Читать книгу ... kannst du mich verstehen? - Barbara Namor - Страница 3
Kapitel 1: Dienstag, 11.2. – 16 Uhr 49
ОглавлениеZuerst laufen wir Schulter an Schulter und ich halte mühelos mit. Schließlich sind wir ja nicht zum ersten Mal gemeinsam unterwegs. Leider geht diese Phase unseres Trainings viel zu schnell vorbei. Bald schon schaue ich auf den Rücken vor mir und bemühe mich, den Abstand dazu nicht noch größer werden zu lassen. Dabei weiß ich genau, dass dieser Rücken nicht einfach davonziehen und irgendwann verschwinden wird: Sobald das Geräusch meiner Schritte zu leise klingt, traben die Füße da vorn eine Weile auf der Stelle, bis ich wieder aufgeholt habe. Wir laufen schließlich kein Rennen.
So leicht will ich mich allerdings nicht schon wieder geschlagen geben. Immerhin habe ich Ehrgeiz. Zumindest etwas. Und deshalb möchte ich mich nicht einfach abhängen lassen. Ich versuche, mich mit einer Art von Selbsthypnose in einen Laufstil hineinzumanövrieren, der nichts mehr denkt und fühlt: nicht die schwerer werdenden Beine; nicht die eiskalte Luft in den Lungen; nicht diese dumme und vor allem schmerzhafte Reibestelle an der rechten Ferse; nicht die rebellische Frage, ob es denn wirklich notwendig ist, sich so zu schinden an zwei bis drei Tagen in der Woche, nur um für den Fall der Fälle, von dem alle hoffen, dass er nie eintritt, vorbereitet zu sein.
Aber mein Kopf lässt sich nicht abstellen. Bald sind die wenig motivierenden Gefühle von Erschöpfung, Kälte, Schmerz sowie die Frage nach dem Sinn der Quälerei wieder da. Laufen ist nun einmal nicht mein Lieblingssport. Trotzdem laufe ich jede Woche ein paar Stunden lang. Heute regnet es wenigstens nicht. Es ist nur eiskalt, der Himmel wolkenlos und in einer Stunde geht die Sonne unter.
Joe trabt vor mir mit einer geradezu unverschämten Leichtigkeit dahin. Er hat es im Gegensatz zu vielen anderen Düsseldorfer Joggern nicht nötig, seinen Hintern in solche Laufstumpfhosen, die ich besonders bei Männern unsäglich albern finde, zu quetschen, um zu beweisen, dass er gut gebaut ist. Die weißen Atemwolken, die er ausstößt, kommen angesichts seines Tempos erstaunlich ruhig und regelmäßig. Sein Laufstil ist frei von den kleinen, unbewussten, asymmetrischen Bewegungen, die die meisten anderen Jogger pflegen. Mit nicht zu großen, aber effektiven Schritten frisst er förmlich die Kilometer. Gespannt beobachte ich, wie er auf den nächsten Abzweig zusteuert.
„Verdammt! Warum schon wieder die lange Tour?“, maule ich leise, als mir klar wird, dass er heute die Schleife durch den Park an unsere Strecke hängen möchte.
Jetzt passiert es – Joe hält inne und trabt auf der Stelle, bis ich die zehn Schritte gemacht habe, die uns mittlerweile trennen. Größer lässt er unseren Abstand nie werden, fast so als hätte er Augen im Hinterkopf.
„Mecker nicht, Sara. Es ist doch wunderbares Wetter zum Laufen, oder?“, meint er leichthin, als er neben mir wieder in Tritt fällt.
„Du vergisst, dass du zum Laufen geboren bist, aber ich nicht! Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir so viel laufen, hätte er uns nicht das Rad erfinden lassen. Müssen es denn heute wieder fünfzehn Kilometer sein?“, schnaufe ich.
