Читать книгу ... kannst du mich verstehen? - Barbara Namor - Страница 9
Kapitel 7: Mittwoch, 12.2. – 15 Uhr 23
ОглавлениеJoe und Tom tragen mehrere Tüten vom Aufzug in unsere Wohnung. Dann folgen zwei Kisten Bier.
Tom erkundigt sich beiläufig: „Keine Probleme mehr mit Vandalismus? Der Lift funktioniert jetzt zuverlässig?“
Joe lacht. „Vandalismus? Haben wir im Griff. Seit Sara hier wohnt, haben wir uns nach und nach alle Kleinkriminellen, Störenfriede und Ganoven in Haus vorgenommen. Und jeder Einzelne steht jetzt hinter uns. Die leihen uns jederzeit einen Liter Milch, falls nötig, ohne zu meckern, auch nachts um drei, wenn wir danach fragen. Der Flur auf unserer Etage ist blitzsauber. Sara könnte halb nackt im Baströckchen auf dem Dach tanzen, ohne dass jemand wagen würde, sie auch nur schräg anzusehen. Unser Audi besitzt immer noch die fetten Alufelgen. Und niemand, wirklich niemand kommt mehr auf die Idee, im Fahrradkeller die Räder zu demolieren.“
Ich höre staunend zu. Dass hier für ein Hochhaus mitten im sozialen Brennpunkt ein ungewöhnlich gutes Wohnklima herrscht, habe ich natürlich mitbekommen. Aber dass das auf einen Einfluss meiner Bodyguards zurückzuführen ist, ahnte ich bislang nicht. „Wie habt ihr das denn erreicht?“, muss ich sofort verblüfft wissen.
Zwischen Joe und Tom fliegt ein rascher Blick hin und her. Dann nickt Tom fast unmerklich, um Joe grünes Licht zum Erklären zu geben. Obwohl die beiden gute Freunde sind, merkt man an solchen kleinen Gesten, dass da im Hintergrund stets auch ein Gefühl dafür besteht, dass Tom der Ranghöchste dieser Truppe ist.
„Zuckerbrot und Peitsche, Sara“, erklärt Joe. „Wir haben ganz klar gemacht, dass die Bewohner unseres Appartements Leute sind, die man nicht verärgern sollte. Wir haben unsere Wünsche vor allem hinsichtlich deiner Sicherheit deutlich gemacht. Aber neben ein wenig Einschüchterung waren wir auch nett. Jeff schraubt zum Beispiel für viele Bewohner hier an deren schrottreifen Autos und macht die wieder flott. Du weißt, dass Jeff und sein Schraubenschlüssel sogar eine Kartoffelkiste zum Fahren bringen könnten. Und Rob richtet dem einen oder anderen bei Bedarf die Elektrik. Die meisten unserer Nachbarn sind finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet. Und die sind wirklich dankbar.“
Ich lasse mich nicht von der Aufzählung netter Gesten ablenken. „Joe, was meinst du konkret mit Einschüchterung? Habt ihr etwa Gewalt angewendet?“
Joe windet sich. „Sara, du musst selbst zugeben, das war doch kein Zustand mit dem Lift, der alle zwei Tage nicht funktionierte. Wir wussten ziemlich schnell, wer die Schalttafel immer demolierte. Schließlich gibt es unauffällige Kameras, um so etwas herauszufinden. Und so ein Zeug gehört nun einmal zu unserer Ausstattung – wäre doch schade, wenn das alles nur immer unbenutzt herumliegt, bis es veraltet ist. Einmal einen Ärmel mit dem Wurfmesser an die Wand nageln wirkt Wunder, wenn man sicher weiß, wer die Täter sind. Frank hat zwei von den Jugendlichen einmal mit Handschellen im Fahrradkeller angekettet und erst wieder rausgelassen, nachdem alle Räder blitzblank waren. So etwas spricht sich sehr schnell herum“, gibt er schließlich zu. Sein kleinlauter Ton passt nicht wirklich zu dem, was er da gerade beichtet.
