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ОглавлениеKapitel 2: Die Wahrheit
Der Arzt war während der Erkältung 10 Tage dageblieben, jetzt kam er nur noch alle paar Tage, um nach seinem Patienten zu sehen. Heinrich war nun viel alleine und hatte Zeit, nachzudenken. Am Anfang hatte sein Zorn über seine momentanen Einschränkungen und über die Langeweile überwogen und er hatte diesen Zorn an allen ausgelassen, die in seine Kammer gekommen waren.
Er hatte nun sehr viel Zeit, um über sich und sein Leben nachzudenken. Zuviel Zeit. Es war keine gute Bilanz, die Heinrich ziehen konnte. Immer wieder musste er an den Moment im eiskalten Bach denken, in dem er erkannt hatte, dass er sterben würde. Er war sich plötzlich so sicher gewesen, dass er in die Hölle kommen würde. Heinrich wollte nicht in die Hölle, aber das bedeutet, dass er Dinge anders tun musste.
Das war das Schwierigste an der ganzen Sache. Natürlich konnte er beichten, beten und sich vornehmen, ein besserer Mensch zu sein. Doch es dämmerte ihm langsam, dass es damit nicht genug sein würde. Er musste Dinge auch anders tun. Aber wie?
Heinrich wusste, dass er nicht viel Geduld hatte, und er verstand auch nichts vom Gutsbetrieb. Sollte er sich wirklich damit beschäftigen? Sollte er freundlicher zu seinen Untergebenen sein? Aber dann würden sie ihm auf der Nase rumtanzen. Sein Vater, der lange sein großes Vorbild gewesen war, hatte ihn immer davor gewarnt. Jeder wusste, dass es nicht gut war, zu freundlich zum Gesinde und den leibeigenen Bauern zu sein, denn die würden das sofort ausnutzen. Heinrichs Gedanken drehten sich im Kreis. Er wollte Dinge besser machen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte.
Was sein Vater wohl getan hätte? Er wusste es nicht.
Vielleicht konnte er einfach ein klein wenig freundlicher sein, ein klein wenig gnädiger?
Eines Tages hatte Heinrich eine großartige Idee und wunderte sich, dass er nicht früher draufgekommen war. Er würde Geld und Wachs für Kerzen an die Kirche stiften. Es gab ja ein Kloster nicht weit weg, es war vor vielen Jahren von einem von Heinrichs Vorfahren gegründet worden. Er würde also diesem Kloster Wachs und Geld stiften und vielleicht noch Grundstücke. Dafür würden die Mönche für ihn beten und er wäre fein raus. Heinrichs Herz wurde etwas leichter. Das war doch schon mal ein Anfang. Der heilkundige Mönch kam ja nach wie vor regelmäßig, da konnte er ihm das gleich sagen, damit die Mönche umgehend mit den Gebeten anfangen konnten.
Als Bruder Humbert das nächste Mal kam, erzählte Heinrich ihm von den zu erwartenden Spenden. Humbert nahm die gute Nachricht wohlwollend zur Kenntnis und versprach, mit den Brüdern für ihn und sein Seelenheil zu beten. Dann untersuchte er Heinrichs Bein.
Zum ersten Mal seit Heinrichs Bettlägerigkeit schien der einigermaßen gut gelaunt und gesprächsbereit zu sein, also nutzte Humbert die Gunst der Stunde und unterhielt sich mit seinem Patienten über die Verletzung. Er wusste zwar in groben Zügen, was passiert war, aber er ließ es sich von Heinrich noch einmal erzählen. Heinrich war froh, dass er etwas Abwechslung hatte und berichtete so gut es ging. Humbert war erstaunt: „Der Knecht hat Euere Knochen wieder eingerenkt?“
„Ja. Er hat gesagt, es würde später noch schmerzhafter werden, wenn alles geschwollen ist.“
„Da hat er Recht, aber woher kann er das? Ist er ein Bader?“
Heinrich hatte keine Ahnung, ob Martin ein Bader war. Aber wohl eher nicht, er war ja schon als Kind nach Rabenegg gekommen. Also schüttelte er den Kopf. Humbert fuhr fort. „Er hat seine Sache gut gemacht. Wenn Knochen verschoben sind, dann wachsen sie oft schief wieder zusammen. Ihr habt viel Glück gehabt, dass er dagewesen ist. Er hat Euch aus dem Wasser gezogen, Euch vor dem Verbluten gerettet und das Bein wieder eingerenkt. Es ist gut, wenn man so jemanden im Hause hat.“
Heinrich wurde ganz still. Er war so mit seiner Erkältung und dann dem Selbstmitleid beschäftigt gewesen, dass er Martin darüber vergessen hatte. Er erinnerte sich, dass er sich vorgenommen hatte, ihm das Hungern am Sonntag erlassen. Das war nun auch schon wieder vier Wochen her. Vier Sonntage ohne etwas zu Essen und mit viel Arbeit. Das musste sich ändern.