Joe grinst breit zu mir herüber. „Ja. Das muss sein. Du weißt doch, was ich versprech…“
Ich winke ab. Ich weiß nur allzu gut, wie der Satz weitergeht. „Sag´s bitte nicht schon wieder. Du hast es diese Woche schon ziemlich oft gesagt, finde ich.“
Dann halte ich den Mund, denn mir fehlt einfach der Atem zum Sprechen. Ich lasse mich wieder zurückfallen und bedaure außerordentlich, dass mich nicht wenigstens Joes perfekt modellierte Rückansicht motivieren kann, ihm leichtfüßig wie ein Reh zu folgen. Eine Weile gelingt mein Versuch, mich einfach mit den Augen an seinen Schultern festzusaugen und ihm einigermaßen locker hinterherzulaufen. Dann beginnt der Abstand, sich wieder zu vergrößern, obwohl ich dagegen ankämpfe. Jetzt weiß ich, dass ich, wenn ich die letzten viereinhalb Kilometer schaffen will, sozusagen mein Notstromaggregat anschalten muss. Ich konzentriere mich, stelle mir intensiv ein ziemlich beängstigendes Bild vor und meine Erschöpfung löst sich quasi auf.
Ich spreche Ur.
Grundsätzlich sind damit viele angenehme Effekte verbunden. Aber deshalb muss ich mich unter anderem auch hier schinden und zum Beispiel mehrmals in der Woche mit Joe durch die Düsseldorfer Parkanlagen traben. Wir tun das zu meiner Sicherheit.
Ur ist die universelle Sprache des Kosmos´. Sie bezeichnet und beschreibt alles, was es gibt – auf der Erde und wahrscheinlich auch weit darüber hinaus.
Gesprochen beeinflusst Ur Dinge und Lebewesen. Mit Worten auf Ur kann ich zum Beispiel Feuer legen, Durchfall auslösen, Stoffe oder Menschen analysieren, angreifen oder mich verteidigen. Für andere Menschen klingt diese universelle Sprache wie ein mehr oder minder melodisches Summen oder Brummen, bisweilen wie ein Schrei.
Nicht nur das Sprechen von Ur ist mir angeboren, sondern auch ein überaus leistungsfähiges Gehör, das es mir möglich macht, die Echos, die entstehen, wenn ich etwas oder jemanden schalle, zu analysieren.
Mich selbst halte ich durch den Gebrauch von Ur ständig in der inneren Balance, sodass ich unter anderem nicht krank werde, solange ich nicht lüge, oder sodass ich, wie jetzt beim Sport, eine Art Turbo einschalten kann, wenn es nötig sein sollte. Die Konzentrationsübung, mit der ich gerade begonnen habe, bewirkt, dass ich nach und nach in der Lage bin, auf Energiereserven meines Körpers zurückzugreifen, die mir sonst bestenfalls unter Schock zur Verfügung stünden. Ich muss dabei vorsichtig dosieren, damit ich mich nicht vollkommen verausgabe, sonst kann Joe mich nach Hause tragen.
Nach ein, zwei Minuten spüre ich die Kälte nicht mehr, die Schwere in den Beinen verschwindet und Joes Schulter befindet sich wieder neben meiner.
„Schaffst du es wirklich nicht ohne deinen Hilfsmotor?“, erkundigt er sich kritisch, nachdem er gehört hat, dass ich viel ruhiger als zuvor atme.
„Heute nicht.“
„Dann können wir das Tempo sicher ein wenig anziehen, sonst genießt du ja gar keinen Trainingseffekt“, meint er daraufhin listig und legt zwanglos noch einen Schritt zu. Zu meinem Erstaunen überholen wir einen Radler mit Hund an der Leine – beide sehen nicht wirklich aus, als wären sie gemütlich unterwegs. Wir müssen ein höllisches Tempo laufen!
Zumindest schnauft Joe so wie ich, als wir endlich, endlich das Training beenden. Das ist immerhin etwas. Zuletzt musste ich mich wirklich sehr zusammennehmen, um die nötigen Reserven zum Mithalten freizusetzen. Kaum gehen wir, schnappt sich Joe zwanglos mein Handgelenk und fühlt den Puls.