Einigermaßen empört schaue ich Tom an, aber der grinst breit und meint nur: „Es funktioniert, Sara. Wer nach Ärger fragt, bekommt eben welchen. Und damit du sicherer lebst, würde ich noch ganz andere Sachen veranstalten.“
So ist das, wenn man mit einem Haufen Bodyguards verkehrt: Die bewegen sich schon mal häufiger hart am Rande der Legalität oder eben auch knapp jenseits davon. Aber innerlich muss ich mir eingestehen, dass ihnen der Erfolg recht gibt. Das Wohnen hier empfinde ich als wirklich angenehm, obwohl unsere Nachbarn auf den ersten Blick nicht unbedingt so aussehen, als wäre das möglich. Und ich habe ja schon oft davon profitiert, dass meine Freunde als professionelle Schutzengel arbeiten und über Möglichkeiten verfügen, die die des Normalbürgers einfach übersteigen. Ich fürchte auch, über diese Möglichkeiten zu verfügen ist einfach zu verführerisch, als dass man sie immer ungenutzt ließe. Wenn ich mich nur an diesen hartnäckigen Verehrer aus dem zweiten Semester erinnere …!
Ich konnte mich der Uni eine Zeit lang nicht auf 500 Meter nähern, schon stand dieser Marcel wie aus dem Boden gewachsen da. Der hat auf eine dummdreiste Art einfach ignoriert, dass Joe neben mir ging, der hat sich nicht darum geschert, dass ich ausschließlich abwehrende Signale aussandte. Wenn ich mich von ihm abwandte, dann drehte er sich einfach mit. Der Typ baggerte mich gnadenlos an. Joe hat sich das eine kurze Zeit kommentarlos angesehen. Dann fragte er mich kurz und bündig: „Sara, bist du an dem Kerl interessiert?“
„Ganz sicher nicht!“
„Warum knallst du ihm dann keine?“
„Das wäre ein bisschen drastisch, oder? Er ist aufdringlich und fürchterlich von sich selbst überzeugt, aber für Ohrfeigen hat er mir noch keinen Grund gegeben.“
„Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn ich ihn aus dem Weg räume?“
„Joe? Was hast du um Himmels willen vor?“
Joe lächelte nur. Bei der nächsten Begegnung in der Mensa sorgte er dafür, dass er Marcel, als der sich mir einmal wieder näherte, die Suppe von seinem Tablett überkippte. Ich muss zugeben, das sah unheimlich gekonnt aus – kein Mensch außer mir wäre wohl auf die Idee gekommen, dass Absicht hinter dem Manöver steckte. Joe entschuldigte sich wortreich, Marcel zog ab, denn mit einem halben Liter Zwiebelsuppe auf dem Sweatshirt lässt sich wirklich schlecht flirten. Zwei Tage später kam Marcel in der Mensa schon wieder auf mich zu und nahm ein Vollbad in Joes heißem Kaffee. Da reagierte der verhinderte Casanova schon einigermaßen misstrauisch, obwohl Joe ihm höflich anbot, die Reinigungskosten für die kaffeegetränkten Jeans zu übernehmen. Und am Tag darauf wartete Joe gar nicht, bis Marcel mich ins Visier nahm, er steuerte ihn an. Diesmal rammte er ihm das Tablett mit seinem Essen so elegant in die Rippen, dass Marcel nur noch japsen konnte. Und Joes Lächeln dabei glich dem einer Klapperschlange, kurz bevor sie das Kaninchen beißt. Mag sein, dass Marcel mich danach immer noch attraktiv fand, aber er verschwand total von der Bildfläche.
Tom reißt mich aus meinen Gedanken: „Joe und ich bauen jetzt die Betten. Sara, kümmerst du dich bitte um die Lebensmittel?“
Ich nicke. Während ich den Kühlschrank gnadenlos vollstopfe, poltert es nebenan. Tom schläft natürlich bei mir; Frank wird wahrscheinlich in Joes Zimmer mit untergebracht. Brian, Jeff und Rob sollen sich den Übungsraum teilen. Dieses Zimmer ist, neben dem Tastenfeld an der Haustür und deren Panzerung, ein weiterer Beweis dafür, dass hier eine etwas ungewöhnliche Wohngemeinschaft lebt: Das größte Zimmer wird nicht regelrecht bewohnt, es wird genutzt, damit mich Joe im Nahkampf weiter ausbildet und fit hält, für Ausdauertraining und dort übe ich, hinter zugezogenen Vorhängen natürlich, Messer zu werfen. Die Matten, die sonst verhindern sollen, dass ich mir alle Knochen breche, wenn Joe mal wieder einen Schulterwurf ansetzt, werden jetzt zu Betten zusammengebaut. Das Trimmrad, die Bank und die Hanteln landen in einer Ecke. Zum Glück sind die Gäste nicht allzu anspruchsvoll, was die Inneneinrichtung angeht: Gemütlich ist es hier nicht, aber man kann ganz gut schlafen. Und das Kernstück der Wohnung bildet sowieso die große Küche, in der wir zusammensitzen werden.
