Читать книгу ... kannst du mich verstehen? - Barbara Namor - Страница 11

Kapitel 9: Donnerstag, 13.2. – 9 Uhr 02

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Meinen inneren Wecker habe ich auf neun Uhr gestellt, um dafür zu sorgen, dass Küche und Bad wieder einen einladenden Eindruck machen, wenn alle zum Frühstück auftauchen. Schließlich fühle ich mich ein bisschen als Gastgeberin meiner Freunde. Aber ich bin zu spät dran. Als ich die Küche betrete, sitzt Jeff schon da und liest unsere Zeitung, vor ihm steht ein dampfender Topf Kaffee. Brian schimpft leise, dass man mit nur zwanzig Eiern als Ausgangsbasis doch kein anständiges Frühstück für sieben Personen servieren kann und vom Gelage vom Vorabend ist nichts mehr zu sehen. Ich verschwinde leicht verlegen im Bad und bemühe mich eisern, die Zeit von exakt fünf Minuten einzuhalten, die jedem hier gewohnheitsgemäß bei voll belegter Wohnung zugestanden wird.

Rob hat Brötchen geholt und das Frühstück verläuft deutlich ruhiger als der Vorabend. Ich kann hinter den paar Bemerkungen, die hin und her fliegen, hören, wie sich die Erwartung langsam in Spannung verwandelt.

Ich habe wenig Appetit; wenn ich nervös bin, esse ich nicht gern. Und ich fühle mich jetzt ziemlich nervös.

Joe taucht erst kurz vor elf auf. Er wirkt einigermaßen blass und sieht so aus, als bräuchte er heute kein Frühstück. Ich weiß, dass Tom es nicht leiden kann, wenn ich andere Leute auf Ur anpeile. Deshalb dränge ich Joe nach ein paar Minuten einfach auf den Flur. Er sieht mich fragend an. Ich lege nur den Finger auf die Lippen und schalle ihn leise. In seinem Kopf brummt in den Echos für mich deutlich hörbar ein gereizter Bienenschwarm und seine Magensäfte brodeln bedrohlich: Ihm ist schlecht. Damit nichts zu hören ist, lege ich ihm einfach meine Hände erst aufs Haar, dann auf den Bauch und übertrage lautlos ein paar direkte Signale, die ihn wieder ins Gleichgewicht bringen sollen. Danach sieht Joe um einiges lebendiger aus. Tom schaut nur knapp aus der Zeitung auf, die Jeff offenbar an ihn weitergegeben hat, als er bei unserer Rückkehr in die Küche tadelnd meint: „Sara, glaub nicht, das hätte ich nicht mitbekommen.“

Manchmal schätze ich die gute Ausbildung nicht, die der Dienst seinen Mitarbeitern vermittelt!

Punkt elf klappt Tom seine Zeitung zu. Er hat eine Mappe mit in die Küche gebracht und verteilt daraus an jeden der Anwesenden einen kleinen Stoß Papier – nur ich gehe leer aus. Sollte ich mich doch getäuscht haben und es steht nicht mein erster Einsatz für den Dienst bevor? Ich hätte darauf schwören können …!


„Alle wach?“, fragt Tom, um die Sitzung zu eröffnen, und wieder einmal höre ich deutlich, dass er sozusagen seine dienstliche Stimme ausgepackt hat. Wenn er eine Operation plant, klingt er ganz anders als sonst, fast so, als hätte er alle Emotionen abgeschaltet.

