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Kapitel 6: Der Mann Gottes: Bruder Alban

Bruder Alban war nicht sehr erbaut darüber, einen Stallknecht zu unterrichten. Er stritt kurz mit Heinrich drüber, fügte sich dann aber, obwohl Heinrichs Ansinnen eine Zumutung und Beleidigung war. Alban selbst entstammte einer Grafenfamilie, war jedoch nur der vierte Sohn gewesen und von seinen Eltern bereits als Kind der Kirche versprochen worden. Alban hatte das jedoch nie etwas ausgemacht. Lernen, Studieren, Denken, Beten, das war für ihn der Alltag gewesen seit er fünf Jahre alt war, er kannte nichts anderes. Im Lernen hatte er sich immer leichtgetan.

Sein Kloster, das irgendeiner von Heinrichs Vorfahren gegründet hatte, hatte ihn als Priester zu Heinrichs Gut geschickt. Irgendwie dachte Alban, dass sein Talent hier verschwendet war. Alban hatte im Kloster Pläne gehabt, er war sogar Novizenmeister geworden und wollte den Novizen die klare, unverfälschte Benediktinerregel mit den monastischen Tugenden beibringen. Ständig hatte er überlegt, was man im Kloster anders machen könnte, um wirklich ein Leben des Studierens, der Reflexion, der Keuschheit und der Arbeit zu führen. Einige der Brüder hatten seine Reformbestrebungen begrüßt, aber etlichen gerade der älteren Brüder, die die Regel oft recht locker auslegten, war es dann auf die Dauer zu viel geworden. Der Abt hatte ihn als Störenfried und Konkurrenten gesehen und war vermutlich froh gewesen, den ehrgeizigen Alban loszuwerden. Und nachdem Alban Gehorsam gelobt hatte, war ihm gar nichts anderes übriggeblieben, als wie vom Abt befohlen nach Rabenegg zu ziehen und einen versoffenen, uninteressierten Ritter samt seinen ungebildeten Dienstboten und Bauern zu betreuen.

Zuerst hatte Alban gehadert mit seinem Schicksal, aber mittlerweile war er ganz froh darüber. Er hielt die Messen, Taufen, Eheschließungen, letzten Ölungen, Beerdigungen, nahm Beichten ab und versuchte regelmäßig, Heinrich und seine primitiven Freunde zum Kirchgang zu bewegen. Ansonsten ließ man ihn in Ruhe, und Alban konnte ohne Einmischung durch den Abt und ohne die strenge Fremdbestimmung im Kloster seinen Tagesablauf gestalten. Er konnte in Ruhe lesen und studieren, denken, schreiben, Lieder komponieren. Eigentlich war sein Leben ganz in Ordnung. Manchmal machte es ihm zu schaffen, dass er es nicht weit gebracht hatte. Er war kein Abt, kein Bischof, kein Hauslehrer in einer wichtigen Familie. Etliche seiner Geschwister waren irgendwo Abt, Äbtissin oder gar Ratgeber beim Herzog. Einer seiner Brüder war sogar ein Diplomat, der schon einmal beim Papst gewesen war, um Verhandlungen mit dem Papst und dem Herzog zu leiten.

Alban war nur der Hauspfaffe in einem heruntergekommenen Rittergut, und das führte dazu, dass er alleine denken und philosophieren musste. Er korrespondierte mit verschiedenen anderen Denkern, besonders liebte er die Lehre des Thomas von Aquin. Er studierte dessen Theorien mit tiefer Hingabe und Ehrfurcht.

Thomas von Aquin war gar noch nicht so lange tot und seine Schriften hatten einen aufregenden Bezug zum heutigen Leben, ganz im Gegenzug zu Albans anderem Helden: Augustinus von Hippo. Alban hatte es sich zur Aufgabe gemacht, alle ihre Werke zu besitzen, was eigentlich ein aussichtsloses Unterfangen war: Der Heilige Augustinus alleine hatte fast 100 Werke verfasst. Oft ließ Alban sich Werke von anderen Klöstern schicken und kopierte sie selbst. Er konnte sie abschreiben und dabei gleich studieren. Besonders liebte er die Confessiones des Thomas von Aquin und das unvergleichliche Werk über die Dreieinigkeit, „De Trinitate“. In einsamen Stunden studierte er die Werke zur Gnadentheologie und fühlte sich seltsam getröstet.