Bruder Humbert meinte weiter, dass Heinrich wieder anfangen müsste, seine Beine zu bewegen und auch das gebrochene Bein zu belasten. Er zeigte ihm Übungen, wie er im Bett die Beine bewegen sollte und erklärte ihm auch, wie er mit Hilfe eines um den Knöchel gebundenen Strickes im Bett das verletzte Bein jeden Tag belasten sollte. Er versprach, dass Heinrich bald aufstehen konnte, wenn er brav seine Übungen machte.
Das war Heinrich nur recht. Im Bett Herumliegen war nicht seine Erfüllung.
Der heilkundige Mönch ging wieder und Heinrich war alleine, wie so oft die letzten Wochen, und dachte nach. Er hatte Martin viel zu verdanken, sein Bein, sogar sein Leben. Was würde so schlimm daran sein, ihn besser zu behandeln? Er war der Sohn des Mannes, der Heinrichs Mutter auf dem Gewissen hatte, aber immerhin hatte er Heinrich das Leben gerettet, warum auch immer. Vielleicht war es an der Zeit, den quälenden Hass zu begraben. Vielleicht war es an der Zeit, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen. Heinrich hätte so gerne abgeschlossen, doch da war immer noch die Wut, immer noch die Enttäuschung über sein verlorenes Glück. Würde er seine Mutter verraten, wenn er freundlicher zu Martin war, zum Sohn ihres Vergewaltigers und letztendlich Mörders?
Als der Verwalter zu seinem täglichen Besuch kam, trug er ihm auf, Martin das Hungern und die Arbeit am Sonntag zu erlassen. Ulrich war sichtlich froh, er meinte: „Gut, ich werde es ihm sagen. Vielen Dank, Heinrich. Er braucht dringend mehr zu Essen und noch dringender Ruhepausen. Es wundert mich eh, dass er solange durchgehalten hat.“
Heinrich hörte die leise, feine Kritik heraus. Anscheinend verstand Ulrich nicht, warum er das alles getan hatte. Er fragte: „Kann es sein, dass Ihr Mitgefühl mit ihm habt? Wisst Ihr denn nicht, was seine Familie getan hat?“
Ulrich sah ihn ernst an und entgegnete: „Ganz egal, was sein Vater getan hat, er kann absolut nichts dafür. Er musste für etwas büßen, was nicht seine Schuld war. Der Junge hatte so ein hartes Leben hier und es ist an der Zeit, dass sich das ändert. Das habe ich Euch schon oft gesagt.“
Heinrich seufzte. Sein Verwalter war ihm tatsächlich schon öfter in den Ohren gelegen, Martin zu begnadigen und auch noch einige Andere, die Halseisen oder Fußfesseln trugen. Heinrich hatte das immer abgelehnt. Halseisen trugen die Knechte, die versucht hatten, wegzulaufen. Der mit den Fußfesseln hatte das vermutlich auch versucht, es kümmerte Heinrich nicht. Er hatte kein Mitleid mit Gesinde, das seinen von Gott angewiesenen Platz verließ.
Der letzte Pfaffe, Albans Vorgänger, hatte ihm erzählt, dass der Apostel Paulus geschrieben hatte: „Ihr Sklaven, seid gehorsam Euren irdischen Herren.“ Der Apostel hatte wohl auch geschrieben, dass die Herren das Drohen sein lassen sollten, aber Heinrich wägte sich auf der sicheren Seite. Er drohte schließlich nicht.
