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ОглавлениеKapitel 1: Der „Täter“ – Heinrich
„Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen“ – Peter Asimov
Der Ritter Heinrich von Rabenegg öffnete seine Augen. Es war bereits hell, und es blendete. Also schloss er die Augen wieder und fluchte. Sein Kopf schien zu platzen, und sein Mund war trocken. Am liebsten wäre er liegengeblieben, aber seine Blase drückte unangenehm. Also hievte er sich hoch. Sein Kopf wummerte, und Heinrich hatte äußerst schlechte Laune. Er sah sich um. Seine drei Zechgefährten lagen auch im kleinen Rittersaal herum, einer auf einer Bank und die anderen beiden am Boden. Vermutlich waren sie auf den Bänken eingeschlafen und dann heruntergefallen.
Heinrich schleppte sich aus dem Raum heraus und durch den Gang hinaus ins Freie. Die Wintersonne schien prächtig und Heinrich musste blinzeln, weil sie so blendete. Er sog die frische Luft ein und stellte erst jetzt fest, welch ekliger Mief im Rittersaal gewesen war. Eine Mischung aus Bier, Wein, Braten, Erbrochenem und ungelüftetem Raum, in dem vier Besoffene schnarchten. Heinrich pinkelte einfach vor die Tür. Erleichtert stand er da und hielt sein Gesicht noch ein bisschen in die Sonne. Es war Anfang Dezember, und die Sonne war seit den nebligen Herbsttagen rar gewesen. Nun schien sie in aller Pracht, und der Schnee vor ihm funkelte. Leider war etliches davon zertreten. Vermutlich war es bereits gegen Mittag, und die Leute auf seinem Gut waren schon seit Stunden mit der täglichen Arbeit beschäftigt und waren über den Schnee getrampelt.
Heinrich ging ein paar Schritte nach hinten, wo der Schnee noch unberührt lag. Er sah ihn an spürte ein Ziehen in seiner Brust. Früher, als Kind, hatte er den frischen, funkelnden Schnee sehr geliebt. Sobald es geschneit hatte, war er hinausgerannt und hatte darin herumgegraben und war mit einem kleinen Schlitten, den sein Vater für ihn hatte bauen lassen, den Hügel hinter den Ställen hinuntergefahren.
Heinrich sah den Schnee an und dachte an all diese alten, schönen Erinnerungen. Ganz früher waren auch seine Geschwister dabei gewesen, Karl und Cateline. Sein älterer Bruder Karl war bei einem Reitunfall gestorben, als Heinrich 9 Jahre alt gewesen war. Cateline war nach dem Tod ihrer Mutter in ein Kloster zur Erziehung gegeben worden und war mittlerweile mit einem Großcousin in Frankreich verheiratet. Heinrich hatte sie schon lange nicht mehr gesehen und beschloss, sie im Sommer zu besuchen. Er hatte ja sonst nichts zu tun. Heinrich war 26 Jahre alt und seit sechs Jahren ein Ritter. Er hatte an kleineren Kriegen und Nachbarschaftsfehden teilgenommen und sich in der Zeit dazwischen auf Turnieren bewiesen. Vor zwei Jahren war – leider – sein Vater gestorben und er hatte zurück nach Rabenegg kommen müssen, um dort den Gutsherrn zu spielen.
Heinrich dachte nach. Er war ein miserabler Gutsherr. Die Landwirtschaft interessierte ihn einfach nicht. Das Beste am Gut war, dass es ihm Geld für seinen Lebenswandel einbrachte. Er war viel unterwegs, irgendwo war immer eine Hochzeit, ein Pferdemarkt, eine Jagdgesellschaft. Er lud auch gerne Leute zu sich ein und veranstaltete Feste und Jagden, sehr zum Missfallen seines Verwalters.
Der Verwalter, Ulrich, war ein alter Geizkragen. Ständig rechnete er Heinrich vor, was das alles kostete und mahnte ihn zur Sparsamkeit. Heinrich hätte diese alte Spaßbremse gerne vor die Tür gesetzt, aber er hatte keine Ahnung, wie so ein Gut mit Landwirtschaft und all den abgabepflichtigen Dörfern und Weilern funktionierte, und ohne Ulrich wäre er verloren gewesen. Ulrich war ein alter Freund seines Vaters gewesen, sie hatten zusammen im Krieg gekämpft, und als Ulrich nach einem Kampf als Krüppel mit einem lahmen Bein und einer fehlenden linken Hand zurück blieb, war es für Heinrichs Vater selbstverständlich gewesen, Ulrich das Amt des Verwalters anzutragen. Er füllte dieses Amt gut aus, und so ertrug Heinrich den alten Mann und hoffte, dass er noch lange leben und ihm die ganze Verantwortung abnehmen würde.
Heinrich ging zurück in seinen kleinen Rittersaal. Er hatte auch noch eine große Halle, aber dort aßen die Dienstboten. Er war dort nur, wenn es unvermeidlich war, mit dem Gesinde zu essen, wie an hohen Feiertagen. Wenn Heinrich viele Gäste hatten, dann aß das Gesinde anderswo, Heinrich wusste auch nicht, wo genau. Wenn Heinrich viele Gäste hatte, dann bewirtete er sie in seiner großen Halle. Aber jetzt war Winter, und es waren nur seine drei besten Freunde da und der kleine, gemütliche Rittersaal reichte allemal. Er sah die schnarchenden Männer an. Sie hatten noch die Reste vom Festmahl gestern am Gewand und teilweise im Gesicht kleben, genauso wie die Reste vom Wein und vom Bier. Sie würden heute vermutlich ein heißes Bad in Heinrichs großem Badezuber nehmen, das hatten sie dringend nötig. Heinrich liebte heiße Bäder, sie erfrischten ungemein.
