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ОглавлениеKapitel 4: Das „Opfer“: Martin
Er grübelte einige Tage darüber nach, wie es jetzt weitergehen würde, dann schickte er nach Martin. Der kam, verbeugte sich stumm und blieb mit gesenktem Kopf vor Heinrichs Bett stehen. Heinrich musterte ihn. Er war dürr, das Hungern hatte Spuren hinterlassen.
Er wusste nicht recht, wie er anfangen sollte. Vielleicht erst einmal mit dem Naheliegendsten? Heinrich zwang sich, freundlich zu sein: „Vielen Dank, dass Du mich gerettet hast.“
Erstaunt blickte Martin auf, senkte den Kopf aber schnell wieder. Er sagte nichts, er war ja nichts gefragt worden. Der Mann dort im Bett war gefährlich und er wollte nichts riskieren. Heinrich war es nicht gewohnt, freundlich zu seinen Knechten zu sein. Aber jetzt wollte er freundlich sein, freundlich und auch dankbar.
Er meinte: „Du hast mein Bein wieder eingerenkt. Der Mönch hat gemeint, Du hast das gut gemacht. Woher kannst Du das?“
Martin schaute weiter auf den Boden, als er antwortete: „Meine Mutter war die Heilerin bei uns im Dorf. Sie hat mir und meiner Schwester viel gezeigt und uns oft mitgenommen, wenn sie die Kranken besucht hat.“
In Heinrichs Herz zog es. Seine Pflegemutter war für ihn die Mutter gewesen. Alles hätte so gut sein können, für jeden von ihnen, wenn sein Vater nicht…
Aber Heinrich verbot sich, daran zu denken. Er wäre Martin und damit seine Schuld einfach gerne losgewesen, aber das ging nicht. Irgendwie musste er einen Weg finden, das Unrecht gutzumachen. Heinrich stutzte. Konnte man so etwas überhaupt gutmachen? Er zwang sich zu lächeln und meinte: „Du musst ja jetzt sonntags nicht mehr arbeiten und kannst mit den Anderen essen. Geht es Dir gut? Erholst Du Dich?“
In Gedanken fluchte Heinrich. Er redete Unfug. Aber ihm fiel nichts Gescheiteres ein.
Ja, Heinrich redete Unfug, und Martin wunderte sich. Und doch, es waren die ersten freundlichen Worte, die er je vom Herrn Heinrich bekommen hatte. Freundliche Worte waren Mangelware in Martins Leben. Die Leute am Gut waren zwar voll Mitgefühl für ihn, niemand drangsalierte ihn, wie sie es mit Veit taten. Und trotzdem hielten sie sich von ihm fern, weil er in Ungnade stand. Niemand wollte riskieren, vom Gutsherrn beim freundlichen Umgang mit Martin gesehen zu werden.
Niemand außer dem Verwalter. Martin verehrte diesen Mann. Ulrich setztes zwar grundsätzlich immer um, was der jeweilige Herr befahl, aber persönlich hatte er immer nur Güte und Freundlichkeit von Ulrich erfahren. Er schlief sogar in Ulrichs Schreibstube, weil er dort sicher war und es warm hatte. Im Winter wärmten sich die Leute gegenseitig, doch die Ausgestoßenen, wie Veit und er, die hatten niemanden, der sie wärmte. In Ulrichs Schreibstube war es warm, und er war sicher dort. Niemand verging sich an ihm, niemand fügte ihm Leid zu. Es waren die paar friedlichen Stunden in der Nacht, die es Martin ermöglicht hatten, zu überleben. Und so manches Mal fand er abends, wenn er sich hinlegte, Brot, Käse, Äpfel, hartgekochte Eier oder etwas anderes zu Essen an seinem Schlafplatz. Nicht am Sonntag, Ulrich hielt sich an Heinrichs Verbot, aber halt dann am Montag oder Dienstag, oder an beiden Tagen. Ohne Worte, ohne Aufhebens, hatte Ulrich dafür gesorgt, dass er nicht verhungert war. Nicht, dass es Martin etwas ausgemacht hätte, zu sterben. Oft, wenn der Wundbrand durch ihn tobte, oder wenn er nach den Schlägen von Heinrichs Racheaktionen zusammenbrach und liegenblieb, dachte er wie wunderbar es wäre, einfach zu sterben. Doch irgendetwas hielt ihn hartnäckig am Leben. Und verhungern wollte Martin auch nicht, das war ein übler Tod.
Heinrich und Martin schwiegen beide. Heinrich wusste nicht, was er sagen sollte, und für Martin kam es nicht in Frage, etwas zu sagen. Er war ja nicht gefragt worden.