Es gab klare Regeln und jeder Leibeigene wusste genau, was passieren würde, wenn er weglief. Das hatte mit Drohen nichts zu tun. Es gab Regeln und Konsequenzen, jeder wusste das. Der neue Pfaffe, der seit 4 Jahren der Priester und Beichtvater auf Rabenegg war, hatte ihm noch etwas über einen noch recht unbekannten italienischen Mönch erzählt, Thomas von Aquin. Dieser Mönch, der noch gar nicht so lange tot war, hatte wohl in seinem Leben sehr viel über Theologie und gescheite Gedanken geschrieben, und Alban verehrte ihn sehr. Alban wäre wohl auch lieber ein Gelehrter und Philosoph gewesen als der Pfaffe in einem heruntergekommenen Rittergut. Dieser Thomas von Aquin hatte die Heilige Schrift studiert und war überzeugt, dass die Sklaverei ein Naturrecht war. Die natürliche Ordnung, also machte sich Heinrich keine weiteren Gedanken über die Leibeigenschaft seiner Leute. Es war die von Gott gewollte Hierarchie, und alle mussten sich fügen.
Alban hatte dem Herrn noch mehr von den Theorien dieses italienischen Mönches erklären wollen, aber Heinrich hatte es nicht verstanden. Schon den Unterschied zwischen „Sein“, „Wesen“ und „Existenz“ hatte er nicht begriffen und es auch gar nicht begreifen wollen. Damals waren gerade seine Freunde dagewesen, und Spaß und Wein waren deutlich wichtiger gewesen als irgendwelche seltsamen Ansichten von Mönchen, die er gar nicht kannte.
Früher wäre das nichts so gewesen. Früher hätte sich Heinrich sicherlich für solche Gedanken begeistern können. Heinrich hatte gerne nachgedacht, gerne gelernt. Er hatte auch unglaublich gerne gesungen und musiziert. Als Page durfte er im Haushalt seines Ritters das Streichpsalterspiel erlernen, was ihm große Freude gemacht hatte. Allerdings hatte sein Vater ihm das alles ganz schnell wieder madig gemacht und verboten. Sein Vater war der Meinung gewesen, dass Musizieren, philosophische Gespräche und überhaupt die feinen Künste nichts für einen Ritter wären, nichts für einen richtigen Mann. Heinrich hatte sich gefügt, wie immer. Er war halt dann der mutige Kämpfer, der Haudrauf, der Säufer und Weiberheld geworden, ein echter Mann eben, genau wie sein Vater vor ihm.
Und sein Onkel.
Heinrich schauderte leicht. Sein Onkel Markwart war ein übler Mensch gewesen. Über die Maßen grausam, über die Maßen zornig, über die Maßen voll Begierde. Markwart war der jüngere Bruder seines Vaters gewesen und war lange als Kämpfer in der Welt umhergezogen, bis er zu alt zum Kämpfen war. Dann, vor ungefähr 12 Jahren, war er am Gut seines Bruders aufgetaucht und geblieben, sehr zum Leidwesen der Leute dort. Heinrich war nicht blind, also hatte er sehr wohl bemerkt, wie Markwart wütete. Keine Frau und auch kein junger Mann waren vor ihm sicher gewesen. Er wollte sogar Hand an seinen Neffen legen, aber das hatte der Vater gottlob sehr schnell unterbunden. Man hatte sogar gemunkelt, dass Markwart sich durch Grausamkeit Lust verschaffte, dass er es liebte, andere Menschen zu quälen. Heinrich wusste es nicht, er war zu lange weggewesen. Als er als Hausherr zurückkehrte, was Markwart schon lange tot gewesen. Niemand hatte ihm eine Träne nachgeweint.
