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Kapitel 5: Lebensträume

Heinrich musterte den jungen Mann im Lehnstuhl gegenüber. Zum ersten Mal überhaupt schien er keine Maske aufzuhaben. Normalerweise sah Martin Heinrich selten ins Gesicht und wenn, dann verschloss er sein Gesicht mit einer Maske aus Stein, und keinerlei Gefühlsregung durfte hindurchdringen. Normalerweise sah Martin immer gleich aus, egal ob er beim Schach gewann oder Heinrich den Hintern ausputzte. Anscheinend war Martin nach der Anstrengung vorhin zu erschöpft, um auch noch an seine Maske oder an das richtige Benehmen zu denken. Er sah Heinrich freiheraus an, neugierig, offen, einigermaßen entspannt. In Heinrichs Seele zog es. Er hatte nicht viele Erinnerungen an seine Mutter, doch zwei oder drei Bilder von ihr waren in seinen Gedanken eingebrannt. Eine davon war, dass er freudig zur Tür hereingerannt kam mit einem Holzpferd, das der alte Stallmeister ihm geschnitzt hatte. Seine Mutter, die am Spinnrad saß, hatte ihn offen, freundlich und neugierig angesehen und sein Herz war übergequollen vor Glück. Diesen Moment würde er nie vergessen. Martin war das Abbild seiner Mutter mit diesem offenen Blick und den freundlichen hellblauen Augen.

Dass er das nie gesehen hatte?

Er starrte Martin an und sog dessen Gesichtsausdruck auf, die Augen, die Form der Lippen, all das war seine Mutter. Er hatte sich selbst noch nicht oft gesehen, manchmal in der Reflektion vom Waschwasser oder in der polierten Kupferplatte in seiner Kammer. Richtig gut hatte er sich noch nicht gesehen, aber vermutlich sah er Martin ähnlich. Er konzentrierte sich wieder auf die Mutter. Sie hatte viel gesungen, beim Spinnen, beim Weben, oder einfach, wenn sie ihn ins Bett gebracht hatte. Ohne viel nachzudenken frage er Martin: „Kannst Du singen?“ „Was?“ Martins offener Gesichtsausdruck verschwand.

„Kennst Du Lieder? Kannst Du singen?“

Martin war verwirrt. Er pflegte Heinrich, übte mit ihm das Laufen, spielte Brettspiele mit ihm. Und jetzt sollte er auch noch singen? Wollte der Herr sich über ihn lustig machen? Martins Blick glitt suchend über Heinrichs Gesicht, aber da war keine Belustigung, kein Spott. Und auch wenn Spott dagewesen wäre, hätte Martin es einfach hinnehmen müssen.

Er zögerte kurz und meinte dann: „Ich kann nur ein paar einfach Lieder. Erntelieder, oder Lieder die die Frauen beim Spinnen und Kochen gesungen haben. Und ein Arbeitslied vom Müller. Ach ja, ein Lied über Schafe und…“ Er brach ab. Interessierte das Heinrich überhaupt? Der war ein adeliger Herr, vermutlich sangen die irgendwelche hochkomplizierten Lieder über wichtige Sachen wie Jagd oder Liebe oder Kirche. Vielleicht sogar auf Latein oder Französisch, beides konnte Martin nicht.

Heinrich sah ihn nur freundlich an und meinte dann: „Sing mir das Lied, dass Du am liebsten magst.“

Martin schluckte schwer. Er hatte seit vielen Jahren nicht mehr gesungen, und dass teilte er dem Herrn auch mit. Aber Heinrich bestand darauf, und so räusperte sich Martin und begann, ein Erntelied zu singen. Es war ein Lied, in dem es um das Ende des Sommers und den nahenden Winter ging. Es war Martins Lieblingslied, weil die Melodie ihn sehr berührte, er konnte auch nicht sagen, warum. Die ersten Takte des Liedes waren unsicher und wackelig, doch dann schloss Martin einfach die Augen, überließ sich der Erinnerung und sang.

