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ОглавлениеKapitel 9: Große Pläne
Am nächsten Vormittag stand Veit wie so oft auf der Weide und besserte Zäune aus. Er war allein, auch wie so oft. Seit über zehn Jahren mieden ihn die anderen, und er wusste auch, warum. Aber er weigerte sich, drüber nachzudenken. Normalerweise schaffte er es, an nichts, außer an die nächste Arbeit zu denken, und sie gut und gründlich zu erledigen. Arbeiten half, über den Tag zu kommen und sich abzulenken. Er arbeitete gerne und viel mehr als die anderen Knechte. Die waren froh, wenn Feierabend war, aber Feierabend war für Veit ein Graus. Er hatte niemanden, zu dem er sich hätte setzen können, der sich mit ihm unterhalten hätte. Sie sprachen mit ihm genau das, was für die tägliche Arbeit nötig war, und mehr nicht.
Veit werkelte vor sich hin, aber das mit dem Nichtdenken klappte heute nicht so gut. Würde Heinrich kommen? Würde er tatsächlich mit Veit Pferde trainieren wollen?
Dann hörte er Schritte, und als er sich umdrehte, kam da tatsächlich der Herr Heinrich an. Seine Kleidung war gut, aber ganz deutlich mehr für Arbeit gedacht als für das Herrenleben.
Die ersten Tage waren merkwürdig. Heinrich wusste offenbar nicht genau, wie er das Ganze anpacken sollte, und Veit traute sich nicht recht, seine Vorschläge zu unterbreiten und die Führung zu übernehmen. Er hatte die letzten Jahre gelernt, den Blick zu senken und den Mund zu halten, wenn ein Mitglied der Familie von Rabenegg bei ihm war.
Erst als Heinrich frustriert feststellte, dass seine Vorgehensweise nicht durchdacht war und nirgends hinführen würde, übergab er das Ruder offiziell an Veit. Und der legte los. Natürlich immer sehr höflich und sehr vorsichtig, um Heinrich nicht das Gefühl zu geben, er wüsste alles besser.
Sie richteten den Übungsplatz her, und auch die alte Reithalle. Dann fingen sie mit dem Training an und bauten nebenher noch mehrere Ställe.
Heinrich musste oft die Zähne zusammenbeißen. Die viele Arbeit war er nicht gewohnt. Ein paarmal war er kurz davor, alles hinzuschmeißen, weil er sich lieber ausruhen oder singen wollte. Aber sein Traum trieb ihn an. Er war froh, dass Veit dabei war. Ohne ihn hätte er keinen Einstieg gefunden. Oft warf er das Ganze einfach deswegen nicht hin, weil er sich vor Veit nicht die Blöße geben wollte, aufzugeben. Trotzdem war es zäh, mit seinem ehemaligen Freund und Lehrer, der jetzt sein Knecht war, zu arbeiten.
Besonders in den ersten Tagen bemerkte Heinrich, wie anders Veit war als früher. Er war so extrem respektvoll und vorsichtig mit seinen Vorschlägen, dass es Heinrich manchmal gewaltig nervte. Es frustrierte ihn, dass Veit meistens auf den Boden blickte, zusammenzuckte und sich verkrampfte, wenn Heinrich ihm zu nahekam. Er konnte ihm nicht einmal die Hand auf die Schulter legen oder einfach nur nahe bei ihm sitzen, ohne dass Veit furchtvoll zurückwich, und das machte Heinrich oft wütend, aber auch sehr nachdenklich. Er hatte gehört, was Veit zugestoßen war, aber die Einzelheiten waren anscheinend noch viel grausamer gewesen, als er sich das je hätte vorstellen können. Es tat ihm leid. Soviel Unrecht war geschehen auf seinem Gut, und Heinrich wusste nicht, wie er das alles jemals gutmachen konnte. Also versuchte er, gleichbleibend freundlich zu Veit zu sein. Heinrich vermied abrupte Bewegungen, er vermied es, laut zu werden, und vor allem vermied er es, Veit anzufassen.
In den ersten Tagen und sogar Wochen war Veit extrem vorsichtig. Er konnte einfach nicht wirklich glauben, dass Heinrich das Ganze ernst meinte.