„Wie ein Dampfhammer, aber stabil“, meint er nicht unzufrieden. Aufmerksam schaut er schließlich in mein Gesicht. Dann will er wissen: „Wie lang könntest du jetzt in diesem Tempo noch weiterlaufen?“
Ich horche tief in mich hinein und schätze dann: „Vier Minuten und dreißig Sekunden im Dauerlauf, bei voller Fluchtgeschwindigkeit allerdings nur noch maximal einszwanzig. Dann käme der Kollaps.“
Joe knurrt: „O. k. Wirklich beruhigend, dass du deine Reserven mittlerweile so gut abschätzen kannst. Dann lass uns noch ein paar Dehnübungen machen und anschließend zurück zur Basis gehen.
Ich muss lächeln, während ich mich an einem Laternenpfahl festhalte, um noch ein paarmal im Stehen die Oberschenkelmuskulatur zu dehnen. Im Alltag merkt man nur an ganz kleinen Absonderlichkeiten, dass Joe und ich ein recht ungewöhnliches Paar bilden – er sagt zum Beispiel, wenn er in unsere gemeinsame Wohnung zurückkehren will, Basis, was wahrscheinlich kein anderer Düsseldorfer tut, wenn er nach Hause möchte.
Immer wieder, wenn ich auf das klotzige Hochhaus zugehe, in dem Joe und ich im dreiundzwanzigsten Stock wohnen, schneide ich zumindest innerlich eine Grimasse. Es ist dermaßen hässlich! Ich trauere heimlich nach wie vor meiner winzig kleinen Wohnung in der Dahlienstraße hinterher, die ich vor etwa anderthalb Jahren verlassen musste.
Immerhin funktioniert der Aufzug heute; es ist kein Vergnügen, wenn der nach fünfzehn Kilometern Jogging unter arktischen Bedingungen streikt und das hatten wir auch schon!
Es sieht stets so aus, als wäre Joe ziemlich unhöflich, wenn wir den Aufzug benutzen: Er steht direkt vor der sich öffnenden Tür; wenn der Lift kommt, blockiert er förmlich den Zugang für mich. Und er verlässt die Kabine auch immer als erster, wenn wir unser Ziel erreichen. Das tut Joe nicht aus einem Mangel an gutem Benehmen oder Aufmerksamkeit. Er tut es aus demselben Grund, aus dem er beim Joggen eine Waffe bei sich trägt: um mich gegebenenfalls vor plötzlich auftretenden Bedrohungen zu schützen. Um sich und seinen Körper zwischen unvermittelt auftauchende Gefahren und mich schieben zu können.
Anders als bei den übrigen Wohnungen im ganzen Haus brauchen Joe und ich keinen Schlüssel, um die Wohnungstür zu öffnen. Ein Tastenfeld verlangt von uns, eine zwölfstellige Zahlenkombination einzutippen. Nachdem das erledigt ist, springt die Tür auf, die nur nach außen hin so aussieht wie die anderen Türen auf dem Flur. Sie ist hinter der unauffälligen Oberfläche schwer gepanzert. Auch die Wohnung betritt und verlässt Joe immer als Erster. Das ist uns mittlerweile so in Fleisch und Blut übergegangen, dass es uns nicht mehr auffällt.
Ich gehe steifbeinig in die Küche und setze mir eine Flasche mit einem Energydrink an den Mund, die ich schon vor unserer Sportstunde aus dem Kühlschrank geholt hatte. Gierig trinke ich und bin froh, dass das Zeug mir nicht eiskalt die Kehle hinunter rinnt. Joe schaut nur kurz zur Küchentür herein und verkündet locker: „Ich tue noch ein bisschen für meine Oberarme. Du kannst zuerst duschen.“
Der Kerl ist einfach nicht totzukriegen! Froh, dass ich als Erste duschen darf, schlurfe ich ins Bad. Ich weiß, dass ich mich nicht beeilen muss – wenn Joe erst einmal anfängt, mit seinen Hanteln zu arbeiten, dauert das meist eine ganze Weile.