Heinrich lauschte hingerissen. Es war ein einfaches Lied, aber etwas in der Melodie berührte ihn. Martin hatte eine schöne Singstimme. So wie er selbst auch.

Heinrich hatte immer gerne gesungen, aber sein Vater war der Meinung gewesen, dass Singen nichts für einen echten Kerl sei. Außer natürlich Sauflieder, die durfte Heinrich Zuhause singen. Er hätte gerne musiziert, gesungen, Streichpsalter gespielt. Oh, und Laute, so gerne hätte Heinrich das Lautenspiel erlernt, aber sein Vater hatte ihn nur ausgelacht. Ein echter Kerl spielt keine Laute, das war was für Pfaffen und Weiber, so hatte er immer gesagt. Und Heinrich hatte sich gefügt, weil der Vater sicher am besten beurteilen konnte, was einem Mann ziemte und was nicht. Nun aber wusste Heinrich, dass sein Vater ein Lügner gewesen war, und ein übler Schuft. Sein Vater hatte so unglaublich viel falsch gemacht, vielleicht war seine Meinung über Singen und Musizieren ja auch Unfug gewesen? Heinrichs Herz begann zu klopfen. Was, wenn er einfach Singen und Muszieren würde? Was, wenn er einfach das tat, was seine Seele begehrte? Ein dunkler Schatten legte sich auf seine Brust.

Nein, er konnte nicht einfach Singen und Musizieren. Er wäre dann kein echter Kerl mehr, sondern ein Weichei. Die Leute würden ihn verspotten und auf ihn herabschauen. Seine Freunde hätten sicher kein Verständnis für einen Laute spielenden Heinrich. Er wand sich. Sie würden in grölendes Gelächter ausbrechen, und es würde ihm das Herz brechen.

Martin endete sein Lied, und auf Heinrichs Kopfnicken hin begann er mit dem nächsten, einem Lied über die Müllerei. Wieder schloss Martin die Augen und Heinrich meinte, dass er ein Tränchen in Martins Augenwinkel gesehen hätte. Das Lied war sehr rhythmisch, es beschrieb im Kehrreim das sich drehende Wasserrad.

Heinrich hörte zu und bemerkte plötzlich, dass er mitsummte. Martin öffnete die Augen und sah ihn beim Singen an, anscheinend gefiel ihm das begleitende Summen. Immer, wenn der Kehrreim wiederkam, summte Heinrich mit und variierte Tonhöhe und Stimme. Es klang gut, auf Martins Gesicht erschien ein feines Lächeln. Heinrich hatte ihn noch nie lächeln sehen, und er war hingerissen: Es war das Lächeln seiner Mutter.

Ohne Aufforderung sang Martin noch ein Lied, und Heinrich sang mit. Er improvisierte einfach und summte und sang, wie er wollte. Es war so schön. Als Martin alle seine Lieder durchhatte, verstummte er wieder und das Lächeln verschwand. Heinrich wollte nicht, dass das Lächeln verschwand, und so setzte er an und sang eines der Lieder, das er kannte. Martin sah ihn aufmerksam an und versuchte dann, auch mitzusingen. Er konnte sogar noch besser improvisieren als Heinrich.

Martin fühlte sich wohl. Anscheinend wollte der Herr, dass sie zusammen sangen, und so gab er sich Mühe. Sie woben wundervolle Klangteppiche, und durch irgendeine unsichtbare Kraft schienen sie gleichzeitig kraftvoll oder leise zu singen und betonten die richtigen Stellen. Er hatte gar nicht gewusst, dass Heinrich so schön singen konnte, oder dass ein selbstsüchtiger, grausamer und gemeiner Mensch wie Heinrich überhaupt singen wollte. Sie harmonierten wunderbar zusammen. Als Heinrich französische Lieder sang, summte Martin einfach die Melodie mit, er verstand ohnehin nichts. Sie sprachen nicht, sie sangen zusammen, und jeder hing den eigenen Erinnerungen und Gedanken nach. Martin konnte sich nicht erinnern, hier je so einen schönen Nachmittag gehabt zu haben.