Nach und nach entspannte er sich. Nach und nach blitzte der Veit von früher durch. Nach und nach gewöhnte er sich daran, mit dem jungen Herrn zu arbeiten und erwartete nicht ständig das Schlimmste. Heinrich und er arbeiteten zusammen den ganzen Tag, und irgendwann bemerkte Heinrich, dass Veit ruhiger wurde, dass er ihn immer öfter direkt ansah und auch von sich aus sprach, wenn es nötig war.
Veit war unendlich dankbar, dass Heinrich ihn nicht anfasste und so freundlich zu ihm war. Wie eine verdurstende Blume das Wasser sog er die Güte und die Freundlichkeit auf und sein Herz wurde jeden Tag ein klitzekleines Stücklein leichter. Es gab sogar Tage, an denen er in seinem Herzen einen Anflug von Glück spürte. Veit drängte dieses Gefühl am Anfang meistens recht schnell wieder weg, denn, wer weiß, vielleicht war es ja schon morgen zu Ende? Aber trotzdem. Das kleine Glücksgefühl schmuggelte sich immer öfter ein, und bald konnte Veit es aushalten und irgendwann sogar genießen.
Der Frühling wurde zum Frühsommer und zum Sommer. Heinrich und Veit schufteten jeden Tag zusammen, und für Heinrich wurde es immer leichter. Die tägliche Arbeit machte ihn gesund und fit und muskulös. Sein Bein schmerzte nicht mehr und die Kopfschmerzen, die er früher ab und zu gehabt hatte, kamen nicht wieder. Heinrich gefiel die Arbeit mittlerweile. Anfangs hatte er zu Mittag immer eine wirklich lange Pause gemacht, aber nach einiger Zeit brauchte er die lange Rast nicht mehr. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, zusammen mit Veit draußen sein Mittagessen einzunehmen, danach noch etwas zu dösen und dann gleich weiter zu machen.
Veit hatte solange immer allein gegessen, dass es für ihn am Anfang wirklich seltsam war, mit dem Herrn gemeinsam zu essen. Er sehnte sich fast nach der Einsamkeit, doch nach und nach gewöhnte er sich dran, und es gefiel ihm immer besser. Am Abend war er dann trotzdem erschöpft und verzog sich am liebsten alleine irgendwohin, aber da war Heinrich sowieso anderweitig beschäftigt.
Sie aßen ihr Brot und ihren Käse draußen, und meistens gab es noch irgendwas Leckeres zusätzlich. Und weil Heinrich der Herr war, waren Brot und Käse immer frisch, auch Butter gab es, und die zusätzliche Leckerei war etwas, das Veit so nie bekommen hätte. Danach dösten sie noch etwas, auch das hatte Veit bis dahin nicht gekannt, und er genoss es.
Er wusste, dass die anderen Dienstboten tuschelten, und ihn seltsam von der Seite her ansahen. Er war der Verräter, der Außenseiter, aber plötzlich stand er wieder in Gnade. Die Leute wussten offenbar nicht, wie sie ihn behandeln und mit ihm umgehen sollten. Aber das war Veit mittlerweile egal. Er brauchte sie nicht mehr. Er arbeitete hauptsächlich mit Heinrich und hatte eigentlich nur mit ihm und mit dem Verwalter zu tun. Natürlich musste er Pferde aus den Ställen holen, aber dabei ignorierte er die anwesenden Knechte und Mägde und machte seine Arbeit ohne großes Aufsehen.
Da Veit anscheinend in Heinrichs Gunst stand, hatten die meisten Leute auf dem Gut damit aufgehört, ihn zu triezen. Sie spuckten nicht mehr vor ihm aus, stellte ihm kein Bein mehr, warfen ihm keine Steine oder faules Obst hinterher. Sie hatten aufgehört, und Veit war gottfroh darüber. Der Schmied und seine Mutter waren die einzigen, die Veit noch sehr deutlich zeigten, dass sie ihn aus tiefster Seele verachteten, doch Veit tat konsequent so, als würde er es nicht merken, auch wenn es ihm immer noch und immer wieder weh tat.