Martin hielt, wie es sich gehörte, den Kopf gesenkt, und doch schweiften seine Blicke geübt umher. Sie blieben an dem langen Strick an Heinrichs Fußgelenk hängen. Neugierig hob er den Kopf leicht und musterte das verbundene Bein und den Strick daran. Heinrich sah ihm kurz zu und meinte dann: „Ich soll mit den Stricken üben. Damit ich das Bein wieder gut nutzen kann.“ Martin nickte. Das war eine gute Idee.
Heinrich war froh, dass er etwas gefunden hatte, worüber sie ohne peinliches Schweigen sprechen konnten. Er erklärte die Übungen, die Bruder Humbert ihm gezeigt hatte und führte sie vor.
Martin wurde etwas ruhiger. Anscheinend hatte der Herr Heinrich heute nicht vor, ihm irgendetwas anzutun. Er schwieg einfach, hörte zu und beobachtete. So wie er es immer tat. Heinrich war irritiert. Warum sagte Martin nichts, das hätte alles leichter gemacht. Er versuchte es erneut: „Der Arzt hat gesagt, es war gut, dass Du es gleich eingerenkt hast. Später wäre es viel schmerzhafter geworden, oder das Bein wäre schief geblieben.“ Martin knetete nervös seine Hände. Er wusste nicht, ob der Herr Heinrich eine Antwort erwartete oder nicht. Sollte er reden, oder lieber schweigen? Besser schweigen, da konnte man nichts falsch machen. Martin hatte die letzten Tage genug zu essen bekommen, weniger gearbeitet und war das Halseisen losgeworden, er wollte das alles nicht mit unbedachten Worten in Gefahr bringen.
Heinrich war ratlos. Er wollte freundlich sein zu Martin, doch irgendwie ging der gar nicht darauf ein. Heinrich hatte sich vorgenommen, gütiger zu seinen Dienstboten und den leibeigenen Bauern zu sein. Da er jetzt viel Zeit hatte, malte er sich oft aus, wie sie dankbar sein würden. Sie würden ihm die Hand küssen, Gottes Segen auf ihn herabrufen, ihn hochleben lassen. So stellte er sich das oft vor. Natürlich würde Gott sehen, wie gütig und großartig er war und es ihm anrechnen. In der Vorstellung war das alles wunderbar. Wunderbar einfach, wunderbar schnell, so würde er seine Schuld loswerden und ein neues Leben beginnen. Aber irgendwie verhielt Martin sich ganz anders, als Heinrich gedacht hatte. Er sollte sich einfach über die bessere Behandlung freuen und sich normal verhalten und keine Schwierigkeiten machen.
Doch Martin stand immer noch mit gesenktem Kopf da. Heinrich seufzte. Am liebsten hätte er ihn einfach rausgeworfen, doch das ging nicht nach allem, was passiert war.
Da Martin nicht sprach, schaute Heinrich im Raum umher, und sein Blick blieb am Würfelbecher auf dem Tisch hängen. Manchmal blieb der Verwalter etwas bei ihm und sie spielten zusammen Schach oder andere Brettspiele wie Alquerque, und natürlich würfelten sie. Leider hatte Ulrich als Verwalter selten Zeit übrig und überließ Heinrich immer viel zu schnell wieder der Langeweile. Heinrich hatte eine Idee: „Schau mich an!“
Martin hob den Kopf und tat, was ihm gesagt worden war. Sein Gesicht glich einer Maske aus Stein, nichts verriet, wie er sich fühlte. Heinrich fragte: „Kannst Du Alquerque spielen?“ Martins Augen wurden groß. Er schüttelte den Kopf und meinte: „Nein, Herr.“
„Ich werde es Dir beibringen.“
Und das tat Heinrich dann auch. Zu Martins großer Verwunderung hieß er ihn den Tisch und einen Stuhl ans Bett schieben und sich hinsetzen. Zuerst würfelten sie, und als Martin einigermaßen entspannt schien, trug Heinrich ihm auf, das Brett und die Steine für das Alquerque- Spiel aus der Truhe zu holen. Er erklärte es und sie spielten. Heinrich versuchte, ruhig die Regeln zu erklären, und Martin begriff schnell. Erstaunlich schnell.
Martins Leben war sehr hart gewesen die letzten zehn Jahre. Es war ihm alles genommen worden außer seine Gedanken. Martin hatte früher gerne nachgedacht. Er konnte mit einem Blick Situationen und Zusammenhänge erfassen. Die letzten Jahre war diese Gabe nach und nach verloren gegangen, weil Denken schwer ist, wenn man langsam verhungert und ständig in Angst lebt. Die letzten Tage hatte er genug zu essen bekommen, und niemand hatte ihn schlecht behandelt. Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich langsam und Martin konnte wieder klar denken.