Das Abendessen wurde gebracht, und sie hörten auf. Heinrich ging ohne Hilfe zum Tisch und sie aßen zusammen, so wie immer die letzten Wochen. Nach einer Weile meinte Heinrich: „Du kannst schön singen, Martin. Wo hast du das gelernt?“

Gelernt? Martin wusste gar nicht, dass man singen lernen konnte, und so meinte er: „Nirgends. Meine Mutter hat viel gesungen und ich habe mitgesungen.“

Heinrich senkte den Kopf und starrte sein Abendessen an. Dann sagte er leise: „Meine Mutter hat auch viel mit mir gesungen. Sie war ein wundervoller Mensch. Und sie hatte eine wunderbare Stimme, vermutlich habe ich das von ihr geerbt.“ Er zögerte kurz und fügte dann hinzu: „Und Du auch.“

Heinrich schluckte hart. Er hatte das gefährliche Thema angesprochen. Wie Martin wohl reagieren würde? Er blickte auf und sah, dass Martin auch angestrengt sein Abendessen anstarrte, so wie er gerade noch. Vielleicht konnte die Suppe ja gute Ratschläge geben, wie man über schwierige Themen sprach?

Heinrich hatte viel gutzumachen und wusste nicht, wie das ging. In seiner Erziehung war es einfach nicht vorgekommen, dass man Verantwortung für Schuld übernahm. Beziehungsweise, dass man Verantwortung für Schuld gegenüber einem Menschen übernahm, der unter einem stand.

Wenn man jemanden beleidigte oder kränkte, der im Rang über einem stand, dann musste man alles tun und sich den Arsch aufreißen, um die Person zu versöhnen, ansonsten hatte man Ärger. Bei rangniederen Leuten hatte es nie eine Rolle gespielt. Mit denen konnte man alles tun, es sei denn, sie hätten einen wichtigen Fürsprecher gehabt. Das hatte Heinrich aber noch nie erlebt, also kümmerte es ihn auch nicht. Rangniedere Personen, und ganz besonders seine leibeigenen Bauern oder Dienstboten, mit denen konnte er machen, was er wollte.

Natürlich gab es Gesetze, die auch die Leibeigenen schützen sollten, aber wen kümmerten diese Gesetze? Es brauchte immer jemanden, der sie durchsetzte, aber der Graf hätte sicher nicht gegen Heinrich für einen Knecht oder Bauern geurteilt. Recht haben und Recht bekommen hatten so viel gemeinsam wie Tag und Nacht.

Es war das allererste Mal, dass er Schuld eingestehen und Verantwortung übernehmen musste für eine Person, die wehrlos war und alleine von Heinrichs Wohlwollen abhing. Wenn Heinrich nichts sagte und keine Entschuldigung anbot, so musste Martin das auch hinnehmen. Heinrich dachte kurz daran, es bleiben zu lassen. Er konnte freundlich zu Martin sein, bis der Mai anbrach, und ihn dann wie geplant mit einer gefüllten Reisegeldbörse wegschicken. Er musste keine Schuld eingestehen, keine Verantwortung übernehmen.

Zu seiner großen Verwunderung bemerkte Heinrich jedoch, dass er Martin gar nicht mehr wegschicken wollte. Er mochte ihn gern, vielleicht würde Martin ihn auch irgendwann mögen. Vielleicht könnte er tatsächlich sein Bruder sein?

Sehnsüchtig dachte Heinrich an früher. Er hatte eine Familie gehabt mit Eltern, Bruder, Schwester. Nun waren seine Eltern und der Bruder tot und die Schwester in Frankreich. Er gab es nicht gerne zu, aber er fühlte sich einsam. Er hatte zwar Gesellschaft, aber seine Seele war einsam. Da war niemand, mit dem er wirklich sprechen konnte. Seine Freunde Gottfried, Albrecht und Leonhard waren vor Weihnachten gegangen und seitdem nicht wiedergekommen. Vielleicht würden sie auch nicht wiederkommen, vielleicht dachten sie, Heinrich würde ein Krüppel bleiben.