Heinrich und Veit hatten einen Rhythmus gefunden. Heinrich kam nach dem morgendlichen Treffen mit dem Verwalter und Martin, und sie begannen ihr Tagwerk. Sie bauten an den Ställen weiter, und übten mit den Pferden. Mittags aßen sie zusammen, dösten, arbeiteten weiter. Am Abend traf sich Heinrich meistens mit Martin, um mit ihm Französisch und Bretonisch zu üben. Danach kamen Alban und immer öfter auch Ulrich. Sie aßen Abend und sangen. Manchmal war auch Veit dabei, weil Heinrich ihn eingeladen hatte. Aber er merkte recht schnell, dass er nach den vielen Jahren, die er in Einsamkeit und Stille verbracht hatte, am Abend seine Ruhe brauchte. Meistens zog Veit sich nach dem Essen, oder mit seinem Essen, in ein ruhiges Fleckchen mit Bäumen oder Büschen zurück. Die Leute taten ihm nichts mehr, aber es lud ihn auch niemand ein, mit am Tisch zu sitzen, und irgendwie war Veit froh darüber. Was hätte er auch schon reden sollen nach zehn Jahren? Und er brauchte die Leute nicht. Er hatte Heinrich und Martin und den Verwalter, und vor allem die Pferde.
Am Anfang hatten sie nur zwei Pferde gehabt. Einen zweijährigen Hengst, und die wilde Stute. Die Stute, Mara, war weiß und wunderschön, aber sie ließ niemanden an sich heran. Eigentlich war sie ein berittenes Pferd, aber sie hatte panische Angst vor Menschen. Irgendetwas Schlimmes musste ihr passiert sein, entweder ein Unfall oder der Reiter hatte sie misshandelt. Ein Bekannter von Heinrich, der Onkel seines Freundes Albrecht, hatte ihm Mara geschenkt. Niemand konnte das Pferd zureiten und sowohl Albrecht als auch der alte Herr Endres hatte irgendwann keine Lust mehr gehabt, mit dem Pferd zu arbeiten. Es war aussichtslos, und so hatte Endres es an Heinrich verschenkt. Insgeheim hatte es ihn amüsiert, dass Heinrich unbedingt arbeiten und Pferde bereiten wollte, an Mara würde er sich die Zähne ausbeißen. Vermutlich hätte Heinrich sich auch die Zähne ausgebissen und die Geduld verloren, aber Endres hatte nicht mit Veits Beharrlichkeit gerechnet. Heinrich sah mit Ehrfurcht zu, mit welch unerschöpflichen Geduld Veit versuchte, das Vertrauen des Pferdes zu gewinnen. Es ging so unendlich langsam.
Es kamen mehr Pferde dazu. Heinrich war mit Veit auf einen Pferdemarkt gereist, und hatte noch einen Dreiährigen gekauft, den sie zu einem Schlachtross ausbilden wollten. Weiterhin waren vier adelige Herren aus der weiteren Nachbarschaft aufgetaucht und hatten Pferde zum Ausbilden gebracht. Heinrich war ab und zu auf irgendwelchen Festen der Nachbarn eingeladen, wahrscheinlich hatte er von seinen Plänen erzählt, und es hatte sich herumgesprochen.
Sie hatten also wirklich viel Arbeit, und bald sprachen sie darüber, dass sie es zu zweit nicht mehr lange schaffen würden. Sie mussten noch Leute dazu nehmen. Und nachdem keiner so gut reiten konnte, musste man entweder Pferdetrainier von weiter weg einstellen, oder selbst Jungen vom Gut ausbilden. Das bereitete Veit einiges Kopfzerbrechen. Niemand hier würde ihm freiwillig den Sohn überlassen, und unter Zwang würde so etwas nicht funktionieren. Scheu hatte Veit Heinrich seine Bedenken erzählt, aber Heinrich war anderer Meinung. Er war sich sicher, dass die meisten Jungs auf dem Gut liebend gerne lernen würden, wie man Pferde zureitet, und Veit wusste, dass er sich fügen würde.
Es war überhaupt seltsam mit dem Fügen. Früher, als sie Kinder und später junge Kerle waren, war Veit Heinrichs Lehrer gewesen, und was er sagte, wurde gemacht. Nun war Heinrich der Herr, und Veit gab sich große Mühe, diese Tatsache immer und zu jeder Zeit in all seinen Gedanken, Worten, Taten zu bedenken. Manchmal war das gar nicht so leicht, denn Heinrich und Veit arbeiteten zusammen, aßen zusammen, schwitzen zusammen, wurden zusammen dreckig, badeten zusammen im Bach nach einem langen Arbeitstag, und irgendwann lachten sie auch zusammen.
Es war für Veit nicht leicht, immer und immer wieder die Grenze zu erkennen und zu wahren. Er achtete genau drauf, Heinrich immer nur als „Herr“ und mit „Ihr“ anzusprechen. Auch wenn sie zusammen lachten und herumblödelten, war sein Gefährte eben nicht wie früher der Heinrich, sondern der Herr. Jeden Tag aufs Neue.