Die Männer schliefen tief, und es würde noch eine Weile dauern, bis sie endlich wach und einigermaßen ansprechbar sein würden.
Heinrich spürte eine tiefe Unruhe in sich. Die letzten Tage hatte er nur mit seinen Freunden gesoffen und viel zu viel gegessen. Sein Magen rumorte, sein Rücken tat weh, und sein Kopf drohte ihm abzufallen vor Schmerzen. Er musste an die frische Luft und sich bewegen. Heinrich beschloss, dass er ausreiten würde. Er wusch sich oberflächlich mit kaltem Wasser, was ungemein guttat. Dann ging er in die Küche und holte sich heiße Gemüsebrühe, die er durstig trank. So fühlte er sich schon besser. Richtig essen wollte und konnte er nicht, also nahm er sich einen Kanten trockenes Brot und begann, darauf herum zu kauen. Dann ging er wieder und bemerkte gar nicht, wie die Mägde erleichtert aufatmeten, als er verschwand.
Er ging in seine Kammer und zog sich für den Ausritt warm an, schließlich war es kalt draußen. Dann ging er in den Stall. Es waren nur wenige Leute da, drei Knechte dösten im Stroh. Wo waren die Leute alle? Ach ja, heute war ja Sonntag, und die Leute mussten außer der Stallarbeit nichts tun. Es war Sonntag, Heinrich und seine Freunde hatten also die Messe verpasst, aber der Pfaffe, Bruder Alban, hielt am Abend meistens nochmal eine Messe ab, weil sich Heinrich und seine Gäste selten pünktlich aus dem Bett quälen konnten. Als die Knechte ihn sahen, sprangen sie auf, rissen ihre Mützen herunter und verbeugten sich. Dann schauten sie stumm auf den Boden.
Heinrich gab den Befehl, sein Pferd zu satteln, und einer der Knechte tat es sofort. Er sattelte Juno. Heinrich hatte noch zwei Reitpferde, Alba und Diana, aber mit Juno ritt er am liebsten aus. Leider zu selten. Heinrich überlegte, wann er das letzte Mal reiten gewesen war. Ob wohl jemand seine Pferde bewegte, wenn er es nicht tat? Er stellte fest, dass er keine Ahnung hatte, was in seinem Gut eigentlich den ganzen Tag passierte. Aber es war ja auch egal, er hatte Leute dafür.
Der Knecht war fertig und verschränkte die Hände, damit Heinrich aufsteigen konnte, was er auch tat. Ausreiten war eine gute Idee, das würde seinen schmerzenden Kopf freiblasen. Er ritt hinaus in den Hof, wo Ulrich ihm über den Weg lief. Er zog die Augenbrauen hoch und fragte: „Wollt Ihr allein ausreiten? Es wird schneien, nehmt doch einen von Euren Freunden oder einen Reitknecht mit.“
Heinrich war genervt, wie immer, wenn der Verwalter ihn so schulmeisterlich behandelte. Von oben herunter meinte er: „Ich war schon mal ausreiten, Ulrich, ich weiß wie das geht. Aber trotzdem vielen Dank“.
Dann ritt er los, durchs Tor hinaus Richtung Wald.
Es war wunderschön. Eigentlich liebte Heinrich die Stille, aber in den letzten Tagen hatte er keine Minute Ruhe gehabt. Da er die meistes Zeit betrunken gewesen war, hatte er es gar nicht so bemerkt, aber jetzt, wo er in der Stille war, merkte er, wie sehr er sie vermisst hatte.
Heinrich fühlte, wie sein Herz aufging, als er durch den verschneiten Wald ritt, erst im Schritt und dann im Trab. Galoppieren traute er sich noch nicht, weil er unter dem Neuschnee eine Eisschicht vermutete und er nicht wollte, dass Juno ausrutschte. Er ritt in Stille, bis er merkte, wie er zur Ruhe kam. Das sollte er öfter tun, und Heinrich nahm sich vor, nicht mehr ganz so viel zu trinken und lieber jeden Tag auszureiten. Er musste zwar nicht mehr auf Turnieren kämpfen, aber er wollte nicht so fett und unbeweglich enden wie sein Vater. Außerdem waren seine Freunde Albrecht, Leonhard und Gottfried immer noch Turnierkämpfer, und denen würde es sicher guttun, wenn sie auch im Winter Bewegung bekamen.
Heinrich ritt einen großen Bogen. Er würde nicht im Wald zurückreiten, sondern am Bach entlang, der bis zu seinem Gut führte.
Heinrich hatte keine große Burg wie Grafen oder Herzöge. Eigentlich war es ursprünglich nur ein Wohnhaus auf einem Hügel mit Stallungen und einer Mauer drumherum gewesen. Das Wohnhaus war vergrößert worden, die Ställe auch, es waren noch zwei Türme zur Beobachtung des Umlandes und der Aufbewahrung des Getreides gebaut worden. Sein Vater hatte Pferde gezüchtet und beritten, also gab es neben den Ställen für Kühe, Schweine, Schafe, Hühner und Gänse auch zwei große Pferdeställe, von denen einer halbverfallen war, und Koppeln und Reitplätze. An Pferden gab es nur noch eine Handvoll Reitpferde und ein paar kräftige Arbeits- und Zugpferde.
