Читать книгу ... kannst du mich verstehen? - Barbara Namor - Страница 5

Kapitel 3: Mittwoch, 12.2. – 10 Uhr 17

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Die Klausur war nicht wirklich schwierig.

Ich bin fertig mit meinen Aufgaben und lasse noch einmal meinen Blick zu Joe hinübergleiten – er kritzelt nach wie vor. Langsam sollte er auch zum Ende kommen, denn es bleiben nur noch dreizehn Minuten Arbeitszeit.

Joe sitzt links von mir im Hörsaal. Die Studenten sind in alphabetischer Reihenfolge nach einer Ausweiskontrolle in den Raum eingelassen und platziert worden, damit nicht ein gut informierter Strohmann stellvertretend für jemand anderen hier eine tolle Note absahnt. Die Anwesenden zerfallen rein optisch in zwei gut zu unterscheidende Gruppen – manche kleiden sich unauffällig, andere dagegen unübersehbar extravagant, mit einem Hang zu wallenden Gewändern und großformatigen Tüchern in Lilatönen. Mir kommt es so vor, als ob etwa die Hälfte der Studenten das Fach Psychologie gewählt hat, um eine bessere Basis zur Selbstanalyse zu bekommen; die anderen wollen einfach ein naturwissenschaftliches Fach studieren.

Joe und ich stellen Sonderfälle innerhalb dieser zwei Gruppen dar: Ich bin hier, weil ich mir von einem Psychologiestudium verspreche, andere Menschen besser einschätzen und aus diesem tieferen Verständnis heraus auch besser mit ihnen umgehen zu können. Ur zu sprechen, lässt mich nämlich meine Umgebung oft so erleben, dass meine Mitmenschen mir Rätsel aufgeben und immer für Überraschungen gut sind, weil sie aus meiner Sicht geradezu in einer anderen Welt beheimatet scheinen. Joe sitzt hier, weil seine Vorgesetzten meinten, er könne auch etwas für seinen Job Nützliches lernen, wenn mich schon ein Personenschützer in Vorlesungen begleitet.

Unsere Kommilitonen wissen nichts von unserer etwas schrägen Motivation, ausgerechnet Psychologie zu studieren, aber sie scheinen zu ahnen, dass wir eine spezielle Untergruppe im Semester darstellen. Viele halten ein wenig Distanz zu uns beiden.

Außerdem ist unsere Konstellation merkwürdig: Joe und ich treten immer gemeinsam auf. Wir wohnen sogar zusammen. Aber obwohl wir den Eindruck vermitteln, als wären wir ein Paar, sind wir offensichtlich keines, denn Joe hält zwar schützend seine Hand über mich, aber eben nie meine Hand. Das ist schon so manchem aufgefallen. Wir sind eben von angehenden Psychologen umgeben – und einige davon beobachten tatsächlich das menschliche Verhalten.


Ich möchte meine Klausur zusammen mit Joe abgeben, damit ich nicht vor dem Hörsaal lange auf ihn warten muss. Martin aus unserem Semester, der mich zuletzt ziemlich heftig angeschmachtet hat, ist vor etwa drei Minuten aufgestanden und gegangen. Er wartet wahrscheinlich vor der Tür, bis ich ebenfalls den Raum verlasse. Da ich keine Lust verspüre, einen weiteren Auftritt zwischen krampfhaften Flirtversuchen und der Präsentation unwiderstehlicher Männlichkeit seinerseits zu ertragen, lasse ich einfach die Gedanken schweifen, bis Joe und ich gemeinsam nach draußen gehen können. Wie alle seine Kollegen besitzt Joe eine Ausstrahlung, die ganz deutlich verkündet: „Leg dich nicht mit mir an!“ Und genau diese Ausstrahlung wird Martin abkühlen. Das hat bisher immer großartig funktioniert. Sobald Joe auftaucht, zieht sich Martin bislang diskret zurück.


Das ganze Team soll also im Laufe des Tages kommen.

Ob Arnold alias Brian dabei sein wird? Als mich die Amerikaner entführten oder besser gesagt in Schutzhaft nahmen, lernte ich auch Brian kennen. Er befand sich unter anderem als Koch bei der Truppe und brachte mich nach meinem totalen Zusammenbruch mit gutem Essen wieder auf die Beine. Bis ich seinen wirklichen Namen Brian erfuhr, nannte ich ihn in Gedanken nur Arnold, weil er mich rein optisch an Arnold Schwarzenegger in seinen frühen Filmen erinnerte.

Bei meinem Ausbruch hatte ich Arnold-Brian narkotisiert, weil er mich an der Flucht hindern wollte. Ich wusste damals schlichtweg nicht, dass so ein Eingriff in die Psyche eines Menschen für den Betroffenen ziemlich heftige Nebenwirkungen mit sich bringt: Brian träumte für ein halbes Jahr ausgesprochen merkwürdig – und mochte mich seither trotzdem sehr. Als wir uns in den USA wieder begegneten, nahmen wir uns die Zeit, einander wirklich kennenzulernen. Und seitdem gehört auch Brian zu meinen Freunden.