„Unser kommender Einsatz bezieht sich auf einen Wissenschaftler. Die Papiere enthalten alles über den Mann, was unsere Ermittler bislang zusammenstellen konnten. Die Zielperson heißt Mark Sandersen, trägt einen Doktortitel in Medizin und einen in Biochemie. Er ist sechsunddreißig Jahre alt, US-Amerikaner, unverheiratet, hochintelligent und hat bis vor Kurzem an einem streng geheimen Projekt des US-Militärs gearbeitet. Dabei ging es um Brain-Enhancement. Falls ihr nicht spontan wisst, was damit gemeint ist – unter Brain-Enhancement versteht man generell die gezielte Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten eines Menschen wie IQ, Merkfähigkeit, Lerngeschwindigkeit und so weiter. Um diese Leistungssteigerungen zu erreichen, werden unter anderem Psychopharmaka entworfen, die dem Zweck des Brain-Enhancements dienen sollen. Einen Abriss dazu findet ihr auf der ersten Seite meines Papiers. Im militärischen Bereich unterscheiden sich die Ziele des Brain-Enhancements allerdings von denen, die, sagen wir mal, ein Student vor der Prüfung verfolgt. Militärs wären glücklich, wenn sie der Suppe vor der Schlacht einen Zusatz beimengen könnten, der aus Lämmern Löwen macht, der die körperliche Belastbarkeit erhöht, Müdigkeit gar nicht erst aufkommen lässt, Schmerzempfinden sowie Stressanfälligkeit senkt und Angst verhindert. Weltweit wird in Forschungseinrichtungen des Militärs der unterschiedlichsten Nationen versucht, entsprechende Substanzen zu finden. Und ratet mal, wer dafür der beste Spezialist in den USA war!“

Bei diesen Worten zieht Tom ein paar Fotos hervor, auf denen ein Mann aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen ist und verteilt die Bilder auf dem Tisch. Ich weiß nicht, ob es mir zusteht, mir auch eine der Fotografien zu nehmen, aber da reicht Frank, der neben mir sitzt, sein Foto einfach an mich weiter. Es zeigt einen Mann an einem Rednerpult, vielleicht auf einem wissenschaftlichen Kongress. Er wirkt nicht wie ein Fachidiot, der monoton seinen Vortrag abspult; der Fotograf hat ihn anscheinend mitten in einer ausholenden, temperamentvollen Geste erwischt. Volles, blondes Haar über einem eher hageren Gesicht. Das nächste Bild zeigt den Mann im Labor, sehr konzentriert über ein Mikroskop gebeugt, wieder ein anderes in einem Restaurant, als er mit der Gabel die Luft zersticht, so als wollte er eine Feststellung vehement unterstreichen.

'Nicht unsympathisch von den Bildern her', denke ich, als Tom fortfährt: „Sandersen hat in den letzten Jahren in einem Labor die Entwicklung von Psychopharmaka für unser Militär geleitet. Er besaß Personenschutz und wohnte ausschließlich auf Militärstützpunkten, ist nie unangenehm aufgefallen – bis vor vier Wochen. Da hat er das getan, was unseren Generalstab seither unglaublich nervös macht: Er kündigte ohne Vorwarnung, gab keine Begründung an und reiste mit unbekanntem Ziel ab.“

Frank schaltet sich ein: „Und seine Finanzen?“

„Findet ihr auf Seite sechs“, erklärt Tom. „Sandersen hat kurz vor Beendigung seines Arbeitsverhältnisses alles Mögliche aus seinem Privatbesitz verkauft. Und er gibt das Geld aktuell mit vollen Händen aus, so als existierte kein Morgen. Entweder er unterhält Konten, von denen wir keine Ahnung haben, oder er erwartet demnächst einen gewaltigen Geldsegen.“

„Ein Aussteiger?“, vermutet Rob.

„Unwahrscheinlich“, erwidert Tom. „Der Mann pflegt keine Hobbys, war ein Arbeitstier, hat eigentlich außerhalb seiner Arbeit auch keine Freunde, weil er einfach keine Kontakte pflegte.“

„Familie?“, will Joe wissen. Er klingt etwas heiser, aber er denkt offensichtlich mit.

Tom lächelt angesichts von Joes Stimmlage, bevor er antwortet: „Seite sieben. Da findet ihr alles. Eltern beide verstorben. Keine Geschwister. Es gibt entfernte Verwandte, aber die wohnen an der Ostküste und Sandersen arbeitete zuletzt seit vier Jahren in einem Labor an der Westküste. Er hat seitdem scheinbar keinen Kontakt zu seinen Verwandten unterhalten.“

„Frauengeschichten?“ Natürlich erkundigt sich Jeff danach. Schließlich ist er Fachmann auf diesem Gebiet.