Um das Gut herum prangte mittlerweile eine mächtige Mauer mit Türmchen und Schießscharten für Pfeile. Heinrichs Vater hatte sich in seinen letzten Lebensjahren in den Wahn hineingesteigert, dass ihn jemand angreifen wollte, und er hatte viel Geld in den Ausbau der Mauer und der Wehrtürme gelegt und dafür auch seine besten Zuchtpferde verkauft.
Schade drum, fand Heinrich. Pferde züchten und bereiten war das Einzige gewesen, was ihm Zuhause Freude gemacht hatte. Aber die Pferde waren fort, und Heinrich hatte noch nie ernsthaft drüber nachgedacht, neu mit dem Pferdebetrieb zu beginnen. Dafür liebte er sein faules und ungebundenes Leben viel zu sehr. Er bezeichnete also sein Zuhause als Rittergut, obwohl die überdimensionierte Mauer eher zu einer Burg gepasst hätte.
Heinrich kam zum Wäldchen mit den uralten Bäumen, aber dort kam er nicht durch. Vor ein paar Tagen hatte es einen Schneesturm gegeben, und es lagen Äste auf dem Weg. Einige der alten Bäume waren sogar umgefallen und machten ein Durchkommen unmöglich. Er ritt einen kleinen Umweg und kam direkt hinter dem Wäldchen zum Bachlauf. Es lag eine leichte Eisdecke darauf, die vermutlich noch nicht halten würde. Heinrich blieb am Bachufer stehen und staunte, wie wunderschön es hier war. Er musste einfach öfter herkommen.
Plötzlich schoss ein aufgescheuchter Hase über die Schneedecke und an ihnen vorbei. Juno, der darauf nicht vorbereitet gewesen war, erschrak und machte einen Satz zur Seite. Er rutschte aus, fiel hin und schlidderte zusammen mit Heinrich auf den Abhang und den Bach darunter zu. Bis Heinrich verstand, was gerade passierte, fühlte er entsetzliche Kälte um seinen Körper herum. Er war ins Eis eingebrochen.
Juno ruderte hektisch herum und versuchte, aus dem Wasser herauszukommen. Er wieherte panisch und sehr laut, immer wieder. Heinrichs Mut sank. So wie sich das anhörte, hatte Juno sich verletzt beim Sturz. Hoffentlich war sein Bein nicht gebrochen. Das Wasser war nicht tief, es ging Heinrich nur bis zum Bauch, aber es war eiskalt. Er versuchte, sein Pferd aus dem Wasser zu bekommen, aber es ging nicht. Heinrichs kalte Finger verloren gerade das Gefühl, er musste sich selbst retten.
Heinrich versuchte, die verschneite Böschung hochzuklettern, aber sein Bein tat übel weh und seine klammen Finger fanden keinen Halt, er rutschte immer wieder ins kalte Wasser zurück. Er bemerkte, wie Entsetzen und Angst an ihm hochzüngelten. Er musste unbedingt aus dem eisigen Wasser herauskommen! Und dann musste er heimreiten, so schnell es ging. Seine Angst stieg, als Heinrich klar wurde, dass er mit Juno nicht mehr würde reiten können. Sein Hengst trieb gerade hilflos den Bach hinunter, er würde sterben.
Er war verloren. Heinrich hatte in Kriegen gekämpft und dem Tod oft ins Angesicht geschaut, aber er hatte immer Glück gehabt. Die Situation jetzt war viel gefährlicher. Er war allein im Eiswasser, und sogar, wenn er es herausschaffen würde, dann standen die Chancen hoch, dass er erfroren war, bevor er nach Rabenegg zurückkam. Heinrich merkte, wie er panisch wurde, obwohl das in Krisensituationen das Dümmste war, was man tun konnte.
Er würde hier sterben, und Heinrich merkte, wie ihm die Tränen herunterliefen. Er war noch so jung, und hatte nicht wirklich etwas geleistet oder geschafft in diesem Leben. Heinrich kam zu dem Schluss, dass er sein Leben vergeudet hatte. Er wollte nicht sterben, nicht so, aber es sah nicht gut aus. Er dachte daran, wie er seinen Verwalter abgekanzelt hatte. Ulrich hatte Recht gehabt, es war nicht gut, alleine in den Winterwald zu reiten. Heinrich wünschte sich sehr, es zurück zu schaffen und Ulrich nochmal zu sehen. Er würde Abbitte leisten, wenn der Himmel ihn nur ließ.
Der Himmel.
Heinrich schauderte. Er hatte im Krieg und auch Zuhause viele grausame Dinge getan. Heinrich war ein strenger Herr, und sein Gesinde hatte nichts zu lachen unter ihm. Er hatte viele von ihnen schikaniert, mit der Peitsche geschlagen, sie geohrfeigt, und manch einen sogar aufhängen lassen. Heinrich musste sich eingestehen, dass es meistens unnötig gewesen war. Seine leibeigenen Bauern in den Dörfern waren nicht besser dran. Heinrich führte ein ausschweifendes Leben, und die Bauern gaben ihm - unfreiwillig – die Mittel dazu. Freundlichkeit oder Barmherzigkeit den Bauern gegenüber hatte Heinrich nicht gekannt. Wozu auch?