Bei aller Freude darüber, dass Joe und ich so viel Besuch bekommen, kann ich bei meinen Gedankengängen natürlich nicht die Frage verdrängen: Warum werden auf einmal sechs Personenschützer gleichzeitig bei mir einquartiert, wo doch normalerweise einer genügt? Ist akute Gefahr im Verzuge? Plant jemand das nächste Attentat auf mich? Haben die Ermittler in den USA nun doch endlich Hinweise darauf gefunden, wer seinerzeit den Auftrag gegeben hat, mich nach Rotterdam zu verschleppen?

Dagegen spricht, dass Tom im Falle einer akuten Gefährdung sicher nicht so ruhig und gelassen geschlafen hätte.

Einfach eine Art Klassentreffen, weil alle mal frei haben?

Mehr als unwahrscheinlich. Es kostet schließlich ein Heidengeld, die ganze Truppe in Bewegung zu setzen. Die fliegen meistens Businessclass. Brian passt sowieso nicht in die Touristenklassen-Sitze in einem Flugzeug.

Warum also zieht Jason Walters seine Leute, und zwar genau die, die mich am besten kennen und normalerweise betreuen, in Düsseldorf zusammen? Hat die Aktion überhaupt mit mir zu tun? Wird unsere Basis einfach nur genutzt, um Personal für einen anderen Fall in Reichweite zur Verfügung stellen zu können? Beim letzten Besuch eines amerikanischen Präsidenten in Deutschland war die Wohnung jedenfalls auch voll belegt. Allerdings habe ich nichts davon gehört, dass ein solcher Besuch demnächst geplant sein soll. Aber wer würde mir schon Bescheid sagen für den Fall, dass ein spontaner Termin angesetzt wurde?

Plötzlich kommt mir eine weitere Idee, warum die Truppe zusammengetrommelt worden sein könnte und eine heiße Welle von Angst zuckt in mir hoch: Vielleicht muss ich mein Wort einlösen …

Es könnte sein, dass der Tag da ist, von dem ich seit über einem Jahr sicher bin, dass er kommt. Der Tag, von dem ich nicht weiß, was er mir abverlangen wird. Der Tag, an dem ich dem Dienst meiner Bodyguards zu Diensten sein muss – unter vollem Einsatz meiner besonderen Kräfte. Denn das war der Preis dafür, dass Tom und ich zusammen sein können, ohne dass ich meinen Personenschutz verliere.

Ich habe damals Jason mein Wort gegeben, dass ich drei Einsätze seines Dienstes begleite und mithilfe von Ur auch voll und ganz unterstütze. Aufgabe, Ort und Zeit bestimmt er. Und ich bin an mein Wort gebunden, denn Ur zu sprechen, lässt es nicht zu, dass ich lüge. Es könnte also sein, dass ich demnächst das erste Drittel meiner Schuld abbezahlen oder besser gesagt abarbeiten soll und deshalb die Sicherheitsleute in Düsseldorf zusammentreffen.


Ich sehe, Joe stapelt seine Aufgabenblätter gerade säuberlich und schiebt eine Büroklammer darüber, damit nichts verloren geht. Dann schaut er zu mir her, um abzuklären, ob wir den Hörsaal gemeinsam verlassen können. Er ist ein solcher Profi, dass er sicher trotz der Klausur nicht einmal Martins Abgang verpasst hat. Und er weiß, dass ich Martins Annäherungsversuche nicht schätze.

Wahrscheinlich gäbe Joe sogar seine Klausur unbeendet ab, wenn ich versuchen sollte, vor ihm den Saal zu verlassen. Er kann blitzschnell Prioritäten festlegen – und meine Sicherheit steht in seiner Prioritätenliste ganz oben. Ich weiß nicht, ob es sich so verhält, weil es nun einmal sein Job ist oder weil er es Tom versprochen hat und die beiden weit mehr sind als nur Kollegen oder ob die Freundschaft, die Joe und mich mittlerweile verbindet, dafür verantwortlich ist. Eigentlich ist der Grund für sein Verhalten auch gar nicht so wichtig.

Jetzt schaut Joe mich prüfend an. Er runzelt die Augenbrauen ein wenig, als irritiere ihn etwas bei meinem Anblick. Dann nickt er auffordernd. Wir stehen beide gleichzeitig auf, legen dem aufsichtführenden Dozenten unsere Klausuren auf den Tisch und verlassen den Raum. Vor der Tür lungert tatsächlich Martin noch herum. Er schwenkt allerdings sofort Richtung Treppenhaus ab, als er bemerkt, dass ich mich in Joes Begleitung befinde.

„Du bist ziemlich blass, Sara. Die Klausur kann es doch nicht gewesen sein, die war nicht einmal für mich allzu schwierig, auch wenn sie unheimlich viele Aufgaben enthielt. Was ist los?“, erkundigt sich Joe.