Alban wäre auch gerne so ein großer Gelehrter, vielleicht sogar ein Kirchenlehrer gewesen, und deswegen verfasste er auch selbst Schriften. Vermutlich würde die nie irgendjemand lesen, aber für Alban war es das Schönste überhaupt, an seinem Tisch zu sitzen und seine eigenen Auslegungen zu schreiben. Er kannte die Heilige Schrift und verschiedene Werke zur Auslegung genau und konnte alle seine Gedankengänge ausführlich belegen. Teile seiner Ergebnisse teilte er auch seinen Korrespondenzpartnern in langen Briefen mit und las im Gegenzug deren Abhandlungen. Es war ein wunderbarer Austausch mit gelehrten Männern, etwas, das seine Seele wärmte.

Und jetzt sollte er seine Zeit opfern, um einen Stallknecht zu unterrichten. Was sich der Herr Heinrich dabei nur gedacht hatte? Gewiss, der Knecht war sein Halbbruder, war aber aufgewachsen in Unwissenheit. Irgendwie fühlte Alban sich beleidigt. Er, ein gelehrter Mann, einer der wenigen Menschen, die die Schriften des Thomas von Aquin lesen konnten und auch verstanden, er sollte einen Stallknecht unterrichten.

Eigentlich war das eine Zumutung.

Da aber der Hochmuth eine Todsünde war und zu den sieben Hauptlastern gehörte, wollte Alban sich doch herablassen. Er würde den Hochmuth bekämpfen und demütig sein und sich so den Himmel verdienen. Natürlich wusste Alban aus seinen Studien, dass er das nicht alleine konnte: Schließlich hatte er durch den Sündenfall nur eine eingeschränkte Willensfreiheit, nur Gott konnte die Gnade schenken, die eigenen Willensschwächen zu überwinden. Wie schon der wunderbare Anselm von Canterbury in seinen faszinierenden Werken geschrieben hatte, konnte man sich nur mit Gottes Hilfe aus der Sünde lösen: einfach indem man Gott drum bat.

Alban nahm sich fest vor, Gott um Hilfe und Gnade zu bitten und dann über seine eigene Demutsübung zu schreiben, ähnlich wie in den Confessiones von Thomas von Aquin: Wie man durch Gnade und Demut in sich selbst die Todsünden auslöschen konnte und dadurch Tochtersünden vermied. Er überlegte, welchen lateinischen Namen er seinem Werk geben konnte. Vielleicht „Et humilem“, – von der Demut -, aber vielleicht war dieser Name schon vergeben? Er würde nachforschen müssen und freute sich schon darauf.

Am nächsten Tag kam Martin nach der morgendlichen Krankenpflege und dem Frühstück zu Bruder Alban. Er war aufgeregt und gleichzeitig froh: Seit Wochen hatte er jeden Tag Brettspiele gespielt und konnte sie schon nicht mehr sehen. Aber vielleicht würde das eh anders werden. Heinrich hatte beschlossen, sich mehr für sein Gut zu interessieren und für die Zeit von Martins Abwesenheit den Verwalter zu sich bestellt. Er wollte künftig erklärt bekommen, was auf seinem Gut zu tun war und welche Arbeiten es zu verrichten gab. Martin hatte nicht ganz verstanden, warum der Herr das tun wollte. Ganz offensichtlich kümmerte ihn die täglich anfallende Arbeit und die lebenswichtige Planung von Saat, Ernte, Vorräten und Kleidung nicht, und Routine war für ihn ein Graus. Aber aus irgendeinem Grund schien er bestrebt, sich zu ändern. Aus irgendeinem Grund, den Martin noch nicht herausgefunden hatte, wollte Heinrich sein Leben ändern. Martin war es nur recht, er profitierte davon. Seit Wochen schon hatte er genug zu essen, niemand schlug ihn, und er saß in Heinrichs warmer Kammer, während draußen klirrende Kälte herrschte. Und nun sollte er sogar lesen und schreiben lernen dürfen, warum auch immer.