Martin war immer schon sehr wissbegierig gewesen und hatte sich über alles Mögliche Gedanken gemacht. Sein Vater war der Müller im Ort gewesen und hatte ihm viel erklärt, z.B. über die Funktionsweise einer Mühle, über den Lauf des Mühlbaches, über Zusammenhänge von Wasser und Hochwasser. Er hatte den Sohn mitgenommen, wenn er Reparaturen zu tun hatte und so hatte Martin gelernt, logisch und ruhig an eine Sache heranzugehen. Denken vor Handeln, das hatte ihm der Vater immer wieder eingeschärft. Denken vor Handeln konnte vor Unfällen und Tod bewahren.
Martins Mutter war die Heilerin des Dorfes gewesen. Das war nicht verwunderlich, denn seit jeder betrachteten die Leute Mühlen als magische und übernatürliche Orte, vermutlich weil sie etwas außerhalb des Dorfes, nahe am Wald lag. Der Müller, der oft nachts arbeitete, wurde argwöhnisch beäugt. Martins Vater hatte oft darüber gelacht, weil er schlicht und einfach vom Lauf des Wassers abhängig war, und manchmal machte es einfach mehr Sinn, eine Mühle nachts laufen zu lassen. Aber die Leute hatten ihren Aberglauben, und auch wenn es niemand zugeben mochte: Kräuter von einer Müllerin hatten noch mehr Heilkraft, weil ihnen etwas Mystisches anhing.
Viele Leute übten klammheimlich noch ihre heidnischen Bräuche aus, und Pflanzen, die zur richtigen Zeit mit den richtigen Gebeten ausgegraben oder abgeschnitten wurden, wirkten einfach besser. Außerdem konnte die Müllerin Knochen einrichten, Blutungen stillen, Zähne reißen und bei schwangeren Frauen spüren, wie das Kind im Bauch lag.
Martin war immer mitgegangen auf ihre Besuche bei den Leuten und hatte ihr geholfen. Er hatte Wissen aufgesaugt wie ein Schwamm. Gerne wäre er ein gelehrter Mönch geworden. Er hätte Lesen und Schreiben gelernt, vielleicht sogar Latein. Er hätte über andere Länder gelesen und über andere Ansichten. Aber der Weg als Mönch in einem Kloster stand ihm nicht offen als leibeigener Müllersohn. Auch wenn der Grundherr zugestimmt hätte: genommen hätte ihn nur ein armes Bettelkloster, und dann wäre er vor lauter Arbeit und dem Einsammeln von Almosen auch nicht zum Studieren gekommen. Eventuell hätte er Laienbruder werden können, aber die wurden eigentlich auch nur für die ganze körperliche Arbeit in den Klöstern ausgenutzt. Nein, Martin war nicht zu einem Leben als Mönch bestimmt gewesen. Vielleicht wäre er Heiler geworden, wie die Mutter, oder auch Müller, wenn nicht damals seine Familie und sein Leben so jäh zerstört worden wären.
Er war jetzt nur ein einfacher Stallknecht, Studieren und Lernen waren so weit weg wie der Mond. Und doch, seine Gedanken konnte ihm niemand verbieten.
Martin hatte mit wenigen Blicken die Situation erfasst. Er hatte den alten Verband an Heinrichs Bein gesehen, der viel zu locker war. Die eingewachsenen Zehennägel an seinem Fuß, die sicher Schmerzen bereiteten und, wenn er Pech hatte, zu einer Entzündung bis hin zur Blutvergiftung führen konnte. Er hatte die Schwellung in Heinrichs Füßen gesehen, und sie darauf zurückgeführt, dass der Herr zu viel im Bett lag. Er hatte den verbrauchten Geruch in der Kammer gerochen und auch den seltsamen Trank am Bett. Der Trank war vermutlich Theriak, ein Gebräu aus Honig, verschiedenen Kräutern und viel Mohnsaft. Martins Erfahrung nach machte der Trank nur müde und nicht gesund. Heinrichs Vater, der alte Gutsherr, hatte den Theriak jeden Tag getrunken, er konnte nicht ohne den Trank. Martin vermutete, dass er deswegen immer wieder Wahnvorstellungen, Ängste, Kopfschmerzen und Verstopfung gehabt hatte. Er wusste nicht so recht, warum, aber der Theriak, der vom Arzt aus dem Kloster so reichlich verabreicht wurde, tat nicht gut.
Doch jetzt war Heinrich klar, und er war gut gelaunt. Martin lernte schnell, vielleicht hatte er ja jetzt jemanden gefunden, der ihm die Langeweile vertreiben konnte. Heinrich würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: er konnte pflichtschuldig Zeit mit dem neu entdeckten, ungeliebten Halbbruder verbringen, und zusätzlich keine Langeweile mehr haben.