Heinrich zitterte so sehr vor Kälte, dass es ihn regelrecht schüttelte. Nicht mehr lange, und er würde vor der Himmelstür stehen. Ob sie ihn dort wohl hineinließen? Heinrich überprüfte sein Gewissen, und immer mehr Tränen strömten über seine Wangen. Er würde sterben, und nur deswegen schaffte es Heinrich, ehrlich zu sich selbst zu sein: Er war ein fauler und grausamer Mensch, der nicht viel Gutes getan hatte. Vermutlich würde er in die Hölle kommen und konnte es jetzt nicht mehr ändern. Heinrich weinte noch mehr. Er begann zu beten, er bettelte Gott regelrecht an um eine zweite Chance. Er wollte nicht sterben, und er wollte nicht in die Hölle. In tiefer Verzweiflung betete Heinrich zu Gott, zu Jesus, zur Mutter Maria und zum Schluss bat er noch seine eigene Mutter um Fürsprache. Sie war so ein wunderbarer und guter Mensch gewesen, sicher war sie im Himmel bei Gott und konnte ihm helfen.
Heinrich fror ganz entsetzlich und klapperte mit den Zähnen. Seine Arme und Beine wurden taub, und er musste sich an den Rand der Böschung setzen. Er konnte nicht mehr, Heinrich gab auf. Er würde sterbe und konnte nichts dagegen tun.
Plötzlich hörte er ein Geräusch und drehte den Kopf. Am Ufer stand Martin. Ausgerechnet der! Martin hatte keinen Grund, ihn zu lieben, und Heinrich wusste das. Trotzdem flüsterte er: „Hilf mir!“ Martin nickte nur. Er nahm einen stabilen Stock und reichte ihn Heinrich, doch der konnte sich nicht festhalten, er spürte seine Arme nicht mehr. Vorsichtig kletterte Martin ein Stück die Böschung hinunter und hielt sich mit einer Hand an einem Ast fest. Den anderen Arm schob er unter Heinrichs Schulter und zog ihn mit einer Kraft nach oben, die Heinrich dem mageren jungen Mann gar nicht zugetraut hätte. Martin zog ihn also aus dem Wasser heraus, die Böschung hoch und fiel dann erst einmal keuchend in den Schnee. Auch Heinrich lag im Schnee und kämpfte gegen die Verzweiflung. Er spürte, wie seine nasse Kleidung langsam an ihm gefror, er war noch lange nicht gerettet.
Martin kam wieder hoch und räumte schnell etwas Holz, das er aus dem Wäldchen mit den umgestürzten Bäumen gesammelt hatte, von seinem grob gezimmerten Schlitten herunter. Der Verwalter hatte ihn in den Wald geschickt, um die Wege freizumachen. Es war eine Heidenarbeit, und er brachte Fuhre um Fuhre Holz ins Gut zurück. Er war bereits zwei Tage an dieser Arbeit und würde noch mindestens 10 weitere Tage brauchen. Kurzentschlossen zog er Heinrich auf die restliche Lage Holz, die noch auf dem Schlitten war, nahm, das Halfter des Zugpferdes und lief los. Heinrich hatte keine Hoffnung mehr, bis Rabenegg war es in diesem Tempo mindestens eine Stunde Marsch, er würde erfroren sein, bevor sie dort ankamen.
Aber Martin lief nicht nach Rabenegg. Nach ein paar Minuten hielt er an einer Höhle an, die er einmal entdeckt hatte. Eigentlich war es mehr ein Felsvorsprung, der von drei Seiten geschützt war. Martin arbeitete öfter im Wald, und im Winter machte er sich hier gerne ein Feuer und wärmte sich, während er sein Mittagsbrot aß. Er hatte immer kleine Zweige und Reißig dort deponiert, damit er trockenes Holz hatte. Er fror oft genug und vermied es, wo er nur konnte. Routiniert entzündete Martin ein Feuer und schlichtete Holz aus dem Schlitten davor. Er legte Heinrich den Arm um, schleppte ihn zum Feuer und setzte ihn davor auf die Lage Holz. Dann zog er Heinrich die nasse Kleidung aus und legte ihm seinen eigenen Mantel und noch eine Pferdecke um.
Martins Mantel war zerschlissen und dreckig, aber das war Heinrich im Moment egal. Es war immer noch furchtbar kalt, aber es war eine große Wohltat, die nassen Kleidungsstücke nicht mehr am Leib zu haben. Langsam gab das Feuer Wärme, und Heinrich hielt Hände und Füße daran. Seine Gliedmaßen tauten wieder auf, was furchtbar weh tat. Heinrich kannte das aus Kriegen im Winter und hielt es einfach klaglos aus. Zum ersten Mal seit dem Sturz ins Wasser schöpfte er wieder Hoffnung. Vielleicht konnte er das Ganze doch überleben, vielleicht bekam er tatsächlich eine zweite Chance.
Martin baute sprichwörtlich aus Nichts ein Gestell aus Ästen, stellte es ans Feuer und hängte Heinrichs Kleidung dran auf. Heinrich bemerkte, dass er bis jetzt noch kein Wort gesprochen hatte.
Sein linkes Bein wurde seltsam warm. Heinrich sah es an und erschrak: Blut lief aus einer großen Fleischwunde. Martin sah es auch. Die Kälte hatte die Wunde bis jetzt zusammengezogen, und mit der Wärme kam die Zirkulation zurück und damit auch die Blutung. Das Bein tat verdammt weh und die Hoffnung, die Heinrich gerade noch gespürt hatte, bekam einen merklichen Dämpfer. Heinrich fror, er war verletzt und weit weg von Zuhause, allein mit einem Mann, der für ihn nichts als Hass übrighaben konnte.