Aufgeregt betrat er Albans Kammer. Sie hatte viel Licht, im Gegensatz zu den anderen Kammern im Winter. Alban hatte einen eigenen Feuerplatz mit Kamin, ein Fenster zur Südostseite und etliche Kerzen im Raum. Das Fenster war nicht wie sonst mit dicken Holzläden verschlossen, sondern in den Holzrahmen war Pergament gespannt. Man konnte auch Holzbretter über das Pergament schieben, wenn es zu kalt wurde, aber durch das Pergament vor den Fenstern kam nochmal zusätzlich Licht herein. Es war eine raffinierte Lösung, so fand Martin. Der Raum hatte Licht, trotzdem konnte man die Läden aufmachen und hinausschauen, und man konnte sie mit Holz wetterfest machen. Ob sich Bruder Alban das wohl selbst ausgedacht hatte?

Der Priester empfing ihn ohne Enthusiasmus. Er musterte seinen neuen Schüler und hätte am liebsten die Nase gerümpft, aber er sagte sich ständig vor, dass Hochmuth eine Todsünde war und er ja in den Himmel kommen wollte zu all den von ihm verehrten Theologen.

Er setzte sich an den Tisch und überlegte kurz, ob Martin sich auch hinsetzen oder stehen sollte. Seinem Rang nach müsste er eigentlich stehen, aber Alban dachte kurz dran, dass er Heinrichs Halbbruder war und anscheinend jetzt hoch in der Gunst stand. Also seufzte er ergeben und bedeutete Martin, sich zu setzen. Sie begannen mit dem Alphabet. Alban erklärte ihm die Buchstaben und ließ Martin dann die Buchstaben mit einem geschmiedeten Schiefergriffel auf einer Schiefertafel schreiben.

Pergament und vor allem Papier waren teuer, nie im Leben würde Alban solch kostbare Sachen an einen Stallknecht verschwenden.

Martin begriff schnell. Alban ließ ihn Wörter schreiben und Martin machte sich eifrig an die Arbeit. Sein Gesicht glühte, wegen des Kamins aber auch wegen der Freude. Dann zeigte ihm Alban noch, wie man Zahlen schrieb und übte mit ihm einige kleine Rechenaufgaben. Irgendwann war die Unterrichtsstunde um, und Martin war selig. Es war zu schön gewesen.

Den restlichen Tag war Martin abwechselnd von Freude und von Furcht erfüllt. Ständig musste er an den Unterricht denken und freute sich drauf, am nächsten Tag wieder schreiben und rechnen zu dürfen. Allerdings wusste er auch, dass es jederzeit wieder vorbei sein konnte. Warum auch sollte er so etwas Wundervolles bekommen? Er hatte kein Recht darauf. Irgendwann war Heinrich wohl wieder gesund und Martin überflüssig. Er wusste nicht, wie lange der Unterricht gehen würde, wann Heinrich ihn wieder vergessen und in den Stall zurückschicken würde. Martin wollte bis dahin so viel Wissen wie irgendwie möglich aufnehmen, und so zeichnete er am Abend in Ulrichs Schreibstube mit Kohle die Buchstaben auf ein Holzbrett. Er schrieb seinen eigenen Namen und den von Veit, und schlief mit der Holzkohle in der Hand ein.

Die nächsten Wochen war Martin ein täglicher Gast bei Bruder Alban. Er lernte schnell, und Alban war verblüfft. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Die Kinder in der Klosterschule lernten deutlich langsamer, und auch die Novizen im Kloster legten oft nicht den größten Eifer an den Tag. Die meisten davon waren ja von den Eltern bereits als Kind geschickt worden, manche wurden auch zur Strafe in ein Kloster gesteckt. Eine echte Berufung hatten die wenigsten, und das merkte man auch im Unterricht. Mit Martin war das anders. Er hing förmlich an Albans Lippen und passte genau auf. Innerhalb von wenigen Tagen konnte er einigermaßen schreiben und sogar rechnen, erst mit seinen Fingern, dann später mit Kastanien. Bald schon konnte Martin einfache Aufgaben bis zur Zahl 100 rechnen.

Bruder Alban bemerkte, dass es ihm Freude machte, so einen gelehrigen Schüler zu unterrichten. Er erzählte ihm von seinen Lieblingsautoren und versuchte, die Inhalte ihrer Werke so zu erklären, dass ein einfacher Knecht sie verstand.