Aber Tom schüttelt den Kopf: „Die paar Wissenschaftlerinnen, die in seinem Fachbereich arbeiten, waren für Sandersen wohl wirklich nur Kolleginnen. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass er von einem fremden Geheimdienst oder Wirtschaftsunternehmen gekauft worden ist – die plötzliche Kündigung, seine Weigerung, Gründe dafür anzugeben, die Auflösung seiner Wohnung auf dem Stützpunkt, seine fluchtartige Abreise, die strikte Ablehnung einer Weiterführung seines Personenschutzes, Sandersens verschwenderische Art, Geld auszugeben.“

„Wie pikant. Hat er Material oder Unterlagen mitgehen lassen?“, will Brian wissen.

Tom verneint: „Braucht er nicht. Wir müssen davon ausgehen, dass der Mann so intelligent ist, dass er alle notwendigen Informationen im Kopf hat. Der ist schlichtweg nicht darauf angewiesen, dass er Material in Form von Papier oder Datenträgern aus einer Forschungsanlage schmuggelt. Allerdings konnten wir bisher keine Kontakte zum Beispiel zu einem anderen Dienst nachweisen, weder direkte, noch über irgendwelche Kommunikationswege. Aber wie gesagt, unsere Zielperson ist alles andere als dumm. Wenn der Bursche samt seinen Kenntnissen überlaufen will, wird er das nicht offensichtlich tun, sondern ausgesprochen raffiniert vorgehen.“

Joe klingt ein wenig gequält, als er fragt: „Und wo kommen wir ins Spiel bei der Sache?“

Da seufzt Tom und schaut in die Runde. Mir wird erschrocken klar, dass sein Blick gerade an mir hängen bleibt. Dann verkündet er und klingt nicht gewohnt emotionslos wie sonst, sondern so, als säße eine Gräte in seinem Hals quer: „Jason meint, das könnte ein Fall für Sara sein.“

Ich spüre, wie ich feuerrot werde. Also doch! Das war demnach die dunkle Wolke an Toms Horizont, die ich wahrgenommen hatte, als er ankam.


Es bleibt einen Augenblick lang totenstill. Alle warten darauf, dass Tom mit seiner Einweisung fortfährt. Schließlich räuspert er sich und erklärt: „Jason möchte, dass Sara versucht, Kontakt mit Sandersen aufzunehmen. Sie soll sich bemühen herauszufinden, was er treibt, ob er Verbindungen zu suspekten Leuten unterhält, welche Pläne, Wünsche und Absichten er hat. Jason meint, Sara besäße ein unglaubliches Talent, Leute sehr schnell dazu zu bringen, ihr 'aus der Hand zu fressen', wie er es nennt.

Bei Sandersen sind alle Versuche, sein Vertrauen zu gewinnen und so herauszufinden, was er gerade plant, bisher fehlgeschlagen. Er hat sich nach seiner Kündigung strikt jede Einmischung in sein Privatleben verbeten. Alles, was wir bislang tun konnten, ist, ihn aus der Ferne in etwa zu beobachten.

Bei den vorliegenden Verdachtsmomenten möchte der Generalstab natürlich vor allem wissen, an wen Sandersen seine Kenntnisse voraussichtlich weitergeben will – wenn er sie nicht schon verkauft hat. Das ist im Interesse der nationalen Sicherheit von großer Bedeutung! Aber Sandersen hatte über Jahre Personenschützer um sich, der wittert einen Agenten auf hundert Meter. Deshalb dachte Jason, dass er ein geeignetes Ziel für Saras ersten Einsatz darstellt. Sie ist nicht charakteristisch für unseren Verein, sie verhält sich untypisch und sie gewinnt anscheinend schnell das Vertrauen anderer Menschen. Jason behauptet, dass Sara die Idealbesetzung für diesen Fall darstellt.“

Man muss nicht über meine Fähigkeiten verfügen, um zu hören, dass der Einsatz Tom nicht gefällt. Er will nicht, dass ich auf irgendeine Zielperson losgelassen werde – und kann doch nichts dagegen tun, denn ich habe seinerzeit, auch in seinem Interesse, versprochen, für den Dienst zu arbeiten.