Heinrich erinnerte sich. Seine Mutter war aus Frankreich gewesen, sein Vater hatte sie aus Liebe geheiratet, was sehr selten war. Sein Vater, Karl, hatte sie verehrt und auf Händen getragen. Sie mussten wohl sehr glücklich gewesen sein. Jeden zweiten Sommer reisten sie für ein paar Wochen nach Frankreich, um ihre Familie zu besuchen. Heinrich konnte sich nur sehr dunkel daran erinnern, er war noch klein gewesen. Eines Tages, Heinrich war 5 Jahre alt, waren sie wieder unterwegs von Frankreich nach Hause gewesen. Der Vater war schon vorgeritten, um nach dem Rechten zu sehen und alles für ihre Ankunft vorzubereiten. Die Zeit in Frankreich war wunderschön gewesen, am meisten hatte Heinrich das Meer geliebt, er liebte es noch heute. Er war ab und zu in Frankreich gewesen seither, und sein Hauptziel war immer das Meer. Er konnte dort stundenlang sitzen und den Wellen zusehen und zuhören. Das Meer war beruhigend und verbunden mit wunderbaren Erinnerungen an seine Mutter.
Doch damals, auf dem Heimweg als er fünf Jahre alt war, wurde die Reisegruppe von Wegelagerern überfallen und verschleppt. Sie waren wohl Bauern, die durch einen Brand ihr Dorf und all ihr Hab und Gut verloren hatten, so war es Heinrich erzählt worden. Er und seine Familie hatten ein paar Wochen als Gefangene in irgendwelchen Hütten im Wald gehaust, die Räuber hatten von dem erbeuteten Geld und Schmuck gut gegessen und sich gekleidet. Es wäre nichts weiter passiert, wenn sie die Gefangenen einfach hätten gehen lassen, aber das taten sie nicht. Sie töteten die Begleitsoldaten und vergingen sich an den Frauen, auch an Heinrichs Mutter Melisende und ihrer Schwester Marie. Karl begab sich rasend vor Wut auf die Suche und stöberte die Leute auf. Es musste ein ziemliches Gemetzel gewesen sein, denn es blieb niemand übrig, den Karl der Gerichtsbarkeit hätte übergeben können.
Heinrich und seine Familie kamen wieder Zuhause an, aber dort ging das Leid erst richtig weiter, denn seine Mutter war von den Vergewaltigungen schwanger geworden. Sein Vater hatte Heinrich erzählt, dass sie durch die Schande schwermütig geworden war und sich hochschwanger aus einem der Wachtürme gestürzt hatte. Heinrich war sechs Jahre alt gewesen, als seine Mutter starb, und die Veränderungen, die folgten, waren gravierend gewesen. Seine ältere Schwester kam in ein Kloster zur Erziehung. Sein Bruder Karl war gar nicht da, der war bereits Page und wurde in einer anderen Burg zum Ritter ausgebildet. Plötzlich war Heinrich alleine gewesen, ohne Mutter und Schwester. An viel konnte er sich nicht mehr erinnern, nur dass es eine einsame und traurige Zeit gewesen war. Sein Vater war schier wahnsinnig vor Kummer geworden und hatte sich in die Arbeit mit den Pferden geflüchtet.
Heinrich hatte sich damals an Veit, den Sohn des Stallmeisters gehängt. Er war zwei Jahre älter und konnte unglaublich gut reiten. Damals scherzten die Leute, dass er reiten konnte, bevor er mit dem Laufen anfing. Veit hatte ihn damals aus der Einsamkeit gerettet und ihm das Reiten beigebracht.
Heinrich hing seinen Gedanken nach und überlegte, was wohl mit Veit passiert war? Er hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Vielleicht hatte er sich freigekauft und war weggegangen, oder er war tot. Viele Leute starben jung, es wäre nichts Ungewöhnliches gewesen.
Heinrich war recht lange Zuhause geblieben, eigentlich hätte er gar nicht weggehen sollen. Er war geplant, dass er Zuhause blieb, dort lernte und später die Pferdezucht übernehmen würde. Doch sein Bruder starb, als Heinrich neun Jahre alt war, und er musste doch noch an einen anderen Hof gehen, um als Ritter ausgebildet zu werden. Sein Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, dass einer seiner Söhne Ritter sein musste, und so geschah es auch. Heinrich war also deutlich länger Zuhause geblieben als die anderen Pagen, und Veit hatte die ganze Zeit mit ihm das Reiten und das Anreiten geübt. Heinrich hatte damals sogar ein Pony bekommen, das er selbst zureiten und trainieren durfte, was ihm mit Veits Hilfe auch gelungen war.
Dann war der Ernst des Lebens losgegangen, und Heinrich hatte, wie so viele andere Jungs auch, die Ausbildung zum Ritter durchlaufen; erst als Page und dann als Knappe. Normalerweise wurde man mit 21 zum Ritter geschlagen, aber Heinrich hatte den Ritterschlag schon mit 20 empfangen, weil mal wieder Krieg war und der Herzog Leute zum Kämpfen gebraucht hatte. Albrecht, Leonhard und Gottfried waren mit ihm zusammen Ritter geworden, sie hatten zusammen gekämpft und waren beste Freunde seitdem. Es waren noch zwei Freund mehr gewesen, doch die waren im Krieg geblieben. Während der Ausbildung war Heinrich nur immer mal wieder ein paar Wochen im Sommer und zu Weihnachten heimgekommen.