Sie spielten also Alquerque, und Martin lernte schnell. Sie spielten immer wieder und Heinrich bemerkte nach einiger Zeit, dass Martin begann, absichtlich zu verlieren. Martin spielte gut, war aber noch nicht geschickt genug, um sein absichtliches Verlieren zu vertuschen. Heinrich sah sich das einige Zeit an, sogar den ganzen Nachmittag lang.
Dann, irgendwann, reichte es ihm. Er seufzte laut und fragte: „Warum verlierst Du absichtlich, meinst Du, ich sehe das nicht?“ Seine Worte taten ihm recht schnell wieder leid, weil Martin sich verkrampfte und ganz offensichtlich Angst hatte.
Heinrich atmete tief durch. Er startete einen neuen Versuch: „Weißt Du, ich liege hier den ganzen Tag im Bett. Für mich ist es schön, wenn jemand mit mir Alquerque spielt. Aber es bringt nichts, wenn Du mich immer gewinnen lässt, dann fehlt die Herausforderung. Verstehst Du das?“
Martin zögerte kurz und meinte dann: „Ja, Herr.“
Heinrich wartete, aber da kam nichts mehr.
Also hakte er nach: „Gut. Also wirst Du versuchen zu gewinnen?“ „Ja, Herr.“ Martin starrte angespannt auf die Tischplatte. Heinrich war nicht so ganz überzeugt. Er hatte eine Idee: „Nun denn: Wenn Du das erste Mal gewinnst, dann lasse ich uns Früchtebrot und süße Wecken bringen, die essen wir dann zusammen.“ Martin sah nicht auf. Er war verwirrt. Warum nur wollte der Herr, dass er gewann? War Martin nicht einfach nur geholt worden, um ihm die Zeit zu vertreiben? Würde der Herr wütend werden, wenn er gegen seinen Stallknecht verlor? Heinrich hatte ihm aufgetragen, zu gewinnen. Er hatte sogar Früchtebrot und süße Wecken versprochen. Martin glaubte ihm kein Wort, und trotzdem: der Herr wollte, dass er gewann, warum auch immer, also würde er gewinnen.
Bereits bei der übernächsten Runde schlug Martin den Herrn haushoch. Er schwieg angespannt, doch Heinrich lachte: „Gut gemacht! So soll das sein! Geh doch bitte und ruf die Hauserin!“ Martin verstand die Welt nicht mehr. Der Herr hatte „Bitte“ gesagt. Was ging hier vor?
Folgsam stand er auf, verbeugte sich und ging, um die Wirtschafterin zu holen. Er kehrte mit ihr zusammen zurück, und Heinrich trug ihr auf, warmen gewässerten Würzwein, Früchtebrot, süße Wecken oder sonstige Leckereien zu bringen, die gerade da waren.
Martin stand verwundert da. Was war los mit dem Mann dort im Bett? Hatte er sich beim Sturz am Kopf verletzt? Dass er einfach nur dankbar war für die Rettung aus dem kalten Bach, das glaubte Martin nicht. Dankbarkeit und Heinrich, das konnte er nicht zusammenbringen. Irgendetwas war. Der Herr Heinrich tat Dinge eigentlich nur, wenn sie ihm nutzten. Sicherlich sollte Martin ihm nur die Langeweile vertreiben und dann wieder gehen.
Heinrich lud ihn ein, sich zu setzten, und sie spielten noch eine Runde Alquerque zusammen.
Das Essen wurde gebracht und Martin gingen die Augen über. Es gab Früchtebrot und Butter, Wecken mit Weinbeeren und Rahm. Martin wurde nervös. So gute Sachen bekam nur sehr selten, nur an hohen Feiertagen. Heinrich wollte seinen Gast freundlich anlächeln, der aber hielt den Kopf gesenkt, also sagte er laut und deutlich: „Bitte, greif zu!“
Langsam hob Martin den Kopf und sah sein Gegenüber an. Sollte er wirklich einfach hinlangen und essen? Heinrich schob gerade den ersten mit Rahm gefüllten Rosinenwecken hin sich hinein und nickte Martin freundlich zu. Ergeben streckte Martin die Hand aus und nahm sich auch einen. Er war nervös und würgte den Wecken so schnell wie möglich hinunter, bevor der Herr Heinrich es sich anders überlegen konnte. Doch nichts passierte. Martin leckte seine Lippen. Der Wecken war wirklich gut gewesen. Den zweiten würde er genießen. Vorsichtig nahm er sich noch einen, bereit ihn jederzeit wieder fallen zu lassen, und biss hinein. Es war ein Genuss! Er aß ihn dann doch viel zu schnell, wahrscheinlich war das einfach der Zeit geschuldet, in der er so schwer gehungert hatte.