Ein Krüppel. In Heinrich zog sich etwas schmerzhaft zusammen. Kämpfen würde er sicher nicht mehr können, aber vielleicht konnte er mit viel Glück wieder reiten und seinen Traum erfüllen. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber, wenn er eh ein Krüppel war, vielleicht konnte er ja dann doch singen und musizieren? Vielleicht störte es niemanden, wenn ein Krüppel sang? Niemand würde von ihm erwarten, ein echter Kerl zu sein. Aber Heinrich wollte ein echter Kerl sein. Er drehte sich mit seinen Gedanken im Kreis, es war zum Verzweifeln. Heinrich merkte, dass er abschweifte. Vor ihm saß Martin und starrte immer noch die Nachtsuppe an. Heinrich biss auf seinen Fingernägeln herum. Wie sollte er dieses Gespräch nur anfangen?

Plötzlich hob Martin den Kopf, die Maske aus Stein war wieder da. Er sagte: „Ihr könnt auch ganz wunderbar singen. Es war wirklich schön, mit Euch zu singen, vielen Dank.“

Martin dachte vermutlich, dass er nach Heinrichs Lob auch Lob schuldig war. Heinrich seufzte. Ein langer Weg lag vor ihnen, aber mittlerweile war Heinrich überzeugt, dass es wert war, den langen Weg zu gehen. Es war seltsam: Eigentlich hatte er Martin nur geholt, um er Langeweile zu entgehen, aus reinem Eigennutz. Martin würde ihn unterhalten und ihn pflegen, bis er wieder gesund war und dann gehen.

Heinrich erkannte, dass er ein Idiot war. So ging man nicht mit Menschen um, und mit einem Halbbruder, der aussah wie die Mutter, schon gar nicht. Heinrich erkannte, wie selbstsüchtig er gewesen war. Das fühlte sich nicht gut an und er wollte das ändern. Er musste nicht freundlich zu Martin sein, aber er wollte es. Manchmal dachte er darüber nach, wie er und sein Vater Martin behandelt hatten, was sie ihm alles angetan hatten. Er hatte immer gedacht, er wäre im Recht gewesen, es hätte ihm zugestanden, die Mutter zu rächen. Aber, so erkannte er jetzt, das war Unsinn gewesen. Selbst wenn Martin nicht sein Halbbruder wäre: er konnte für die Sache nichts. Er war damals noch ein Säugling gewesen, ein unschuldiges Kind.

Zuerst hatte Heinrich alles auf seinen Vater geschoben. Der hatte den Jungen schließlich geholt und Heinrich aufgehetzt. Ja, sein Vater war schuld. Irgendwann musste Heinrich jedoch einsehen, dass sein Vater seit Jahren tot war und er trotzdem weitergemacht hatte. Er war ein erwachsener Mann in einer Machtposition, der einen wehrlosen Jungen gequält hatte.

Männer wie er machten sich eigentlich nie Gedanken über solche Dinge. Gerade im Krieg wäre es fatal, sich Gedanken über all die wehrlosen und unschuldigen Menschen zu machen, die man tötete oder deren Haus man anzündete. Heinrich schauderte. So viele Kinder wurden zu Waisen, so viele Frauen zu Witwen, so viele Familien verloren Haus und Hof, so viele Männer starben oder wurde zu Krüppeln. Wenn die Ritter oder auch die anderen Kämpfer sich darüber Gedanken machen würden, dann würde doch kein Mensch mehr in den Krieg ziehen? Man musste das eigene Gewissen irgendwie ausschalten, oder besser noch: es gar nicht erst einschalten.