Eines Tages, Heinrich war 16 und über den Sommer ein paar Wochen Zuhause, hatte sein Vater ihm stolz einen verschüchterten, mageren Jungen von ungefähr 10 Jahren vor die Füße geworfen. Es war der Sohn des Mannes, der seine Mutter vergewaltigt hatte, so wurde ihm gesagt. Heinrich hatte zwar nicht ganz verstanden, wie sein Vater an dieses Kind gekommen war, aber letztendlich war es ihm auch egal gewesen. Sein Vater hatte endlich jemanden gefunden, an dem er sich für den Verlust seiner Ehefrau und seines Glücks rächen konnte, und das tat er auch ausgiebig.
Der Junge, Martin, musste als Stallknecht am Gut arbeiten und hatte nichts zu lachen. Heinrich, der seine Mutter immer tief vermisst und betrauert hatte, war auch froh gewesen, endlich ein Ventil für seine Wut und Trauer gefunden zu haben, und auch er hatte dem Jungen das Leben zur Hölle gemacht.
Seit zwei Jahren war er nun der Herr auf diesem Gut, und Martins Leben war anders geworden, aber nicht unbedingt besser. Meistens ließ Heinrich Martin in Ruhe, nur zweimal im Jahr, zum Geburtstag und Todestag seiner Mutter, gönnte er sich seine Rache und peitschte Martin vor allen Leuten des Gutes ausgiebig aus. Eigentlich war es ein Wunder, dass er noch lebte, denn Heinrich hatte sich noch eine andere, eine subtilere Rache überlegt: Martin bekam keine Erholung. Am Sonntag, wenn das andere Gesinde nur die notwendige Stallarbeit zu tun und dann frei hatte, musste Martin arbeiten. Weiterhin bekam er den ganzen Sonntag über nichts zu essen, er musste fasten als Buße. So sorgte Heinrich dafür, dass der Sohn des Dreckskerls, der seine Mutter vergewaltigt hatte, ganz langsam und elend zugrunde ging. Es war seine Rache, und er hatte sie nie in Frage gestellt, schließlich stand es ihm zu, sich für den Tod seiner Mutter zu rächen.
Aber genau dieser Martin hatte ihn jetzt aus dem Bach gezogen und ihn versorgt. Heinrich verstand nicht, warum er das getan hatte. An seiner Stelle hätte er wahrscheinlich den Herrn erfrieren lassen und wäre gerannt, so schnell ihn seine Beine trugen. Martin hatte seit Jahren einen dicken Ring aus Eisen um den Hals, überall hätte man gesehen, dass er weggelaufen war. Er wäre vermutlich nicht weit gekommen, wahrscheinlich was das der Grund für sein ungewöhnliches Verhalten.
Martin untersuchte gerade mit sorgenvollem Gesicht die Beinwunde. Dann sah er Heinrich ins Gesicht, zum allerersten Mal überhaupt. Heinrich sah, dass er blaue Augen hatte, die Augen faszinierten ihn, irgendwo hatte er diese Augen schon mal gesehen, aber er kam nicht drauf. Vermutlich erinnerte er sich an die Augen des Mannes, Martins Vater, der seine Mutter vergewaltigt hatte. Martin begann zu sprechen, auch das erste Mal heute und vielleicht überhaupt.
Er meinte: „Das Bein ist gebrochen, Herr, und die Knochen sind verschoben. Ich werde sie wieder einrenken. Wenn es später getan wird, ist alles angeschwollen und es tut doppelt so weh.“ Heinrichs Herz schlug schneller. Als Kind hatte er sich mal einen Arm gebrochen, und das Einrenken der Knochen war furchtbar schmerzhaft gewesen. Aber er nickte nur. Was nutzte ihm ein schiefes Bein?
Martin nahm Heinrichs langen Schal vom Gestell am Feuer und kniete sich neben das verletzte Bein. Wortlos schob er Heinrich ein Stück Holz in den Mund zum Draufbeißen und legte vorsichtig seine Hände auf das Bein. Er tastete herum und erfühlte mit den Händen die Bruchstellen. Es tat bereits jetzt schon so weh, dass Heinrich verzweifelt auf dem Holzstück herumbiss und keuchend atmete. Martin packte fester zu und tat einen Ruck.
Heinrich schrie und wartete auf die gnädige Ohnmacht, doch die kam nicht. Sein Schreien ging in ein resigniertes Stöhnen über, dann biss er wieder auf das Holz, denn die Qual ging weiter. Martin wickelte den wollenen Schal sehr fest um Heinrichs Bein. Die Schmerzen schienen unerträglich zu werden, aber, so fand Heinrich, es war schon erstaunlich, was Menschen alles aushalten konnten. Wenigstens hörte die Blutung auf.
Heinrich legte sich seitlich auf die Unterlage aus Holzstücken, er war erschöpft von den Schmerzen und der Kälte. Er rutschte so nah wie möglich mit seiner Vorderseite ans Feuer. Plötzlich spürte er, wie es hinter ihm auch warm wurde. Martin hatte sich hinter ihn gelegt und presste sich ganz eng an seinen Rücken. Was tat er da? Warum tat er das? Plötzlich wurde Heinrich klar: Martin wärmte ihn mit seinem Körper. Er verstand diesen Mann immer weniger.
Dann wurde er ruhiger, er spürte die Wärme, und der Schmerz ließ langsam nach, wenn er sich nicht bewegte. Es pochte stark im Bein, aber die grauenhaften Schmerzen von vorhin verschwanden. Die Erschöpfung forderte ihren Tribut, und Heinrich nickte langsam ein.
Als er wieder aufwachte, lag Martin immer noch hinter ihm und vor ihm brannte das Feuer. Heinrich konnte nicht behaupten, dass ihm wirklich warm war, aber kalt war es auch nicht mehr. Er setzte sich auf, und falls Martin auch geschlafen haben sollte, bemerkte Heinrich es nicht, denn er richtete sich auch sofort auf.