„Und wir sollen wiederum Sara sichern, oder?“, mischt sich Frank ein, aber er erwartet gar keine Antwort.

Tom nickt: „Wir wissen, dass sich Sandersen derzeit in Rom befindet. Ein Team versucht dort, ihm extrem diskret auf den Fersen zu bleiben. Aber er hat schon seine Abreise geplant und bei einer privaten Chartergesellschaft einen Hubschrauber gemietet, der ihn am Montag, den 17. Februar nach Crans Montana in die Schweiz bringt. Wie gesagt, er schaufelt das Geld mit vollen Händen nur so zum Fenster hinaus. Der Plan ist folgender: In Crans soll Sara versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Und wir sind in der Zeit ihres Einsatzes die Mannschaft im Hintergrund. Ihr kauft euch hier in Düsseldorf Skiausrüstungen. Nur Rob braucht keine, weil er nicht Skilaufen kann. Deshalb wird er vor Ort für die Kommunikation zwischen uns verantwortlich sein. Wenn ihr euch hier ausgerüstet habt, reist ihr morgen in die Schweiz und sondiert das Terrain, bevor Sandersen, Sara und ich eintreffen. Zimmer, die im selben Hotel eine Etage über dem von Sandersen liegen, sind schon gebucht. Die Reservierungsbestätigungen liegen hinten bei euren Unterlagen, Tickets für die Bahn ebenso.“

„Wieso reisen wir nicht gemeinsam an?“, will Joe wissen.

Tom lacht – und klingt zum ersten Mal so, als wäre ihm nicht alles an der kommenden Operation zuwider: „Ihr sollt euch hier mit Skiausrüstungen eindecken, damit ihr in Crans Montana keine Aufmerksamkeit erregt, weil ihr euch mit nicht weniger als vier Personen komplett ausrüstet, noch dazu mit verschiedenen Jacken und Mützen, damit ihr euer Outfit beim Observieren wechseln könnt. In so einem kleinen Ort wie Crans könnte das auffallen. Und ich habe inzwischen drei Tage Zeit, Sara das Skilaufen beizubringen, bevor sie auf Sandersen trifft. Der ist angeblich ein ziemlich guter Abfahrer, das einzige Hobby, das man ihm nachsagen könnte, obwohl es wahrscheinlich länger her ist, dass er es ausgeübt hat. Ich fliege deshalb bereits heute am frühen Nachmittag mit Sara nach Basel und wir werden in der Nähe von Interlaken Quartier nehmen und Skilaufen üben.“


Tom bespricht weiter in der Küche mit den anderen, was sie für technische Ausrüstungsgegenstände aus der Basis mitnehmen sollen und was noch zu kaufen ist.

Währenddessen stehe ich vor meinem Koffer, der leer und aufgeklappt auf meinem Bett liegt und summe vor mich hin. Ich schwitze, so aufgeregt bin ich. Mit dem Summen versuche ich, Ruhe in mein aufgewühltes Inneres zu bringen. Da fühlt sich alles verdächtig nach Panik an: Was ist das für ein Mann, auf den ich da losgelassen werde? Wie soll mir gelingen, was anderen, qualifizierteren, erfahreneren Fachleuten bisher nicht geglückt ist? Was, wenn ich gründlich versage und am Ende alles noch viel schlimmer steht als jetzt? Was, wenn ich wieder die Aufmerksamkeit eines anderen Geheimdienstes auf mich ziehe und selbst zum Ziel werde, anstatt die Ziele eines amerikanischen Generalstabes zu verfolgen? Schließlich klang Toms Einführung nicht so, als wäre es im Dunstkreis dieses Dr. Dr. Sandersen ganz ungefährlich.

Verdammt, hätte ich doch bei meiner Grundausbildung in den USA intensiver gearbeitet und nicht mindestens die Hälfte meiner Energie auf Nebenschauplätzen verpulvert!


... kannst du mich verstehen?

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