Heinrich nahm sich jetzt ein Stück Früchtebrot und strich ganz dünn Butter drauf. Die Butter musste dünn sein, sonst würde man den feinen Geschmack der Früchte und der Nüsse nicht bemerken. Wieder nickte er Martin aufmunternd zu, und Martin nahm sich auch ein Stück. Er verstand nicht wirklich, warum sie hier zusammen aßen, aber die süßen Speisen waren unglaublich gut.
Nach dem Essen schoben sie die Teller auf einer Seite des Tisches zusammen und tranken einen Becher warmen, gewässerten Würzwein. Martin seufzte heimlich. Die Kälte des Winters, die ihm normalerweise bis auf die Knochen ging, wich zurück. Es wurde warm. Warm im Bauch, warm in seinen Muskeln, warm in der Seele. Er saß hier in der warmen Kammer und durfte sich ausruhen. Sein Alltag war normalerweise hart und gerade im Winter ziemlich kalt.
Nachdem der Becher geleert war, spielten sie noch ein paar Runden. Manchmal gewann Heinrich, manchmal Martin. Heinrich hatte einen schönen Nachmittag ohne die üblichen Grübeleien, ohne den Theriak, der ihm den Schlaf brachte.
Als Martin zur Stallarbeit aufbrach, fragte Heinrich: „Kommst Du morgen wieder?“
Verwundert blickte Martin auf und sah den Herrn an. „Wenn Ihr das wünscht, komme ich wieder, natürlich. Wann soll ich kommen?“ Darüber hatte Heinrich sich noch keine Gedanken gemacht, und so antwortete er: „Na, so wie heute, oder?“
Martin nickte, verbeugte sich und ging. Heinrich freute sich, dass er ab morgen Gesellschaft haben würde. Er würde Martin all die Brettspiele beibringen, die er kannte. Langeweile gab es nicht mehr.
So kam Martin am nächsten Tag, und am darauffolgenden Tag und auch die Tage danach. Heinrich brachte ihm bei, Tric Trac zu spielen, Mühle und dann die Königsdisziplin: Schach. Er war erstaunt, wie geschickt Martin sich anstellte. Martin verstand die Regeln recht schnell und schlug Heinrich bald in allen Spielen außer Schach. Schach war schwierig, man brauchte Erfahrung, und so vergingen etliche Tage, bevor Martin das erste Mal gewann. Heinrich wunderte sich. Er selbst hatte als Jüngling ein Jahr gebraucht, bevor er seinen Lehrmeister, seinen Vater, das erste Mal besiegen konnte.
Die Zeit, die Martin im Krankenzimmer verbrachte, wurde immer länger. Oft kam er zu spät zur Stallarbeit oder war furchtbar müde, weil er am Abend spät ins Bett kam, weil Heinrich unbedingt die Partie Schach noch zu Ende spielen wollte. Irgendwann teilte Heinrich dann seinem Verwalter mit, dass Martin nur noch bei ihm sein sollte.
Der Einfachheit halber übernahm Martin auch die Krankenpflege. Es war ihm aufgetragen worden, und so tat er es. Er kam morgens in Heinrichs Kammer, brachte Waschwasser mit, half ihm beim Waschen, und versorgte dann das Bein. Er machte dem Herrn zweimal am Tag Auflagen mit Beinwellsud und sorgte dafür, dass der Verband täglich gewechselt wurde und fest ansaß. Er schnitt seine Fußnägel und als er roch, wie sehr die Füße stanken, überredete den Verwalter, einen Badezuber in Heinrichs Zimmer zu bringen. Der Badezuber wurde mit heißem Wasser und Kräutersud gefüllt und Heinrich versank wohlig darin. Derweil wechselte Martin schweigend die Bettwäsche und wusch dem Herrn dann die Haare und den Rücken. Er lüftete regelmäßig und nahm heimlich den Theriak mit raus. Theriak hatte bei Heinrichs Vater zu Wahnvorstellungen geführt, und es wäre schlimm, wenn sein Sohn auch damit anfangen würde. Heinrichs Vater war ein übler Mensch gewesen, grob, rachsüchtig, gewalttätig, und anscheinend hatte er sich nie Gedanken über sein Verhalten gemacht. Martin wusste nicht, ob der alte Herr immer schon so gewesen oder nur durch den Theriak so geworden war, aber anscheinend war sein Sohn doch ein bisschen anders.
Vielleicht wäre es möglich, so dachte Martin, hier ein Leben ohne Leid und Angst zu führen. Momentan sah es danach aus, allerdings fragte er sich oft, wie es werden würde, wenn Heinrich wieder völlig gesund war. Aber der Theriak half ihm bestimmt nicht dabei, ein besserer Mensch zu werden, also nahm Martin ihn heimlich weg. Falls Heinrich ihn ansprechen würde, könnte er behaupten, dass es ein Versehen gewesen war.
