem Augenblick zum nächsten seine Rolle wechseln. Als Beschatter ist er unschlagbar, denn er verschmilzt immer vollkommen mit seiner Umgebung. Rob bringt alles zum Funktionieren, was mit Strom betrieben werden kann – egal ob Baujahr 1950 oder 2000. Aber, wenn ich einen Scharfschützen brauche, um dem Weihnachtsmann im Dienst die Mütze vom Kopf zu schießen, ohne dass der einen Kratzer abbekommt, dann frage ich Rob. Frank ist ebenfalls eine Kampfmaschine, aber nebenbei einer der besten Beobachter, die ich je kennengelernt habe. Man lässt sich gern durch sein Aussehen täuschen und traut ihm nicht viel Feingefühl zu, aber das ist ein fataler Fehler. Und Joe, tja, der ist noch ein bisschen auf der Suche nach sich selbst. Aber er ist ja auch mit seinen fünfundzwanzig Jahren der Jüngste in unserem Haufen. Er ist jedenfalls schwer zu verblüffen und hat hervorragende Reaktionen. Manchmal ist er allerdings auch ein bisschen voreilig. Ich nehme an, Jason hat ihn unter anderem deshalb zum Psychologiestudium verdonnert, damit er sich besser in andere Menschen hineinversetzen kann. Bisher gehen nämlich Joes flotte Reaktionen gelegentlich ein wenig an der Situation vorbei, aber das kann man ändern. Sara, die ganze Truppe schätzt dich unter anderem, weil du einzigartige Fähigkeiten beherrschst. Aber da kommt keine Konkurrenz auf, kein Unterlegenheitsgefühl, weil jeder von uns sich seiner eigenen Stärken sehr bewusst ist. Selbstbewusst eben. Ich vermute, hier liegt der Unterschied zwischen deiner Umgebung als Kind und deinem heutigen Umfeld. Jeder Einzelne hier mag dich darüber hinaus wirklich gern. Als Person. Deshalb fühlst du dich unter diesen Leuten so wohl. Hättest es gar nicht besser treffen können.“

„Und du, Tom?“

„Ich finde, dass man sich in deiner Nähe ganz furchtbar wohlfühlen kann. Und ich hoffe, dass sich nicht herumspricht wie sehr, denn sonst müsste ich Konkurrenz befürchten. Stell dir das Massaker vor, wenn wir Kämpfer und Personenschützer uns alle um dich balgen!“

„Tom? Ich bin hier bei euch glücklich. Und ich liebe dich.“


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