Ich seufze.

Ich mag Joe. Ich mag auch mein Team. Aber manchmal finde ich es verdammt anstrengend, ständig einen Freund an meiner Seite zu haben. Ich kann nicht einfach so blass werden, ohne dass mich jemand fragt, warum. Und dazu kommt, dass ich in einem solchen Fall nicht vorgeben kann, mich plötzlich schlecht zu fühlen: Es ist mir ja unmöglich zu lügen – und selbst wenn ich es könnte, nützte es nichts. Meine Bewacher wissen schließlich, dass ich nie krank bin …

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit – das ist immer so anstrengend! Dauernd muss ich entscheiden, ob ich einfach den Mund halte oder mein Seelenleben offen ausbreite. Ich gebe mir innerlich einen Stoß und antworte möglichst unbefangen: „Ich mache mir halt Gedanken, warum mein Team plötzlich komplett hier auftaucht. Und unter allen möglichen Gründen sind mir auch ein paar ausgesprochen hässliche eingefallen. Vielleicht ist das nicht gut für meinen Teint.“

Joe nickt, so als hätte er verstanden. Als wir unsere Fahrräder vor dem Universitätsgebäude losketten, meint er nur, während er sein Schloss um den Gepäckträger windet und es erneut einrasten lässt: „Ein Tipp aus meiner Berufserfahrung, Sara. Es hat wenig Sinn, sich heute den Kopf über morgen zu zerbrechen. Wir vom Dienst leben ständig auf dem Sprung. Eine so lange Phase der Kontinuität wie jetzt in unserer Wohngemeinschaft hatte ich noch nie, seit ich dabei bin. Heute hier und morgen da. So läuft das normalerweise. Und immer mit reichlich Risiken verbunden.

Lerne mehr den Augenblick zu genießen. Sorgen können dein Morgen wahrscheinlich nicht verändern. Aber sie können dir heute mit Sicherheit den Tag versauen. Ich freue mich jetzt einfach auf die Truppe! Und ich bin froh, dass diese blöde Klausur hinter mir liegt. Deshalb schnappen wir uns gleich das Auto und kaufen ein. Und zwei, drei Kästen Bier für heute Abend sollten unbedingt dabei sein.“


Am Ende geht Joe allerdings allein einkaufen. Als wir nämlich wieder in der Basis eintreffen, schläft Tom noch.

Ich schalle ihn. Obwohl er immer noch schlummert, melden mir die Echos jetzt, dass er nicht mehr so schrecklich müde ist wie noch vor ein paar Stunden, sondern ausgeruht und entspannt. Das will ich ändern. Heimtückisch schiebe ich meine vom Radfahren eiskalten Hände unter die Bettdecke, um ihn zu wecken.

Immer wieder unterschätze ich zwei Dinge bei Tom: seine Kraft und seine Reaktionsfähigkeit. Nie hätte ich gedacht, dass er derart schnell wach werden und zupacken könnte! Blitzschnell hat er mich an beiden Unterarmen gefasst und zieht mich zu sich auf das Bett – es gibt eine ziemlich wilde Balgerei, bei der ich keine Chance habe. Am Ende liege ich eng an Tom geschmiegt da, er küsst mich zur Begrüßung weich, aber doch leidenschaftlich auf den Mund und begrüßt mich schließlich: „Hallo, Sara. Ich habe mich so auf dich gefreut!“

Ur macht sicher mein Leben oft kompliziert, bisweilen sogar gefährlich, aber zum Beispiel in einem Augenblick wie diesem einfach schön!

Da sagt Tom neun kleine Worte – und ich höre einen Roman. Die Untertöne, die ein Mensch unbewusst in jede Äußerung mischt, sind meistens aussagekräftiger als das, was tatsächlich in Worte gefasst wird. Oft stehen die Botschaften in den Worten und jene aus den Untertönen sogar in krassem Gegensatz.

Aber in Toms Begrüßung ist jedes Wort ganz und gar und wahrhaftig gemeint. Mein Herz stolpert förmlich ein paar Mal, so intensiv ist das Gefühl von Glück, das mich durchströmt, als ich höre, was ich Tom bedeute. In seinem ‚Ich habe mich so auf die gefreut‘, spiegeln sich die Sehnsucht der letzten drei Wochen, seine tiefe Zufriedenheit, dass das Warten auf mich in diesem Augenblick ein Ende hat, das warme Gefühl einer großen Liebe, das Tom erfüllt, wenn er mich jetzt in den Armen hält und das Begehren, das die Berührung in ihm auslöst.

Und all das kann ich in seiner ganzen Intensität wahrnehmen und genießen, obwohl Tom davon nichts in Worte gefasst hat. Ich weiß um seine Gefühle – ich muss nicht daran glauben, denn ich kann ihn auf einer Ebene wahrnehmen, auf der es nur die Wahrheit gibt.


... kannst du mich verstehen?

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