Heinrich spürte seinen Hunger. Er hatte ja nicht gefrühstückt, nur ein paar Bissen Brot hinuntergewürgt. Martin war aufgestanden und legte neues Holz ins Feuer. Heinrich war zu hungrig, um stolz zu sein, und so fragte er: „Hast Du was zu essen?“ Martin sah ihn nicht an, als er den Kopf schüttelte und meinte: „Nein. Es ist Sonntag. Am Sonntag habe ich nie was zu essen.“ Heinrich schluckte schwer. Seine eigene Rache wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Und er hatte ein ungutes Gefühl. Hunger fühlte sich übel an, und Martin hatte das jede Woche. Falls er hier lebend rauskam, würde er Martin das Hungern erlassen, das schwor er sich.
Martin setzte sich und schaute ins Feuer. Dann meinte er: „Wir müssen von hier verschwinden, ein Schneesturm zieht auf.“ Heinrich blickte nach draußen. Er wusste nicht, woran Martin den drohenden Schneesturm erkennen konnte, aber er musste es wohl so hinnehmen. Martin fuhr fort. „Eure Kleidung ist noch nicht trocken, die könnt Ihr nicht anziehen. Ihr könnt meinen Mantel anlassen, und die Pferdedecke haben wir ja auch noch. Das muss reichen bis Rabenegg. Wir beeilen uns.“
Er stand auf, löschte das Feuer mit Schnee und hievte Heinrich auf den Schlitten. Schnell breitete er die kratzige Pferdedecke über ihn und nahm das Halfter des Pferdes, das brav loslief. Martin hatte nur seine Hose und sein Hemd an und Heinrich sah, wie er vor Kälte zitterte und seine Finger langsam blau wurden, aber er lief stoisch weiter. Es dauerte nicht lange, und ein sehr unangenehmer Wind kam auf. Heinrich zog sich die Decke zitternd über den Kopf. Hoffentlich, hoffentlich ging alles gut. 20 Gehminuten vor Rabenegg kam dann der Schneesturm. Martin und das Pferd kämpften sich vorwärts, während der Wind ihnen um die Ohren pfiff und der Schnee vor ihren Beinen immer höher wurde. Heinrich hätte den Weg nicht mehr gewusst, aber Martin und das Pferd waren ihn so oft gegangen, dass sie ihn blind gefunden hätten. Heinrich verkroch sich noch mehr unter der Decke, er war froh, dass er da nicht im bloßen Hemd durch den Schnee stapfen musste, und das alles noch mit leerem Magen.
Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, kamen sie an. Die Wachen hatten die beiden schon von weiten gesehen, und Ulrich und noch ein paar Männer liefen ihnen entgegen. Einer der Leute nahm Martin das Pferd mit dem Schlitten ab, und Ulrich legte ihm seinen eigenen Mantel um und hakte ihn unter, anscheinend gaben Martins Beine nach.
Heinrich hatte noch nie in seinem Leben solch tiefe Dankbarkeit empfunden als in dem Moment, als der Schlitten durch das Tor fuhr. Er war gerettet. Vermutlich würde er eine Erkältung bekommen und das Bein musste heilen, aber er würde nicht alleine in der Wildnis erfrieren.
Ulrich erzählte ihm unterwegs, dass er einen Suchtrupp zusammengestellt hatte, als der Schneesturm aufgezogen war, deswegen waren die Männer gleich zur Hand gewesen. Zuhause trugen sie ihn gleich in seine warme Kammer ins Bett. Erschöpft sank er in seine Kissen. Er klopfte, und eine Magd brachte ihm warme Suppe, gute Würste und Brot. Dazu gab es keinen Wein, sondern warme Milch. Das war Heinrich nur recht, er war so durchgefroren.
Er machte sich über sein Essen her, als es wieder klopfte und der Verwalter hereinkam. Heinrich wappnete sich. Vermutlich würde er jetzt zu hören bekommen, dass Ulrich es ihm schließlich gleich gesagt hatte und noch irgendwelche anderen Vorwürfe.
Doch Ulrich sagte etwas ganz anderes: „Heute ist Sonntag. Gestattet Ihr, dass ich Martin trotzdem etwas zu Essen gebe? Er ist sehr erschöpft. Und vielleicht könntet Ihr euch sogar dazu durchringen, ihm die Arbeit heute zu erlassen? Dann kann er sich auch irgendwo hinlegen und sich wärmen.“
Heinrich starrte ihn verlegen an. Vor ein paar Stunden erst hatte er um eine zweite Chance gebettelt und sich vorgenommen, ein besserer Mensch zu werden, und schon jetzt hatte er seinen Retter wieder vergessen. Er nickte: „Ja. Ja, natürlich, gebt ihm was Gutes zu Essen. Und natürlich kann er sich hinlegen, heute, morgen, die ganze Woche, wie Ihr es für nötig haltet.“
Ulrich nickte nur und ging wieder. Heinrich war zu erschöpft zum Denken. Er aß fertig und überließ sich dann dem Schlaf in seiner warmen Kammer.
Als er am anderen Morgen wieder aufwachte, hatte Heinrich üble Kopfschmerzen, seine Nase lief und sein Hals kratzte unangenehm. Außerdem drückte seine Blase. Heinrich wollte aufstehen, um sich zu erleichtern, also schlug er die Decke zurück und wollte die Beine aus dem Bett heben. Ein furchtbarer Schmerz durchfuhr ihn. Der Schmerz war so schlimm, dass er aufschrie und keuchend ins Bett zurücksank. Langsam kam es Heinrich zurück ins Bewusstsein, dass er sich das Bein gebrochen und aufgeschnitten hatte. Ernüchterung machte sich breit, was sollte er nun tun? Er konnte nicht aufstehen und musste doch dringend pinkeln.