Doch Heinrich fragte nicht nach dem Theriak. Ihm ging es gut. Durch Martins Pflege heilte sein Bein immer besser. Die Schmerzen verschwanden fast völlig und durch die Brettspiele verging die Langeweile. Er hätte es nie geglaubt, aber mittlerweile war er wirklich froh um Martins Anwesenheit. Nur eins störte ihn: Martin sprach nicht, jedenfalls nicht unaufgefordert. Martin versorgte ihn wirklich gut, er pflegte ihn und spielte jedes Brettspiel, auf das Heinrich gerade Lust hatte, aber eine Unterhaltung mit ihm schien nicht möglich zu sein.
Am Anfang hatte Heinrich das nicht weiter bekümmert, aber nachdem Martin irgendwann von früh bis spät in seiner Kammer war, wäre eine Unterhaltung doch ganz nett gewesen. Heinrich versuchte ab und zu, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber Martin antwortete nur auf seine Fragen und war dann wieder still, ganz konzentriert auf das jeweilige Brettspiel oder die Krankenpflege. Heinrich überlegte, was wohl passieren würde, wenn er gar nichts mehr sagte. Würde Martin den Wink verstehen und sprechen? Er versuchte es, ganze vier Tage lang. Doch es kam nichts, nur Stille.
Martin blieb stumm, er schien immer noch Angst vor ihm zu haben. Vielleicht, so überlegte Heinrich, sollte er ihm sagen, warum er jetzt so freundlich war. Aber er zögerte es immer wieder hinaus. Gefühlsduselei, und noch schlimmer: Gefühlsduselei verbunden mit dem Eingestehen von Schuld, das war doch ziemlich schwer.
Das Schweigen wurde ihm schon sehr arg und schwer zu ertragen, zumal er mittlerweile alle seine Mahlzeiten zusammen mit Martin einnahm. Am Anfang war das für beide recht seltsam gewesen, aber mittlerweile war es zu Gewohnheit geworden. Martin versorgte Heinrich, spielte mit ihm Brettspiele, aß mit ihm und sprach nur, wenn er musste.
Der Januar ging zu Ende, der Februar kam. Sie feierten das Fest der Darstellung des Herrn, der Lichtweihe, wie das Volk zu sagen pflegte, oder auch Lichtmess. Traditionell gab es kleine Geldgeschenke und gutes Essen für die Dienstboten. Heinrich haderte ein wenig mit sich selbst. Sicher würde Martin sich auch über Geld und gutes Essen freuen, aber war er denn ein Dienstbote? Er war der Sohn einer adeligen, freien Frau. Niemand wusste, wer Martins Vater gewesen war. Vermutlich einer der aufständischen leibeigenen Bauern, der die Mutter vergewaltigt hatte. Heinrich wusste einfach nicht, wie die Rechtslage war. War Martin ein Leibeigener oder nicht? Und auch, wenn er es sein sollte: er war der Sohn von Heinrichs Mutter. Sein Halbbruder. Einen Halbbruder konnte man doch schlecht als Dienstboten besitzen? Heinrich kam zu keinem Ergebnis. Er würde ein Rechtsgutachten im Kloster anfordern, wenn es ihm wieder besser ging.
Er feierte den Lichtmesstag zusammen mit Martin. Es gab gutes Essen, und er schenkte ihm einen Silberpfennig. Etwas scheu nahm Martin die Münze, er hatte noch nie Geld besessen. Die anderen Dienstboten hatten zu bestimmten Tagen wie Weihnachten, Lichtmess und Erntedank kleine Geldgeschenke bekommen, er aber noch nie. Er hatte hier nie irgendetwas geschenkt bekommen. An Lichtmess gab es traditionell neue Kleidung, aber das war eine Pflicht des Gutsherrn und kein Geschenk.
Martin verstand nicht, warum der Herr so freundlich zu ihm war. Er hatte gedacht, dass er vielleicht mit seinem Körper für die Freundlichkeit bezahlten müsste, aber der Herr hatte ihn nicht ein einziges Mal angefasst. Martin hielt die Münze in der Hand und sah Heinrich fragend an. Heinrich wand sich. Er wollte nicht über die Dinge sprechen. Irgendwann würde er es tun müssen, aber nicht jetzt. Es war gerade gut, so wie es war. Also meinte er nur: „Nimm das Geld einfach. Vielleicht magst Du Dir was dafür kaufen, oder sparen.“
Martin bedankte sich höflich und steckte das Geld in seine Gürteltasche. Er wurde nicht schlau aus seinem Gegenüber.