Der Verwalter riss Heinrich aus seinen Gedanken: „Ich werde es ihm also sagen. Sonntag ist künftig auch für ihn ein freier Tag, und er muss nicht mehr hungern. Können wir auch das Halseisen endlich abnehmen?“
Heinrich war gereizt. Er gab dem Verwalter den kleinen Finger, und der wollte gleich wieder die ganze Hand. Gefährlich ruhig fragte er: „Warum trägt er denn das Halseisen?“
Ulrich war ebenso ruhig. Er tat zwar immer genau das, was der jeweilige Herr von Rabenegg befahl, aber einschüchtern ließ er sich schon lange nicht mehr. „Es ist weggelaufen, als er 14 war. Seitdem hat er das Halseisen. Es scheuert die Haut auf und tut furchtbar weh. Außerdem ist bei den Leuten mit einem Halseisen der Hals ständig entzündet. Viermal schon hatte Martin den Wundbrand und hat nur knapp überlebt.“
Heinrich hatte diese Debatten um Halseisen und Fußfesseln so satt. Die Leute trugen sie ja nicht ohne Grund. Wenn Ulrich das Sagen hätten, würde ihn das Gesinde ausnutzen und tun, was es wollte. Also erinnerte er den Verwalter: „Weglaufen wird streng bestraft. Wenn wir die Halseisen abnehmen lassen, dann ist das doch eine Aufforderung an alle, wegzulaufen, weil sie genau wissen, dass ihnen nichts passiert. Es ist doch ganz gut, wenn das Eisen scheuert und wehtut, dann denken die Leute immer dran, dass Weglaufen nicht ratsam ist.“
Ulrich seufzte. „Er hat Euch das Leben gerettet und Euer Bein wieder eingerenkt. Er hat Euch mehr gegeben, als Ihr ihm je geben könnt. Warum könnt Ihr ihm nicht einfach auch was Gutes tun?“
Heinrich wurde wütend. Warum eigentlich bat sein Verwalter für einen Verbrecher? Sah denn niemand, was Martins Familie getan hatte? Er giftete: „Ich habe ihm das Hungern und das Arbeiten am Sonntag erlassen. Das reicht doch wohl, wenn man bedenkt, was seine Familie getan hat, was seine Sippschaft angerichtet hat! Ich will das Andenken meiner Mutter ehren und ihren bitteren Tod nicht vergessen lassen.“
Er sah, dass Ulrich versuchte, ruhig zu atmen. Anscheinend ärgerte er sich. Sollte er doch! Sie würden hier wohl nie einer Meinung sein. Ulrich hatte aber noch etwas dazu zu sagen: „Wenn Ihr wirklich das Andenken Eurer Mutter ehren wollt, dann macht ihm das Leben leichter, sie hätte das so gewollt!“
Heinrich wurde noch wütender. „Lasst meine Mutter aus dem Spiel. Was hat sie damit zu tun? Wegen seiner Familie ist sie gestorben. Ich darf mich doch wohl rächen? Oder soll ich ihn beglückwünschen für das, was seine Sippschaft getan hat?“ „Aber Heinrich, Eure Mutter hätte es bestimmt nicht gutgeheißen, dass Ihr einen Menschen quält, für dessen Schutz sie gestorben ist.“
Heinrich starrte ihn nur an. Was wollte der Verwalter von ihm? Wieso sollte seine Mutter für dieses Mann gestorben sein?
„Ich verstehe nicht. Von was sprecht Ihr? Meine Mutter hat sich das Leben genommen, weil ein aufständischer Bauer sie geschändet hat. Martins Vater.“
Ulrich hatte die Unterlippe in den Mund gesogen und biss drauf herum. Unbehaglich sag er Heinrich dabei an. Dann, irgendwann, atmete er tief ein und fragte. „Ihr wisst es also nicht?“
Heinrich war angespannt. Was sollte er nicht wissen? Worum ging es überhaupt? Also meinte er: „Nein, ich weiß nicht, was Ihr mir sagen wollt. Aber Ihr wollt mich sicher aufklären.“
Ulrich sah nicht so aus, als würde er Heinrich unbedingt aufklären wollen. Aber es half nichts.
Langsam fragte er: „Ihr wisst nicht, wer Martin ist?“
Heinrich verlor langsam die Geduld: „Doch, ich weiß, wer er ist. Der Sohn von rebellischen Bauern. Die Leute, die uns damals verschleppt und gefangen gehalten haben. Die Leute, die Unglück über uns gebracht haben und wegen derer meine Mutter, hochschwanger mit dem Kind ihres Vergewaltigers, sich das Leben genommen hat. Reicht das?“
Ulrich setzte sich. Er war blass. Er vergrub sein Gesicht in seine Hände und saß einfach nur stumm da. Heinrich stutzte. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, also fragte er. „Was ist? Täusche ich mich? Wer soll Martin sonst sein?“
Ulrich hob das Gesicht aus seinen Händen und sah Heinrich ziemlich beunruhigt an. Dann meinte er:
„Martin ist Euer Halbbruder.“
Heinrich braucht ein paar Sekunden, um zu verstehen, was der Verwalter ihm da gesagt hatte. Er verstand, aber glauben konnte er es nicht. „Was? Was redet Ihr da? Mein Vater hätte doch niemals einen seiner Bastarde so übel misshandelt. Wozu auch?“ Ulrich wurde noch blasser. Dann stand er auf und ging zum Tisch, um sich ein Glas Wein einzuschenken. Unschlüssig drehte er das Glas in seiner Hand und meinte versonnen:
„Er ist auch nicht der Bastard Eures Vaters.“
Stumm starrte Heinrich ihn an. Seine Gedanken rasten und überschlugen sich. Das konnte einfach nicht sein.