Mitgefühl mit dem Feind war der Anfang vom Ende, das ging einfach nicht im Krieg. Heinrich wusste: für ihn gab es kein Zurück mehr. Er hatte das Mitgefühl für Martin in sein Herz gelassen, er hatte zu Denken begonnen. Er konnte in keinen Krieg mehr ziehen, zumindest nicht in einen Krieg, der ihn gar nichts anging. Früher hatte er für irgendwelche Grafen, Herzöge, Könige gekämpft, für Lohn oder aus Loyalität. Er hatte also Leute getötet, die ihm nie etwas getan hatten, und es war ihm egal gewesen. Aber echte Kerle töteten Leute, und es war ihnen egal. Echte Kerle waren Draufgänger, mutige Kämpfer, ausdauernde Zecher, und natürlich stiegen sie ständig den Frauen hinterher.

Heinrich hatte immer ein echter Kerl sein wollen. Warum eigentlich? Er dachte nach. Eigentlich hatte er immer nur dem Vater zeigen wollen, dass er ein echter Kerl war. Der Vater sollte stolz auf ihn sein. Sein Vater, der immer sein Vorbild gewesen war, dem er es recht machen wollte.

Sein Vater, der Mörder und Lügner.

Heinrich bemerkte, dass er gerade nicht darüber nachdenken konnte, weil er sonst geweint hätte. Und weinen… das ging für einen echten Kerl gar nicht. Plötzlich musste er über sich selbst lachen, er war so ein Trottel.

Martin sah in verwundert an, er machte sich Sorgen. Erst war Heinrich nett zu ihm und wollte Brettspiele spielen. Dann wollte er singen. Und jetzt lachte er ohne Grund in sich hinein. Vielleicht hatte er doch zu viel Theriak abbekommen? Oder sein Kopf hatte Schaden genommen im Eisbach? Martin verbrachte seinen Arbeitstag mittlerweile ganz gerne in Heinrichs warmer Kammer, aber er war immer noch auf der Hut. Immer noch war er wachsam, um ja nichts falsch zu machen, immer noch achtete er stark drauf, was er sagte und tat. Besorgt betrachtete er den Herrn und wartete, was als Nächstes kommen würde.

Ja, was dann kam, war etwas, was Martin nie erwartet hätte.

Heinrich sah ihn nachdenklich an. Das Singen war so schön gewesen, das hatte er immer tun wollen. Aber er hatte es nie jemandem erzählen können. Niemand sollte ihn für ein Weichei halten. Sein Bruder, nein, sein Halbbruder da vor ihm sah ihn aufmerksam, fast schon besorgt an. Martin war seit Wochen für ihn da, stets dienstbereit, stets loyal. Heinrich erinnerte sich selbst daran, dass Martin keine Wahl hatte und das alles tun musste, und trotzdem war es Heinrich, als hätte er noch nie so einen treuen Weggefährten gehabt. Sicher würde Martin ihn nicht auslachen, wenn er ihm von seinen Träumen erzählte.

Er sah Martin nervös an, nestelte mit den Fingern an seinem Ärmel herum und begann: „Weißt Du, ich wollte immer schon singen und Musik machen. Am liebsten hätte ich Streichpsalter spielen gelernt, oder Laute. Ich wollte singen und musiziere, und mit Leuten leben, die mit mir musizieren. Ich wollte Freunde haben, die mit mir ausreiten, mit mir über ihre Anschauungen reden, und die mit mir singen. Das alles wollte ich. Und ich wollte Pferde züchten und zureiten.“

So, nun war es draußen. Es war ausgesprochen. Wie Martin wohl reagieren würde? Martin sah ihn nur an und schien zu warten. Sollte er noch etwas sagen? Ihm fiel nichts Gescheites ein und war auch still. Nach einiger Zeit fragte Martin:

„Und warum tut Ihr das alles dann nicht?“

„Hm?“

„Ihr seid ein freier Mann, und Ihr habt genug Geld. Warum musiziert Ihr nicht, und warum züchtet Ihr keine Pferde? Ihr braucht doch nur anzufangen?“

Gute Frage. An dieser Frage war Heinrich auch schon einige Male hängengeblieben. Er erklärte Martin, dass es einem Ritter nicht anstand, zu musizieren und mit irgendwelchen blutleeren Denkern über Weltanschauung und Religion zu sprechen. Und er erklärte, dass sein Vater die Pferdezucht aufgegeben hatte und er nicht so recht wusste, wie er wieder bei Null anfangen sollte. Seltsam, wie frei die Worte flossen, wenn man einmal angefangen hatte.