Heinrich bemerkte das natürlich, und er wusste selbst nicht, was er davon halten sollte. Er sah Veit längst wieder als Freund, aber er war halt einfach der Herr hier. Vielleicht war es ganz gut, den Respekt und die Unterordnung des anderen Mannes einzufordern, weil Heinrich wirklich keine Lust auf ständige Debatten und Rechtfertigungen seinerseits hatte. Er wusste, dass Veit mit Pferden besser war als er, und wohl immer besser sein würde, und er wollte sich auf gar keinen Fall wieder unterbuttern lassen. Außerdem war Veit ein Leibeigener, und Heinrich fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, dass Veit ihn vor anderen Adeligen von Stand evtl. mit dem Vornamen ansprechen und duzen würde. Das würde sein eigenes Ansehen wohl schmälern. Irgendwie fühlte sich das nicht so gut für ihn an. Er fand, dass sie beide wunderbar zusammenarbeiteten, so wie es gerade war, zu viel Nähe und Gleichheit konnte da durchaus Unruhe reinbringen. Sein Halbbruder Martin durfte ihn längst als Heinrich ansprechen, aber der war auch keine Konkurrenz mit den Pferden und eigentlich auch kein Leibeigener. Heinrich hätte ihm schon längst die Freiheit gegeben, aber der Verwalter und der rechtskundige Mönch aus dem Kloster waren nach längerer Prüfung zu der Überzeugung gelangt, dass Martin nie unfrei gewesen war.
Der Sommer wurde immer heißer. Es war August, und die Arbeit ging oft zäh, eben weil es so heiß war. Heinrich und Veit ritten die Pferde ganz in der Früh oder in den Abendstunden, weil es ja auch so anstrengend war. Den Rest der Zeit arbeiteten sie mit Ställen und Koppeln. Heinrich besserte mit Veit Zäune aus, und manchmal hatte er aber auch einfach keine Lust und legte sich in seiner kühlen Kammer hin. Manchmal kam auch Veit dazu auf der Flucht vor der Hitze. Sie konnten stundenlang zusammen in Heinrichs Arbeitszimmer sitzen und kühlen Most trinken und über Pferde reden, oder aber auch schweigen. Heinrich liebte es, zu dösen, und auch Veit hatte längst Gefallen daran gefunden. Er genoss es nach all den harten Jahren, auch einmal nichts zu tun und einfach nur die Augen zu schließen und ohne Angst in der Gesellschaft eines anderen Menschen zu sein. Für ihn waren diese ruhig vertrödelten Nachmittage wie ein kostbarer Schatz, der sein Herz wärmte.
Aber natürlich mussten die Pferde trotzdem geritten und ausgebildet werden. Wegen der Hitze gingen Heinrich und Veit ganz früh am Morgen dieser Arbeit nach. Doch egal, wie früh Heinrich sich aus dem Bett quälte: Seine Knechte und Mägde waren schon wach und an der Arbeit, auch Veit. Heinrich wunderte sich immer wieder, wie früh am Morgen die Dienstboten aufstanden. Was ihm als unmenschlich früh erschien, war normaler Arbeitsbeginn für die Leute hier. Und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass Veit schon etliche Stunden Stallarbeit und sonstige Arbeit hinter sich hatte, wenn Heinrich normalerweise nach dem Gespräch mit dem Verwalter zum Tagwerk erschien. Darüber hatte er früher nie nachgedacht, und jetzt erschien es ihm als erstaunlich.
Er beschloss, öfter ein Fest für seine Dienstboten zu geben, vielleicht regelmäßig alle paar Wochen Samstagabend, einfach nur, um ihre Arbeit zu würdigen. Sie würden ein Schwein schlachten und grillen, frisches Brot essen, lachen, und einfach nur zufrieden sein. Seine Leute waren ihm nicht mehr egal. Es waren nicht mehr nur Nutztiere, die sprechen konnten. Es waren die Leute, die sein Gut am Laufen hielten, und Heinrich war dankbar.