Martin hörte gut zu und bei den folgenden Diskussionen bemerkte Alban schnell, dass Martin vieles zu verstehen schien. Für etliches fehlte ihm das theologische Grundwissen, bei einigen Dingen bemerkte man, dass sein Schüler anscheinend noch nie darüber nachgedacht hatte, aber Alban war entzückt. Endlich hatte er jemanden, den diese theologischen Gedankengänge interessierten. Er vermutete, dass Martin sich für alles interessierte, Hauptsache Wissen, aber Alban kümmerte es nicht. Jeden Tag fütterte er Martin mit klugen Gedanken, Philosophie und Abhandlungen über den Glauben.

Auf Martins scheuen Wunsch hin begannen sie sogar mit Latein. Alban schrieb die gängigen Gebete auf Latein auf und erklärte Martin dann die Wörter und die Grammatik dazu. Leider hatte Bruder Alban kein Lehrbuch für lateinische Grammatik, so musste er seinem Schüler alles anhand von Beispielen erklären. Sie begannen also mit den Gebeten, und als Martin die kannte, machten sie mit kurzen Passagen aus der Heiligen Schrift weiter. Jeden Tag studierten sie immer länger, und oft war es schon Mittag, wenn Martin bei Heinrich auftauchte. Am Anfang war Martin sehr schuldbewusst gewesen und hatte wohl eine Strafe fürs Zuspätkommen erwartet, aber Heinrich ließ ihn gewähren und lächelte ihn nur freundlich an.

Er war selbst froh, vormittags eine Zeitlang seine Ruhe zu haben. Martin war die ganzen letzten Wochen ständig bei ihm gewesen, da war etwas Stille ganz schön. Außerdem hatte Heinrich angefangen, sich vom Verwalter die Dinge rund um sein Gut erklären zu lassen. Jeden Tag kam Ulrich nach dem Frühstück und erzählte Heinrich, welche Arbeiten anfielen und um was er sich alles Gedanken machen musste. Er war sehr komplex und viel, und anfangs fiel es Heinrich schon schwer, überhaupt nur zuzuhören. Nach und nach machten die ganzen Dinge Sinn, und Heinrich hoffte, sich irgendwann einmal auch damit auszukennen. Ulrich war schon alt und würde nicht ewig leben, und er wusste ja nicht, ob ein eventueller Nachfolger auch so fleißig, gut und loyal sein würde. Also war es sicher besser, wenn er selbst auch Bescheid über die Verwaltung seines Gutes und die abgabepflichtigen Höfe wusste.

Die Tage vergingen, Heinrich und Martin hatten einen neuen Rhythmus gefunden. Jeden Morgen kam Martin zu Heinrich, brachte Waschwasser mit, versorgte das Bein, und frühstückte mit ihm. Dann ging Martin bis Mittag zum Unterricht und Heinrich sprach mit dem Verwalter und hatte dann Ruhe. Zum Mittagessen kam Martin wieder, dann übten sie das Laufen. Es ging immer besser. Mittlerweile lief Heinrich mit einem Stock und Martin ging nur nebenher, um ihn zu stützen oder aufzufangen, wenn es nötig war. Immer öfter gingen sie auch hinaus vor die Tür. Der Schnee begann zu schmelzen, die ersten Schneeglöckchen streckten ihre Köpfe heraus.

Jeden Tag liefen sie immer länger im Gut herum, jeden Tag besuchte Heinrich auch seine Pferde. Juno lebte ja nicht mehr, aber Diana und Alba waren noch da. Er streichelte sie und fütterte sie mit Karotten. Martin konnte mit Pferden nicht so viel anfangen, er konnte noch nicht einmal reiten. Schade, so dachte Heinrich. Sein Traum war ja, wieder Pferde zu züchten und zu bereiten; es wäre hilfreich gewesen, wenn Martin die gleiche Pferdebegeisterung gehabt hätte wie er. Er nahm sich vor, Martin das Reiten beizubringen, so konnten sie wenigstens ab und zu mal einen Ausritt machen. Im Wald, eine knappe Reitstunde entfernt, lag ein kleiner See. Heinrich war oft dort gewesen. Erst mit seinem Vater und den Geschwistern, später mit seinem Freund und Lehrmeister Veit. Veit war zwei Jahre älter gewesen als er und war der beste Reiter, den Heinrich kannte.