Das heiße Wasser wäscht nur einen Teil meiner Müdigkeit einfach in den Abfluss. Sonst weiß Joe recht genau, was er mir beim Training zumuten darf. Normalerweise komme ich ziemlich erschöpft hier an. Aber ich erhole mich auch wieder einigermaßen schnell. Allerdings schreiben wir morgen eine Klausur. Ich schätze, Joes Nerven sind davor zum Zerreißen gespannt und deshalb hat er heute versucht, sich körperlich beim Laufen richtig müde zu machen, damit er wenigstens in der nächsten Nacht gut schläft. Er hasst es, Klausuren zu schreiben. Deshalb musste ich wohl auch gerade die lange Tour laufen. Für mich war es jedenfalls ein bisschen zu viel dieses Mal; ich könnte im Stehen einschlafen.
Während ich meine Haare föhne, frage ich mich einmal wieder, wie das für Joe sein mag, sozusagen zwangsweise Psychologie zu studieren. Was früher einmal so harmlos Semesterferien hieß, nennt man heute treffend "vorlesungsfreie Zeit". Die hat es in sich. Morgen müssen wir einen sogenannten Leistungsnachweis in Sachen Genetik hinter uns bringen, das heißt eine zweistündige Klausur schreiben.
Ich denke, ich habe den Stoff ganz gut im Kopf. Prüfungen bereiten mir nicht wirklich Sorgen. Lernen fällt mir leicht. Etwaige Nervosität kann ich mithilfe von Ur bekämpfen, der Rest ergibt sich dann meist von allein. Außerdem habe ich das Psychologiestudium gleich nach dem Abitur begonnen, also nur die Schulbank mit dem Hörsaal vertauscht. Joe dagegen musste sich erst wieder daran gewöhnen zu pauken. Sein Chef hielt es für eine wunderbare Idee, dass er mich nicht nur als Bodyguard an die Uni begleitet, sondern die Zeit dort auch gleich dazu nutzt, um mit mir Psychologie zu studieren.
Der amerikanische Geheimdienst, für den Joe arbeitet, stellt ziemlich hohe Ansprüche an seine Mitarbeiter. Jeder einzelne ist eine qualifizierte Fachkraft – und es sind nicht nur Fähigkeiten gefragt, die mehr den handwerklichen Teil der Arbeit von Personenschützern betreffen: beschatten, Nahkampf, Abhörtechniken und so weiter. Da befinden sich auch reichlich Akademiker in der Truppe, vor allem Techniker, Naturwissenschaftler und Ärzte.
Nachdem meine schulterlangen Haare wieder trocken sind, creme ich mich in aller Ruhe ein. Ich besetze erst seit vierzehn Minuten das Bad. Joe wird noch immer Hanteln stemmen. Das macht er selten kürzer als eine halbe Stunde.
Als ich in den Spiegel schaue, sehe ich das Lächeln in meinem Gesicht – ich brauche wirklich nur das Wort "Ärzte" im Zusammenhang mit Joes Kollegen zu denken, schon beginne ich zu strahlen. Denn dann denke ich an Tom.
Ich kann gar nichts dagegen tun – der bloße Gedanke an Tom macht mich glücklich. Es ist jetzt einundzwanzig Tage, drei Stunden und siebzehn Minuten her, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Manchmal fühlt es sich an wie ein Fluch, wenn man quasi als unerwünschte Nebenwirkung von Ur die Zeit und den Raum derart überdeutlich wahrnimmt wie ich! So bekomme ich keine Chance zu vergessen, wie lang unser letzter Abschied schon wieder zurückliegt: Über drei Wochen! Es ist furchtbar, wenn ich den Mann, den ich liebe, derart vermisse.
Aber ich will nicht unzufrieden sein, denn als ich Tom kennengelernt habe, war es mehr als unwahrscheinlich, dass wir einmal als Paar zueinanderfinden. Es hat trotzdem geklappt, wenn auch mit reichlich vielen Hindernissen. Weil es Tom in meinem Leben gibt, bin ich glücklich. Sehr schwer finde ich es nur, immer wieder ertragen zu müssen, dass wir beide nie wissen, wann wir uns wiedersehen, wenn wir uns trennen.
Schließlich klopft es an der Badezimmertür. Joe reißt mich mit seiner Frage: „Kann ich demnächst ins Bad?“, aus meinen Gedanken.
Ich stelle die Bodylotion wieder in den kleinen Schrank, verknote mein Duschtuch über der Brust und öffne die Tür.