Ulrich war froh, dass der Herr nichts nach ihm warf und auch nicht herumbrüllte. Er blieb am Tisch stehen, in sicherem Abstand. Heinrich musste es erfahren, besser gleich. „Eure Mutter war tatsächlich schwanger von der Vergewaltigung. Aber sie hat sich nicht das Leben genommen, sondern hat das Kind geboren und es zu Pflegeeltern gegeben. Gestorben ist sie erst später, als…“
Er brach ab, als er Heinrichs Gesicht sah. Da kam auch schon sein Trinkbecher angeflogen, er verfehlte Ulrich nur knapp und krachte hinter ihm gegen die Wand. Rot vor Wut schrie Heinrich: „Raus! Ich dulde keine Lügen über meine Mutter! Schert Euch zum Teufel!“
Ulrich stellte wortlos das Glas ab und ging. Heinrich blieb schwer atmend in seinem Bett liegen und schrie dem Verwalter noch eine Zeitlang üble Beleidigungen hinterher. Irgendwann konnte er nicht mehr schreien und lag vor Empörung zitternd in seinem Bett. Sein Vater hatte ihm erzählt, die Mutter hätte sich wegen der Schande das Leben genommen. Sein Vater hatte ganz sicher nicht gelogen, sein Vater war ein Ehrenmann gewesen.
Heinrich versuchte, sich zu beruhigen, aber es ging nicht. Warum erzählte sein Verwalter diese Geschichten? Wollte er Mitleid für Martin schinden? Das war gründlich danebengegangen. Er würde nicht zulassen, dass irgendwer seine Mutter verleumdete und ihr ein uneheliches Kind nachsagte. Er konnte sich nicht mehr gut an seine Mutter erinnern, alles war verblasst und so furchtbar weit weg.
Fluchend schon Heinrich sich aus dem Bett, griff nach seinem Stock und humpelte mühsam zur Truhe an der anderen Wand. Er öffnete sie und kramte darin herum, bis er das Portrait seiner Mutter in Händen hielt. Sein Vater hatte es vor langer Zeit von einem guten Maler anfertigen lassen. Mit dem Bild in der Hand humpelte er zurück ins Bett. Er legte sich einigermaßen bequem hin und studierte das Portrait liebevoll, wie schon so oft. Er sog alle Einzelheiten auf und genoss jede kleine Erinnerung, die er spürte. Schon oft hatte er das getan, aber immer nur heimlich. Weibische Gefühle und Trauer standen einem edlen Ritter nicht gut zu Gesicht.
Wie so oft schon schaute er das Bild an und blieb dann an den wunderschönen blauen Augen seiner Mutter hängen. Heinrich erstarrte. Es waren Martins Augen.
Erschrocken ließ er das Bild aufs Bett fallen. Sein Herz klopfte so schnell, dass er dachte, es würde zerspringen. Er hatte Martins Augen vor einigen Wochen in der kleinen Höhle am Bach gesehen und sich gewundert, warum sie ihm so bekannt vorgekommen waren. Damals hatte er gedacht, es wären die Augen des Vergewaltigers gewesen. Doch, so erkannte Heinrich jetzt, er hatte sich geirrt. Es waren die Augen seiner Mutter. Ulrich hatte also rechtgehabt.
Schwer atmend kämpfte Heinrich um seine Fassung. Seine Mutter hatte also das Kind der Schande geboren. War sie daran gestorben? Warum hatte sein Vater ihm das nicht gesagt? Er grübelte pausenlos und fand doch keine Antwort.
Als nach langer Zeit die Magd kam, um ihn zu versorgen, trug Heinrich ihr auf, den Verwalter zu schicken.