Veit hatte ihm das Reiten beigebracht. Also, natürlich hatte Heinrich schon reiten können, aber RICHTIG reiten, das hatte er erst bei Veit gelernt. Er hatte immer Veits Freund sein wollen, er hatte ihn bewundert. Veit hatte sich viel mit ihm abgegeben, aber richtig ernstgenommen hatte er ihn nie. Veit war immer der tolle Reiter, der Held gewesen. Zuerst hatte Heinrich ihn bewundert, später dann war Veit der Konkurrent um die Gunst des Vaters geworden, und Heinrich hatte ihn regelrecht gehasst dafür.

Er war bereits als Kind zu einem anderen Hof zur Ausbildung geschickt worden. Die paar Mal im Jahr jedoch, wenn er zu Besuch kam, musste er zusehen, wie sein Vater zusammen mit Veit die Pferde beritt. Für Heinrich war das immer ganz furchtbar gewesen. Der Vater schien Veits Arbeit mehr zu schätzen als Heinrichs Leistungen bei der Ausbildung zum Ritter. Veit war wichtig, Veit war unentbehrlich, und das ließ er Heinrich auch spüren. Er behandelte ihn oft herablassend, wie ein verweichlichtes Rittersöhnchen, das keine Ahnung hatte.

Vor ungefähr zehn Jahren hatte Heinrich mitbekommen, dass Veit in Ungnade gefallen war. Er war sogar einige Zeit im Kerker gewesen und hatte dann vom Vater Fußketten verpasst bekommen, damit er nicht mehr reiten konnte. Heinrich hatte sich diebisch gefreut damals, endlich hatte dieses Großmaul einen Dämpfer bekommen. Heinrich war ja immer nur eine bis zwei Wochen auf Rabenegg zu Besuch gewesen, und irgendwann hatte er Veit nicht mehr gesehen. Er wusste nicht, was aus ihm geworden war. Schade eigentlich, so fand Heinrich. Veit hätte gut bei der Pferdezucht und der Ausbildung der Pferde helfen können. Obwohl – vermutlich hätte es nur wieder Ärger und Streit gegeben, Konkurrenz eben. Vielleicht war es ganz gut, dass Veit nicht mehr da war. Heinrich würde sich anders behelfen und er alleine würde etwas Großartiges aufbauen. Eine leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er zu faul dafür war, aber Heinrich ignorierte sie beharrlich.

Nach dem täglichen Ausflug spielten Heinrich und Martin meistens Brettspiele, aßen zu Abend und liefen dann noch eine Runde herum. Es ging immer besser, bald würde Heinrich keine Pflege mehr brauchen. Nach der zweiten Übungsrunde zu Fuß sangen Martin und Heinrich oft. Sie sangen immer wieder die gleichen Lieder, da sie keine anderen kannten, variierten aber die Begleitstimmen dazu. Oft trommelte Martin auf einer Holzschüssel den Takt mit.

Martin bemerkte, wie die Starre aus seiner Seele langsam wich. Er hatte auf Rabenegg furchtbare Jahre verbracht und sich in sich selbst zurückgezogen. Alle seine Sinne waren nur auf Überleben ausgerichtet gewesen, ständig war er auf der Hut vor der nächsten ungerechten Grausamkeit gewesen. Die letzten Wochen hatte Martin eine gute Zeit gehabt. Er traute der ganzen Sache noch nicht wirklich und war ständig achtsam, aber Heinrich schien sich seit seinem Unfall geändert zu haben.

Martin begann, ruhiger zu werden. Zuerst war seine Aufmerksamkeit immer auf Heinrich gerichtet gewesen, doch auch das ließ langsam nach. Er dachte, er könnte sich nun entspannen, aber das schien nicht möglich. Martin stellte fest, dass mit der Ruhe im Kopf auch schlimme Gefühle kamen. Die Starre taute auf, wie schmelzendes Eis, und das brachte unerwünschte Gefühle mit sich. Fast jeder Ort in diesem Gut barg üble Erinnerungen, und er bemerkte, dass sein Körper auf Heinrich reagierte, auch wenn es sein Geist nicht mehr zu tun schien. Wenn er in Heinrichs Kammer trat, schlug sein Herz schneller, die Nackenhaare stellten sich auf, ihm wurde übel. Martin versuchte, das zu ignorieren und erst nach einiger Zeit in der Kammer wurde es dann immer besser, jeden Tag aufs Neue. Er wehrte sich verzweifelt gegen die schlimmen Gefühle. Sein Leben war so hart gewesen, und er konnte nicht mehr. Er wollte einfach Frieden, Ruhe, aber seine auftauende Seele sorgte dafür, dass da kein Frieden sein konnte. Der Schmerz war manchmal so schlimm, dass es fast körperlich weh tat. Oft wünschte Martin sich, dass er als Säugling gestorben wäre, dann hätte er das alles nicht aushalten müssen.