Martin schwieg, und Heinrich bemerkte, dass sein Halbbruder seine Begründungen anscheinend nicht halb so gut fand wie er selbst. Deswegen fragte er nach: „Und, was meinst Du dazu?“ Martin stand an einem Scheideweg. Sollte er wirklich sagen, was er dazu dachte? Anscheinend interessierte es den Herrn wirklich. Wollte er, dass Martin ihm uneingeschränkt Recht gab und ihm sagte, dass das alles nicht umsetzbar war? Oder vielleicht brauchte er einen Freund, der ihm in den Hintern trat? Aber was, wenn er dann wütend wurde? Anscheinend dachte er zu lange nach, den Heinrich hakte nach: „Nun? Was denkst Du? Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen, ich werde nicht wütend werden.“

Martin wurde rot. Anscheinend wusste Heinrich genau, was er dachte. Dann konnte er es genauso gut aussprechen. Vielleicht nicht ganz im Wortlaut, er musste höflich bleiben. „Wie gesagt, Ihr seid ein freier Mann. Wenn Ihr singen wollte, dann tut das. Wer soll es Euch verbieten? Wer soll Euch auslachen? Ihr könnt doch selbst beschließen, wen Ihr als Gast holt und wen nicht. Ihr könnt das alles selbst entscheiden. Und wenn Ihr Gäste habt, die nicht muszieren, dann braucht Ihr das doch vor denen nicht zu tun? Ihr könnt über Euer Leben selbst entscheiden, viele können das nicht.“ Martin senkte den Kopf und meinte leise: „Ich auch nicht.“

In diesem Moment wurde Heinrich klar, wie privilegiert er eigentlich war. Er konnte machen, was er wollte, nur seine eigenen seltsamen Wertevorstellungen hielten ihn davon ab. Das, und seine Faulheit. Die Pferdezucht würde viel Arbeit machen. Er konnte Fachleute anstellen, aber dann würde er ja auch wieder nur herumsitzen.

„Ich auch nicht“ hatte Martin gesagt und es hatte traurig geklungen. Er durfte nichts in seinem Leben selbst entscheiden. Ob Martin wohl auch Träume hatte? Oder irgendwann einmal gehabt hatte? Irgendwie war es Heinrich nie in den Sinn gekommen, dass leibeigene Dienstboten Träume haben könnten. Sie waren in Heinrichs Weltbild nur eine halbe Stufe über den Nutztieren gestanden. Dumm, verschlagen und faul, das waren die Ansichten des Vaters über die Knechte und Mägde gewesen. Aber er wusste ja nun, dass er Vater nicht unbedingt Recht gehabt hatte mit seinen Ansichten. Was, wenn das auch dummes Zeug war? Also fragte Heinrich: „Und Du? Wovon träumst Du?“

Martins Überraschung war deutlich zu sehen. Verwundert sah er Heinrich an, kaute auf seiner Unterlippe herum, öffnete den Mund – und schloss ihn wieder. Heinrich war neugierig und fragte nach. „Ja? Was wolltest Du sagen?“

Martin zögerte kurz und meinte dann: „Ich brauche nicht viel. Genug zu essen, einen warmen Platz im Winter und … und.“ Wieder brach er ab und starrte auf den Boden.

Heinrich wusste so ungefähr, was Martin hätte sagen wollen, aber das war für beide vermutlich nicht sehr angenehm. Keine Misshandlungen. Sicher war es das, aber besser, sie würden das Thema nicht anschneiden.