Wenigstens darüber musste er sich keine Gedanken machen, denn die Tür ging auf und eine Magd kam herein. Sie sah ihn kurz unsicher an, anscheinend wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. „Ihr habt gerufen, Herr?“ Heinrich war überrascht. Er hatte gerufen? Sie musste wohl seinen Schmerzensschrei gehört haben.
Kurzangebunden sagte er: „Ich muss pinkeln. Außerdem soll der Verwalter kommen.“
Sie nickte, brachte ihm einen Topf ans Bett und blieb stehen. Heinrich wartete, dass sie ging, aber das tat sie nicht. Anscheinend wollte sie hierbleiben und ihm helfen. Das kam gar nicht in Frage. Ziemlich unwirsch nahm er ihr den Topf aus der Hand und befahl: „Geh und bring mir den Verwalter. Und was zu Essen.“ Sie meinte nur leise: „Ja, Herr“ und ging.
Unter großen Schmerzen zog Heinrich sich hoch und setzte sich auf. Er versuchte, sich den Topf zwischen die Beine zu schieben, was eine mühsame Plackerei war. Er fluchte und erleichterte sich, die Hälfte ging daneben und landete im Bett. Heinrich war so frustriert, dass er den Topf zornig an die Wand warf.
Als sein Verwalter eintrat, sah er sich erst einmal stumm die ganze Bescherung an: Heinrich fluchend im nassen Bett, ein zerschlagener Topf an der Wand mit einer stinkenden Lache auf dem Boden.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die Sauerei beseitigt war. Die Scherben wegräumen und die Lache aufwischen, das ging recht schnell, aber ein Bettlaken zu wechseln, auf dem jemand mit einem gebrochenen Bein lag, das war schon schwerer. Aber sie schafften es und Heinrich war am Ende. Die Schmerzen zermürbten ihn, sein Kopf tat weh, genauso wie seine Glieder. Vermutlich würde er krank werden.
Und so kam es auch. Im Laufe des Tages zog seine Nase immer mehr zu, er begann zu husten. Hinter seinen Augenbrauen begann es furchtbar zu stechen, v.a. bei jeder Bewegung des Kopfes. Heinrich lag einfach nur noch da und versuchte, den Tag zu überstehen. Gegen Mittag kamen seine Freunde, um ihm Gesellschaft zu leisten, aber Heinrich war nicht sehr gesprächig. Irgendwann zogen sie wieder ab, vermutlich machten sie mit den Saufgelagen weiter.
In den nächsten Tagen bekam Heinrich nur seinen Verwalter Ulrich zu sehen und die Magd, die ihn versorgte. Mittlerweile ließ er sich mit dem Topf helfen, was weder für ihn noch für seine Pflegerin ein Vergnügen war. Er konnte nur noch selbst essen und sich selbst in einer Schüssel die Hände waschen, für alles andere brauchte er Hilfe. Für Heinrich war das sehr demütigend. Er wurde immer kränker. Die Schmerzen hinter seinen Augenbrauen wurden schlimmer, und unter seinem Brustbein tat es auch furchtbar weh. Erst nur beim Husten, dann auch beim Atmen. Seine Nase war zu, er musste durch den Mund atmen, was ihn wiederum zum Husten brachte. Es war ein Elend.
Der Arzt aus dem Kloster kam und verabreichte Heinrich viele Tränke, von denen er nicht genau wusste, was drin war. Anscheinend jedoch enthielten sie viel Alkohol und vielleicht noch irgendwelche Kräuter, die müde machten. Auf jeden Fall sorgten die Tränke dafür, dass Heinrich viel schlief, trotz der verstopften Nase und der Schmerzen.
Seine Freunde kamen jeden Tag an sein Bett, gingen aber immer recht schnell wieder. Mit Heinrich war gerade nichts anzufangen. Entweder schlief er, oder er schlief eben nicht und hatte dann furchtbare Laune. Heinrich fühlte sich wie ein Rennpferd, dass eingesperrt war, und er fuhr aggressiv jeden an, der ihm in irgendeiner Form auf die Nerven ging, auch den Arzt, Bruder Humbert. Seine Freunde machten das eine Zeitlang mit, aber irgendwann reichte es ihnen auch. Nur gut, dass das Weihnachtsfest kam und sie einen guten Grund hatten, um Rabenegg zu verlassen. Nach und nach kamen sie, um sich zu verabschieden. Sie würden zum Weihnachtsfest zu ihren Familien nach Hause reisen und dann wiederkommen, so versprachen sie es zu mindestens.
Heinrich verbrachte die Feiertage im Bett. Wo hätte er auch sonst hingehen können? Normalerweise verteilte er zu Weihnachten kleine Geldgeschenke, Lebkuchen und wollene Socken an seine Dienstboten und hielt ein Festmahl mit ihnen, aber das übernahm dieses Jahr der Verwalter. Danach kam er und aß mit Heinrich, trotzdem war es unsäglich langweilig.
Heinrich hatte die Erkältung überstanden und war wieder gesund, aber das Bein würde noch länger brauchen. Die Fleischwunde war gerade dabei, zu verheilen. Nachdem es ein großer Riss gewesen war, würde es wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen, aber die Wunde heilte ohne große Schwierigkeiten.