Bald erscheinen Joe und Tom in der Küche. Ich kenne sie und habe ihnen schon einmal eine Kanne Kaffee gekocht. Eine große Platte mit Streuselkuchen aus Joes Lieblingsbäckerei steht auf dem Tisch – diese Kerle haben immer Hunger. An die Mengen von Lebensmitteln, die hier vernichtet werden, musste ich mich erst gewöhnen. So ein ständiges Fitnesstraining zehrt.
Tom erklärt gerade: „Eigentlich rechne ich damit, dass Jeff und Rob jeden Augenblick eintreffen. Sie reisen aus Belgien an. Brian und Frank kommen direkt aus Miami. Wir holen sie nicht ab. Die sollen mal ruhig ein Taxi nehmen. Wir machen es uns so lange hier gemütlich und futtern den Kuchen, bevor die alle auftauchen.“
In diesem Moment klopft es dröhnend an der Haustür.
Jeff brüllt so laut: „Überfall!“, dass man ihn sogar in der Küche bestens versteht.
Tom seufzt theatralisch: „Jetzt fressen die mir den Kuchen weg!“
Und während Joe zur Tür geht, um zu öffnen, bevor Jeff sie trotz der Panzerung einschlägt, zieht Tom mich überraschend in seine Arme, küsst mich leidenschaftlich und tut dann etwas, was er sehr selten tut – er sagt etwas über seine Pläne über den Augenblick hinaus, ganz leise und direkt in mein Ohr, damit es niemand sonst hört: „Ich freue mich ja wirklich auf den Abend, aber noch viel mehr freue ich mich darauf, dass wir beide demnächst drei Tage ganz für uns haben!“
Dann tobt Jeff bereits in die Küche und schnauzt Tom bestens gelaunt an: „Finger von der Dame! Die muss ich jetzt einmal gebührend begrüßen!“
Er schnappt mich, dass mir die Luft wegbleibt und gibt mir einen schmatzenden Kuss. Ein schneller Seitenblick auf Tom zeigt mir, dass der immer noch nicht völlig darüber hinweg ist, dass Jeff vor einiger Zeit aus Gründen einer glaubwürdigeren Tarnung auf Langeoog so getan hat, als wären wir ein Paar. Rob lässt es sich ebenfalls nicht nehmen, mich zur Begrüßung zu umarmen, aber bei ihm fällt das weniger stürmisch aus. Toms Befürchtungen erweisen sich als durchaus berechtigt: Blitzschnell ist der Kuchen verschwunden.
Es fällt mir auf, dass niemand den anderen fragt: „Wo kommst du her? Was hast du kürzlich so gemacht? Wie lief es bei deinem letzten Auftrag?“ Wer was wissen darf, stellt ein heikles Geschäft dar in dieser Branche. Geheimhaltung und Diskretion sind vollkommen zur Gewohnheit geworden – ich merke das oft, denn ich stelle manchmal völlig ungewollt, wenn ich bloß ein bisschen ganz normale Konversation machen will, verbotene Fragen und bekomme dann höfliche, aber ausweichende Antworten.
Wenn das Gestern kein Gesprächsthema sein darf, ist es gar nicht so leicht sich zu unterhalten. Trotzdem gibt es genug Fragen. Alle löchern beispielsweise Joe, wie sein Studium läuft und ziehen ihn damit auf, dass er, wenn er einmal damit fertig ist, demnächst die arbeitsbedingten Psychosen seiner Kollegen behandeln muss.