Heinrich lag nun schon so lange im Bett, manchmal humpelte er mit seinem Stock auch zum Stuhl und setzte sich, um mit Martin Brettspiele zu spielen. Er sah, dass Martins Augen ihm immer folgten und seine Aufmerksamkeit nur auf ihn gerichtet war. Heinrich fühlte sich sicher. Bereits einige Male war er über die Felle gestolpert, die vor seinem Bett und unter dem Tisch lagen, um seine Füße zu wärmen. Jedes Mal hatte Martin ihn aufgefangen, bevor er unglücklich fiel und sich verletzte. Sein Halbbruder war sehr zuverlässig, jedoch wusste Heinrich nicht, ob er das alles tat, weil er musste, oder ob er ihn mittlerweile gerne mochte. Zu seinem Erstaunen bemerkte Heinrich, dass es ihm immer wichtiger wurde, ob Martin ihn mochte oder nicht. Er wollte mit einem Freund Schach spielen, nicht mit einem Befehlsempfänger.
Was seine Freunde wohl taten? Eigentlich hatten sie versprochen, nach Weihnachten zurück zu kommen. Irgendwie mussten sie aufgehalten worden sein. Oder wollten sie am Ende nicht kommen? Eigentlich hatte er sie gar nicht so richtig vermisst. Gelage und Feiern konnte er gerade nicht abhalten, und wollte es auch nicht. Er konnte sich ja nicht mal richtig auf den Beinen halten, betrunken ging das sicher noch viel schlechter.
Der Arzt, Bruder Humpert, hatte Martin Anweisungen gegeben, wie er mit Heinrich das Laufen zu üben hätte, und Martin fügte sich wie üblich wortlos. Jeden Tag stand Heinrich nun auf und versuchte, zu gehen. Es tat weh, das Bein zu belasten und so einige Male wollte Heinrich fluchend ins Bett zurücksinken, doch sein Pfleger ließ ihn nicht. Martin war sehr beharrlich. Immer wieder zog er Heinrich hoch und ging sogar soweit, zu sprechen. Immerhin hatte der Arzt das Laufen aufgetragen, also durfte er ja wohl sprechen. Martin erinnerte den Herrn an den Rat des Arztes, sprach ihm gut zu, ermutigte ihn, redete auf ihn ein wie auf ein krankes Pferd. Er ließ einfach nicht locker, und so seufzte Heinrich regelmäßig und versuchte es dann doch noch einmal.
Anfangs schob Martin ihm den Arm unter die Schultern und trug die Hauptlast. Er war immer noch sehr dünn, und Heinrich wunderte sich regelmäßig, wo er die Kraft hernahm. Erst gingen sie in der Kammer herum, später dann hinaus in den Gang. Martin war immer an seiner Seite und stütze ihn. Heinrich war froh. Früher war nur ab und zu die Magd gekommen, und jetzt hatte er einen Pfleger, der ihm rund um die Uhr zur Verfügung stand. Dass er da nicht früher draufgekommen war!
Nach ein paar Tagen wollte Heinrich die Treppe runter, zur Tür hinaus. Er brauchte einfach frische Luft. Zum ersten Mal seit langem hatte er Schuhe an, und auch einen Mantel. Immerhin war immer noch Winter, immer noch lag Schnee. Sie gingen die Treppe hinunter, Heinrich auf seinen Pfleger gestützt. Es war anstrengend, und zitternd stand Heinrich dann vor der Tür und sog gierig die frische Luft auf. Es war kalt, aber das störte ihn nicht. Seine ewig vom Feuer rauchige Kammer ging ihm schon lange auf die Nerven. Er musste raus, er musste wieder laufen können, und zwar schnell. Das Herumliegen war nichts für ihn. Sein Traum hatte ihn nicht verlassen, er schien immer stärker zu werden, er beschäftige ihn des Nachts und während der Brettspiele, wenn Martin nicht sprach. Heinrich hatte einen Traum, wusste aber nicht, ob er ihn wirklich umsetzen konnte. Tief in sich wusste Heinrich, dass er nicht der Fleißigste war, und vermutlich beim ersten Rückschlag aufgeben würde. Aber träumen konnte er doch, sein Traum würde nicht kaputt gehen.
Martin hatte auch einen Traum: Leben in Frieden und ohne Hunger. Er verstand zwar nicht, warum, aber seine Hölle hier hatte vorerst aufgehört. Der Herr Heinrich, der ihn immer gequält und geschlagen hatte, der ihn langsam verhungern lassen wollte, dieser Herr Heinrich war plötzlich freundlich zu ihm. Sie aßen zusammen, spielten Brettspiele zusammen, er ließ sich sogar von Martin bei den Laufübungen herumkommandieren. War das wirklich die Dankbarkeit für die Rettung aus dem eisigen Bach? Konnte jemand wie Heinrich überhaupt dankbar sein?