„Habe ich zu lang gebraucht?“, frage ich Joe, der verschwitzt mit nacktem Oberkörper auf dem Flur steht.
Er schüttelt den Kopf und verschwindet Richtung Dusche. Als ich die paar Schritte zu meiner Zimmertür gehe, denke ich noch, dass es alles andere als selbstverständlich ist, wie zwanglos Joe und ich nach über zwei Semestern Wohngemeinschaft mit einander umgehen. Mittlerweile ist er für mich so eine Art großer Bruder; ich habe keine Angst vor Hintergedanken und er scheint von mir auch nicht zu befürchten, dass ich auf die Idee verfallen könnte, ihn attraktiv zu finden. Dabei ist er wirklich attraktiv – nur nicht für mich.
Nachdem ich mir Jeans und einen Pulli angezogen habe, gehe ich in die Küche. Joe hat zwei riesige Steaks vom Einkaufen mitgebracht! Manchmal bricht der Amerikaner in Reinkultur aus ihm hervor. Mich stört das absolut nicht, denn ich mag Steaks. Eine ganze Pfanne voll Bratkartoffeln hatte ich wohlweislich schon vor unserem Lauf vorbereitet; die Steaks sind schnell gebraten. Dazu gibt es gedünsteten Brokkoli, den ich nach dem Abgießen rasch noch mit Semmelbröseln und etwas Käse überbacke. Mittlerweile bin ich eine ganz gute Köchin. Joe taucht pünktlich in der Küche auf, als ich zwei gut gefüllte Teller auf den Tisch stelle. Wir essen zunächst fast schweigend, denn wir haben beide einen wahnsinnigen Hunger. Ich muss allerdings zwischendurch immer wieder gähnen.
„So müde?“, erkundigt sich Joe mitfühlend.
Ich nicke nur.
„Habe ich dich zu sehr gescheucht?“, will er wissen.
„Ist schon in Ordnung. Aber viel mehr als das, was du da heute von mir verlangt hast, schaffe ich nicht“, muss ich zugeben.
„Tut mir leid, Sara. Das ist bestimmt nur wegen der dummen Klausur morgen passiert. Ich stehe ein bisschen unter Dampf, denn ich muss bestehen. Wenn du mich im Studium abhängst, bekomme ich mächtig viel Ärger“, entschuldigt sich Joe.
„Das wiederum tut mir leid. Wenn du dich dann besser fühlst, gehen wir nach dem Abendessen noch einmal alles durch“, schlage ich vor.
Nachdem die Teller blank gefuttert sind, holt Joe seine Mitschrift aus der Genetikvorlesung, eine alte Musterklausur und das vom Dozenten empfohlene Lehrbuch. Kapitel für Kapitel fressen wir uns durch den Stoff und ich frage Joe ab. Um Viertel nach neun allerdings gähne ich nur noch.
„Danke, Sara“, meint Joe schließlich. „Jetzt fühle ich mich sicherer. Das hat ja einigermaßen geklappt. Ich würde sagen, du solltest ins Bett verschwinden, sonst verschluckst du mich demnächst beim Gähnen versehentlich. Ich schaue mir nur noch mal die Formeln an und dann bringe ich die Küche in Ordnung.“
Ich nicke und verschwinde dankbar. Wenn man in einer WG lebt, dann sollte man unbedingt darauf achten, dass die Mitbewohner in einem Geheimdienst arbeiten – das sind wunderbar disziplinierte Menschen, mit denen man nie die sonst für Wohngemeinschaften üblichen Reibereien in Sachen Küchenarbeit oder Sauberkeit im Bad erlebt. Ich koche meistens und danach beseitigt Joe das Chaos, das ich hinterlassen habe. Die Arbeitsteilung gefällt mir.
Als ich mich ins Bett kuschle, lese ich vor dem Einschlafen wie immer noch einmal Toms letzten Brief. Er endet mit den Worten: „Hoffentlich bis bald!“, denn er leidet mindestens so sehr wie ich darunter, dass wir uns nur in unregelmäßigen Abständen sehen.
„Bis bald“, flüstere ich und küsse den Briefbogen, bevor ich das Licht lösche.