Nach und nach entdeckte Martin, dass er nicht fühlen musste, wenn er nachdachte. Also dachte er. Denken war besser als Fühlen. Er dachte den ganzen Tag. Im Unterricht war er beim Lernstoff, beim Brettspiel war er auf das Spiel konzentriert, und ansonsten dachte es in seinem Kopf ohne Pause. Die Gedanken jagten sich. Er dachte viel über die Dinge nach, die Bruder Alban ihm erzählte, über zukünftige Möglichkeiten, über den Klatsch auf dem Gut, und leider auch oft über die Vergangenheit. Seine Gedanken schweiften oft ab in die dunkle Zeit, in die Zeit, als sein Leben aus den Fugen geraten war. Seltsamerweise konnte Martin die Gefühle dazu einfach wegdenken. Er dachte drüber nach und sah die Erlebnisse, wie wenn er von oben zusah. Er sah sich seine Familie verlieren, er sah die vielen Jahre der Einsamkeit und des Leids, aber gottlob erreichten die Gedanken sein Herz nicht. Meistens nicht. Manchmal geschah es doch, und dann verkroch sich Martin irgendwo und weinte ein paar Minuten, bevor er einfach etwas anderes dachte und mit seiner hektischen Betriebsamkeit weitermachte. Wenn er sich nicht verkriechen konnte, dann zwang er sich auch, an etwas anderes zu denken oder den Schmerz einfach zu ignorieren. Das Eis um seine Seele schmolz langsam, und Martin flüchtete sich in seinen Kopf. Manchmal dachte er daran, auch Theriak oder viel Wein zu trinken, um Frieden zu haben, aber er hatte gesehen, was diese Getränke mit Heinrichs Vater und Onkel gemacht hatten. Das wollte er nicht.

Martin erzählte Bruder Alban, dass er und Heinrich öfter zusammen sangen, und Alban sagte erst einmal nichts dazu. In der Stille seiner Studierstube prüfte er, ob es in Ordnung wäre, mit zwei Laien zu singen. Er las in der Benediktsregel nach, die half ihm aber auch nicht weiter. Dort war nur geregelt, wann wer was zu singen hatte. Benedikt war anscheinend davon ausgegangen, dass nur Mönche zusammen singen würden. Alban nahm Zuflucht zur Heiligen Schrift. Im Buch Hiob fand er den Hinweis, dass „die Morgensterne miteinander jubelten und alles Söhne Gottes jauchzten“. Alban wusste aus seinen gelehrten Schriften, dass mit den Morgensternen vermutlich die Engel gemeint waren. Aber Söhne Gottes? Vielleicht waren das die Menschen?

Beziehungsweise Männer. Aufgrund der Paulinischen Regel war für Alban völlig klar, dass er unmöglich mit Frauen geistliche Lieder singen konnte. Er hielt nicht viel von Frauen. Durch sie war es zum Sündenfall gekommen, durch sie alleine war die Menschheit aus dem Paradies vertrieben worden. Alban brauchte in seinem Leben keine Frauen.