Martin war extrem wachsam. Nur ja nichts Falsches sagen, nichts Falsches tun, kein falscher Gesichtsausdruck oder gar eine Nachlässigkeit bei der Pflege. Die ersten Wochen war er immer auf Heinrichs Jähzorn gefasst gewesen, oder auf seine Gedankenlosigkeit. Aber nichts war passiert, und langsam, ganz langsam, ließen die Panik und die Anspannung in Martin etwas nach. Er wurde ruhiger, trotzdem war er immer mit allen Sinnen bei Heinrich, um ja jede seiner Stimmungsschwankungen zu bemerken, und um ihm wenn möglich jeden Wunsch bereits an den Augen abzulesen. Er konnte an Heinrichs Mimik, an seiner Stimme, an seiner Körperhaltung erkennen, wie es dem Herrn ging und was er wollte. Er war der perfekte Krankenpfleger, Gesellschafter, Lauflehrer. Er war das, was Heinrich gerade wollte und brauchte, und Martin war froh, dass er das alles sein konnte.
Immer noch war er schreckhaft, und immer noch ständig auf das Schlimmste gefasst. Seine Aufmerksamkeit war bei Heinrich, und bei nichts anderem. Er wollte nichts übersehen, nichts falsch machen. Ständig war sein Kopf am Denken, er überlegte, was Heinrich wohl brauchen könnte, was er wollen würde, was beim Laufen, beim Essen, beim Spielen passieren konnte. Alle Eventualitäten waren von Martin schon durchdacht und gelöst worden, bevor sie überhaupt auftraten. Sein Kopf war ständig am Arbeiten, und das war gut so. Heinrichs Kammer, überhaupt das ganze Gut, bargen viele schlimme Erinnerungen, und wenn Martin ständig seinen Kopf auf Trab hielt, konnten die Erinnerungen ihm nichts anhaben.
Heinrich stand immer noch vor der Tür und genoss die frische Luft. Langsam wurde es kalt, und er beschloss, umzukehren. Martin schien das zu spüren, so wie immer, und schob ihm den Arm unter die Schulter. Die Treppe hinaufzukommen war anstrengend, und Heinrich kämpfte bei jedem Schritt. Immer mehr stützte er sich auf Martin. Sie kamen oben an, Heinrich konnte nicht mehr, und Martin schleifte ihn regelrecht in die Kammer. Drinnen lud er seine Last auf dem Bett an und sank ohne Aufforderung oder Erlaubnis in den nächsten Lehnstuhl. Heinrich sah ihn erstaunt an. Martin tat nie irgendetwas ohne Aufforderung oder Erlaubnis.
Martin war blass und keuchte. Die Anstrengung hatte ihn körperlich überfordert, und zum allerersten Mal wurde Heinrich bewusst, was Martin alles für ihn leistete. Martin tat ständig irgendetwas für ihn und beklagte sich nie. Heinrich sah, wie er nach Luft rang und wie seine Muskeln zitterten. Es war zu anstrengend gewesen.
Er hievte sich wieder hoch und ging zum Wasserkrug. Martin wollte sofort aufspringen, um ihn zu bedienen, aber Heinrich stoppte ihn mit einer einzigen beschwichtigenden Handbewegung. Zum ersten Mal hatte er begriffen, wie sehr Martin seine Kräfte überstrapazierte, um ihn zu umsorgen. Heinrich nahm den Krug, goss Wasser in einen Becher und humpelte zu Martin. Er drückte ihm den Becher in die Hand und befahl: „Trink!“
Durstig leerte Martin den Becher und stellte ihn ab. Er war verwirrt. Der Herr hatte ihn gerade bedient, diese Möglichkeit kam in seinem Weltbild gar nicht vor. Hoffentlich musste er das nicht teuer bezahlen, irgendwann, wenn es Heinrich besser ging.
Heinrich staunte über sich selbst. Ohne nachzudenken, hatte er seinen Knecht bedient. Nein, seinen Halbbruder. Es war zu verwirrend. Unschlüssig stand er da. Martin sah ihn an, sein Gesicht war nicht so verschlossen wie sonst immer, der Gesichtsausdruck war eher… neugierig.
Stumm sah er zu, wie Heinrich sich wieder auf sein Bett setzte und ratlos dreinschaute. Die Situation war für den Herrn also auch nicht so leicht zu verstehen. Martin wusste, dass er eigentlich wieder aufstehen musste, aber er konnte nicht. Er war zu kaputt. Er beschloss, einfach sitzen zu bleiben und Heinrich anzuschauen, und staunte über seinen eigenen Mut.