Er veränderte sich. Durch seine eigene Arbeit lernte er, die Arbeit der Anderen zu schätzen. Er merkte, wie er besonnener und durchdachter mit den Leuten umging, und die grausamen Körperstrafen am Gut sanken drastisch. Er sah ja jetzt selbst, wie hirnrissig dumm es war, jemanden übertrieben zu prügeln oder hungern zu lassen, oder gar eine Hand abzuschlagen. Die Arbeitskräfte wurden gebraucht, und solche Strafen führten dazu, dass Leute ausfielen. Außerdem war ihm jetzt klar, wieviel die Leute eigentlich leisteten, und er bekam nicht gleich bei jeder Kleinigkeit einen Wutausbruch. Er sorgte dafür, dass die Leute mehr und auch besseres Essen bekamen und dass Sonntage und Feiertage bis auf die notwendigen Arbeiten wirklich frei waren. Alles schien irgendwie entspannter zu laufen, und Heinrich war froh drüber. Vom Leid und Elend, den stummen Anklagen der Vergangenheit, die das Gut noch im letzten Jahr überschattet hatten, war immer weniger zu spüren.
Die Leute jubelten ihm immer noch nicht zu, und ließen ihn auch nicht hochleben, aber er war sich jetzt zumindest sicher, dass sie nicht mehr hinter seinem Rücken über ihn lachten oder ihn verachteten. Seine Arbeit erfüllte ihn mit Stolz, und er bemerkte die Anerkennung, die seine Leute ihm entgegenbrachten. Keine Liebe, aber doch Anerkennung und Achtung.
Heinrich bemerkte immer öfter, dass er glücklich war. Es war ein einfaches, erfülltes Glück, ganz ohne große Feste und Alkohol und Völlerei. Er war von früh bis spät beschäftigt und schätzte mittlerweile Aufrichtigkeit und Fleiß mehr als die Schmeicheleien seiner alten Freunde. Heinrich vermisste seine Freunde von früher fast gar nicht mehr, manchmal schüttelte er über sich selbst den Kopf, was er an denen überhaupt gefunden hatte. Keiner von ihnen hatte sich bis jetzt wieder blicken lassen. Ab und zu erhielt er über Boten Briefe von alten Freunden, Bekannten, Verwandten und Weggefährten. Hauptsächlich standen darin Ausflüchte, warum die Leute nicht zu Besuch kommen konnten, ab und zu kam eine Einladung, oder es bettelte ihn jemand um Geld an. Früher hatte Heinrich mit seinem Geld um sich geworfen, und seine „Freunde“ hatten ihn geliebt. Jetzt gab er fast nichts mehr, und die Freunde blieben weg.
Ob Veit wohl auch weggehen würde, wenn er ihm die Freiheit gab? Das war eine Frage, die Heinrich umtrieb. So gerne hätte er seinem Freund die Freiheit geschenkt, aber er brauchte ihn doch so dringend hier auf dem Gut. Ohne Veit wäre er verloren. Martin war frei und er war geblieben, trotz allem, was passiert war. Martin war zufrieden und erfüllt mit dem, was er jetzt tun durfte. Er war glücklich damit, Lesen, Schreiben und auch Latein zu lernen und die Aufgaben des Verwalters zu übernehmen. Die Abende, an denen gesungen wurde, liebte er ganz offensichtlich und hatte begonnen, den Frieden und die Freiheit seines neuen Lebens zu genießen. In der geräumigen und lichtvollen Kammer, die Heinrich ihm gegeben hatte, konnte Martin lesen, studieren, singen, Harfe spielen und malen. All das, was Martin liebte. Alban hatte ihm die Buchmalerei gezeigt, und Martin war begeistert. Und natürlich erfuhr er jetzt Freundschaft und fast so etwas wie Bruderliebe. Woanders würde er das wahrscheinlich nicht bekommen. Außerdem waren die Stellen als Verwalter nicht sehr zahlreich. Martin würde bleiben und eine zuverlässige, absolut loyale Stütze des Gutes sein, da war sich Heinrich mittlerweile recht sicher. Bei Veit war das etwas anderes. Jemand, der so gut reiten konnte und so viel von Pferden verstand, war überall willkommen. Heinrich wollte, nicht, dass Veit ging. Er würde ihm die Freiheit geben, irgendwann. Aber nicht jetzt.
Oft beobachtete Heinrich Veit heimlich bei der Arbeit. Er schien sich ganz gut abgefunden zu haben mit dem Leben, das er jetzt führte. Offensichtlich fühlte er sich bei der neuen Arbeit mit Heinrich auch ganz wohl, und das dämpfte das schlechte Gewissen, dass Heinrich immer dann hatte, wenn er an die Freiheit für Veit dachte.