"Der wesentliche Wert der Frau liegt in ihrer Gebärfähigkeit und in ihrem hauswirtschaftlichen Nutzen." Das hatte sein verehrter Thomas von Aquin geschrieben, und Alban war mit ihm ganz einer Meinung. Alban ging den Weibern aus dem Weg, wo er nur konnte, eingedenk der Worte des Heiligen Franz von Assisi: „Wer mit dem Weibe aber verkehrt, der ist der Befleckung seines Geistes so ausgesetzt wie jener, der durchs Feuer geht, der Versengung seiner Sohlen. "

Er musste Frauen die Beichte abnehmen, ihnen die letzte Ölung geben, die Sterbesakramente spenden und sie verheiraten. Das war seine Aufgabe. Aber ansonsten machte er einen großen Bogen um Frauen und ließ sich nie von ihnen anfassen. Evas Sünde würde ihn nicht zugrunde richten. Er wusste, dass viele Mönche und Priester nicht keusch waren und sich Frauen nahmen, obwohl der Zölibat seit vielen Jahren verpflichtend war. Aber er, Alban, würde nicht sein Gelöbnis der Keuschheit brechen. Sicher wäre das sein Untergang. Hatte nicht schon der Heilige Hieronymus geschrieben: „Fliehet das Weib, es ist die Pforte des Teufels, die Straße des Lasters; nähert sich der Mann, so brennt er…" Nein, Alban würde nicht in die Falle tappen. Doch seine Frage, ob er mit Laien singen konnte, war dadurch aber immer noch nicht gelöst. In der Offenbarung stand, dass die Engel in einem gewaltigen Chor sangen. Die Engel. Da stand leider nichts von Mönchen und Laien. Alban dachte nach. Wenn er keine weltlichen Lieder sang, dann konnte Gott doch eigentlich nichts dagegen haben? Schließlich gab es in Klöstern auch Laienbrüder, die sangen? Entschlossen stand Alban auf, in seinem Herzen zog es: Er würde es versuchen.

Und so kam es, dass er am Abend nervös in Heinrichs Kammer auftauchte. Heinrich und Martin spielten gerade Schach und sahen ihren späten Besucher verwundert an. Alban erklärte kurz, warum er da war und stieß auf helle Begeisterung. Martin packte das Schachspiel weg und Alban bemerkte, dass er sich gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie er anfangen sollte. Also ließ er sich von seinen beiden neuen Singgenossen deren Lieder vortragen. Sie sangen ziemlich schön, allerdings brachten sie Alban in Gewissensnöte: Es waren keine geistlichen Lieder. Vielleicht musste er etwas von seiner Meinung abweichen? Vielleicht waren Lieder auch dann in Ordnung, wenn sie vom Alltag sangen? Alban wusste es nicht.

Er erklärte Heinrich und Martin, wie man im Kloster sang zu den Stundengebeten Matutin, Laudes, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplett. Er erläuterte das liturgische Gesangsbuch, das Antiphonale, in dem die vorgeschriebenen Lieder, wie zum Beispiel das Magnificat, das Benedictus und natürlich die marianischen Antiphonen zusammengefasst waren.

Heinrich und Martin hörten schweigend zu. An Heinrichs Gesicht konnte Alban sehen, dass er nicht viel verstanden hatte. Nun gut. Alban seufzte. Er ließ seine theoretischen Ausführungen bleiben und beschloss, einfach anzufangen. Er wählte ein einfaches Lied aus. Früher waren Chorale immer einstimmig gewesen, aber seit einiger Zeit wurden sie mehrstimmig, was Alban sehr gefiel. Er sang das Lied und brachte Martin und Heinrich die anderen Stimmen bei. Sie sangen. Bald variierte Heinrich seine Stimme und wieder wusste Alban nicht, was er davon halten sollte. Aber nachdem es schön klang und Heinrich der Gutsherr war, ließ er ihn gewähren.

An diesem Abend gingen drei Männer auf Rabenegg sehr glücklich ins Bett. Heinrich hatte das getan, was er schon immer hatte tun wollen: mit mehreren Leuten musizieren. Alban war froh, nicht mehr alleine die Heiligen Lieder zu singen. Und Martin? Martin hatte gar nicht gewusst, dass etwas so schön sein konnte. Noch nie hatte er Mönche singen hören, und dieser mehrstimmige Choral hatte geklungen wie Engelsmusik. Alban war sein Lehrer im Lesen, Schreiben, Rechnen, Denken, und nun auch beim Singen.