Ich muss beim Zuhören immer wieder lächeln – es tut so gut, diese Runde völlig unbeschwert zusammen zu sehen. Oft haben die Männer nicht die Gelegenheit dazu, sich zu treffen, ohne unter Zeitdruck ein kniffliges oder gefährliches Problem lösen zu müssen. Sie genießen ihr Treffen offensichtlich. Ich stehe schon einmal auf, um mit den Vorbereitungen für das Abendessen anzufangen. Niemand will aus essen gehen, denn das ist sonst allzu oft im Rahmen der üblichen Aufgaben nötig. Alle haben sich schon auf einen völlig zwanglosen Abend beinahe Zuhause gefreut. Joe hat nicht weniger als fünfzehn Hühnerbeine vom Einkaufen mitgebracht. Die möchte ich im Backofen auf einem Gemüsebett schmoren und dazu zwei Kilo Reis kochen und servieren. Gerade als ich mich frage, ob zwei Hühnerbeine pro Nase reichen werden und ob man sich um das fünfzehnte eventuell aus Futterneid schlagen wird, geht Joes Handy: Brian und Frank stehen vor der Tür.
Brian lässt sofort seine Reisetasche fallen, als er mich an der Arbeitsplatte in der Küche stehen sieht, peilt die Lage, was meine Kochpläne angeht mit einem schnellen Blick und verkündet: „Sara, das sieht großartig aus! Im Flugzeug gab es nur noch pappige, lauwarme, geschmacksneutrale Lasagne, als die Stewardess bei uns serviert hat. Hast du noch ein Messer, damit ich dir beim Gemüseschneiden helfen kann?“
Zong! Ein Messer steckt plötzlich vibrierend in einem der Schneidebretter, die an Haken an der Wand über der Spüle hängen – natürlich ganz genau in der Mitte. Verspielt wie junge Hunde, diese ausgewachsenen Kerle!
„Joe, lass den Quatsch! Das geht irgendwann einmal fürchterlich schief!“, beschwere ich mich, obwohl ich mit dem Rücken zum Küchentisch stehe, von dem das Messer geflogen kam.
Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken zieht Brian es aus dem Holz. Und dann wirbelt er durch die Küche, dass ich einmal wieder nur staune. So genial wie Joe mit dem Messer werfen kann, so perfekt hackt Brian damit – er würde mit einem Küchenmesser ein ganzes Rind wahrscheinlich innerhalb von zehn Minuten zu einem köstlichen Beefsteak Tatar verarbeiten. Keine Viertelstunde später landet das Fleisch samt Bergen von Gemüse im Ofen und unheimlich appetitanregende Gerüche machen sich breit.
Joe holt den ersten Kasten Bier vom Balkon und verkündet zufrieden: „Greift zu! Heute haben wir schließlich alle frei.“
Dann kreist der Flaschenöffner um den Tisch.
Ich trinke nie Alkohol. Oder besser gesagt, ich trinke praktisch nie Alkohol. Einmal habe ich mit Tom Sekt getrunken und bekam danach einen netten kleinen Schwips. Wenn er bei mir ist, fühle ich mich sicher genug, hin und wieder an alkoholischen Getränken wenigstens zu nippen. Aber im Großen und Ganzen halte ich es nach wie vor für keine gute Idee, etwas zu trinken, das mein Bewusstsein beeinträchtigen könnte.
Ur verlangt immer meine volle Aufmerksamkeit – ich habe einfach nicht den Mut zu riskieren, die Kontrolle über meine besonderen Kräfte zu verlieren. Was, wenn ich wütend werde und jemand angreife? Was, wenn ich etwas für einen großartigen Scherz halte und es ist am Ende keiner? Was, wenn ich mich verrate und es wird weiter publik, dass ich ein wenig anders bin als andere Menschen?
Ur geheim zu halten ist wichtig für meine persönliche Sicherheit. Das haben meine Eltern jahrelang so gehalten und es hat sich im Wesentlichen bewährt. Nachdem ich in der Physikvorlesung, in die mich Ben mitnahm, einmal in der Öffentlichkeit mit Ur herumexperimentiert hatte, begannen die Dinge aus dem Ruder zu laufen – die Amerikaner und mindestens noch eine andere Interessengruppe sind auf meine Fähigkeiten aufmerksam geworden.
Meine Bodyguards trinken im Dienst ebenfalls nicht. Dazu ist es viel zu wichtig, dass sie stets einhundertprozentig wach und leistungsfähig bleiben – aber heute Abend, in dieser entspannten Atmosphäre, hier wird getrunken. Besonders Joe, der ja praktisch immer wochenlang ohne Ablösung die Verantwortung für meine Sicherheit trägt, deswegen nie wirklich Pause einlegen kann, solange das Semester läuft und seine Anwesenheit hier erforderlich ist, langt kräftig zu. Ich kann es ihm nicht verübeln.