Martin spürte ein seltsames Gefühl und dachte darüber nach, ob es vielleicht Glück sein könnte. Er spürte hin, aber das Gefühl war fast zu stark für seine noch nicht komplett aufgetaute Seele. Er konnte es immer nur ein paar Sekunden aushalten, dann kehrte er zu seinen Gedanken im Kopf zurück. Immer wieder wagte er es und spürte hin zum Glück. Er traute dem Frieden nicht so recht, aber Glück fühlte sich schön an. Fühlen war neu und seltsam, und überwältigend. Martin beschloss, von nun an jeden Tag etwas zu finden, das schön war, und ganz bewusst das Glück oder die Schönheit zu spüren und zu beachten, und wenn es nur kurze Augenblicke waren. Er würde danach suchen und die Schönheit finden.

Bruder Alban hatte ihm gezeigt, wie man Schrift von Pergament mit einer scharfen Klinge abschaben und das Pergament neu beschreiben konnte. Vielleicht, so dachte er sich, könnte er seine Seele auch neu beschreiben? Oder besser: überschreiben? Es gab so viel Grauen, so viele schlimme Erinnerungen auf Heinrichs Gut. Und doch, so bemerkte Martin jetzt, es gab hier auch viel Glück und Schönheit. Mit Heinrich in Ruhe Brettspiele spielen, mit Alban und Heinrich singen, einen Text lesen oder schreiben, das alles war schön. Draußen die Winterlandschaft war schön, man musste nur hinschauen.

Vielleicht war es wirklich möglich, das Grauen in seiner Seele zu überschreiben? Martin beschloss, es zu versuchen. Er konnte das Glück immer nur ein paar Sekunden aushalten, aber stete Übung würde auch hier den Meister machen, genau wie bei den Brettspielen und dem Studieren.

Von da an trafen sich die drei Männer jeden Abend. Bruder Alban brachte ihnen auch die anderen Lieder bei, und im Gegenzug erklärte er sich bereit, auch zu den Laienliedern den Bass zu singen. Alban hatte eine tiefe und klare Stimme, die ganz wunderbar zu den Liedern kontrastierte. Er begann, auch die Harfe mitzubringen und die Lieder damit zu begleiten.

Die Tage vergingen, der Februar ging in den März über. Draußen blühten die Haselsträucher, die ersten Krokusse kamen, der Schnee schmolz langsam weg. Heinrich konnte mittlerweile ohne Stock herumlaufen. Seine Tage waren schön. Vormittags kam der Verwalter und erklärte ihm die anfallende Arbeit. Mittlerweile konnte Heinrich auch mit ihm die Runde auf dem Gut machen und sich die Dinge anschauen. Er verstand immer mehr. Zum ersten Mal sah er auch, was sein Gesinde leistete, wieviel Arbeit zu tun war. Er sah aber auch, dass die Leute Angst vor ihm hatten. Sie nahmen immer ihre Mützen und Kappen ab, wenn er kam, und schauten auf den Boden. Heinrich bemerkte, dass ihn das langsam störte. Vielleicht würden sich die Leute mit der Zeit entspannen, wenn sie ihn regelmäßig sahen und er ihnen nichts tat.

Jeden Tag nach dem Mittagessen kam Martin. Sie spielten Brettspiele und sprachen über dies und das. Durch das gemeinsame Singen hatte Martin einen Teil seiner Scheu verloren und wagte es immer öfter, sich mit Heinrich zu unterhalten. Jeden Abend, noch vor dem Nachtmahl, kam auch Bruder Alban, und sie sangen zusammen. Dann kam eine Pause zum Essen, danach musizierten sie weiter. Martin hatte begonnen, das Harfenspiel zu erlernen und

Heinrich überlegte ernsthaft, ob er sich eine Laute zulegen sollte. Er wusste, dass es ungefähr zwei Reitstunden entfernt einen Meister gab, der Lauten und andere Instrumente herstellte. Vielleicht konnte er dann einen der fahrenden Sänger für ein paar Monate anstellen, damit der ihm das Lautenspiel beibrachte. Fahrende Sänger waren immer froh, wenn sie irgendwo für ein paar Monate Unterschlupf und eine feste Arbeit fanden. Eines Morgens wachte Heinrich auf und wusste, dass er sich eine Laute kaufen würde. Wenn er wieder reiten konnte, würde er zu dem Instrumentenbauer reisen.

Überhaupt, das Reiten. Heinrich wusste, dass er unbedingt wieder anfangen musste. Er zögerte es hinaus, weil er ja nicht wusste, ob es noch ging. Was würde aus seinen Träumen werden, wenn es nicht ging?

Der Seele tiefer Grund

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