Sie schwiegen einige Momente, dann fragte Heinrich: „Und früher? Von was hast Du geträumt, als Du ein Junge warst?“ Er war gespannt, ob da irgendetwas war. Martin sah nicht so aus, als wenn er gerne darüber gesprochen hätte, aber was blieb ihm schon übrig? Also antwortete er pflichtschuldig:

„Ich wollte Müller werden. Oder …“

Er verstummte wieder. Heinrich hakte nach: „Oder?“

Ganz leise hauchte Martin: „Oder Mönch.“

„Mönch?“ Heinrich konnte es nicht fassen. „Warum Mönch?“ Martin zuckte die Schultern. Immer noch leise meinte er: „Na ja, Mönche lernen lesen und schreiben. Und Latein. Sie können die Heilige Schrift lesen und Texte über fremde Länder und die Ansichten von gescheiten Leuten studieren. Sie können malen und muszieren, und das hätte ich auch alles gerne gekonnt und gemacht.“

Heinrich war perplex. Das hatte er nicht erwartet. Man hatte ihn als Kind auch gezwungen, Latein zu lernen, aber für ihn war es eine Qual gewesen. Viele Ritter konnten gar nicht lesen und schreiben, aber seine Mutter hatte Wert daraufgelegt und der Vater später auch.

Anscheinend wusste Martin gar nicht, was er sich da wünschte. Lesen und schreiben war für den Alltag ganz nützlich, aber Latein? Außerdem: Malen und musizieren? Anscheinend war Martin genauso ein Weichei wie er selbst. Wieder musste Heinrich lachen. Sie waren schließlich Brüder, kein Wunder! Ihre Mutter hatte auch musiziert, gemalt, gestickt, und sie konnte tatsächlich Latein. Für eine Frau war das ganz beachtlich, vermutlich konnte sie das, weil sie in einem Kloster in Frankreich aufgewachsen war. Anscheinend war Martin seiner Mutter ziemlich ähnlich.

Heinrich hörte auf zu essen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sofort legte Martin auch den Löffel weg. Heinrich seufzte und aß weiter, damit Martin auch essen konnte und satt wurde. Während des Essens dachte er nach und fasste einen Entschluss. Er wollte dem neuen Halbbruder, der ihn so wunderbar pflegte, ein Geschenk machen. Vielleicht würde er ihn dann doch irgendwann mögen? Vielleicht würde er damit seine Schuld loswerden? Sie schoben das Geschirr zur Seite und Heinrich lehnte sich faul zurück. Martin beobachtete ihn, immer bereit, aufzuspringen und etwas für ihn zu tun.

Heinrich studierte sein Gegenüber und fragte sich gespannt, wie er wohl reagieren würde. Er begann: „Wenn Du willst, dann kannst Du lesen und schreiben lernen.“

Martin sah ihn nur wortlos an. Vielleicht hatte er nicht verstanden? Heinrich versuchte es erneut:

„Der Pfaffe kann Dir lesen und schreiben beibringen, oder ich übernehme das. Wir haben ja genug Zeit momentan.“

Immer noch kam keine Reaktion. Martin saß ganz still da und trug die Maske aus Stein.

Heinrich versuchte es ein drittes Mal: „Martin, hör zu: Wenn Du lesen und schreiben lernen magst, dann kannst Du das tun. Es ist ein Geschenk von mir. Der Pfaffe und ich können es Dir beibringen. Du kannst auch Latein lernen, wenn Du Dir das unbedingt antun willst. Und wir können zusammen singen, Bruder Alban kann gut singen und hat das auch richtig gelernt.“

Heinrich hatte nicht vorgehabt, das gemeinsame Singen mit Bruder Alban anzusprechen, aber es war einfach so mit herausgekommen. Martin regte sich. Er hatte große Augen und kaute wieder auf seiner Unterlippe herum, wie so oft. Heinrich wurde langsam ungeduldig und bot noch an: „Wenn Du magst, kannst Du morgen anfangen.“

Martin verkrampfte sich, als er fragte: „Warum? Warum wollt Ihr, dass ich lesen und schreiben lerne?“

Heinrich verstand nicht. „Aber Du wolltest doch lesen und schreiben lernen? Das ist ein Geschenk von mir. Eine Belohnung, weil Du mich so gut pflegst.“

Heinrich wartete nun auf eine Reaktion, doch Martin schwieg. Anscheinend konnte er sich nicht vorstellen, dass Heinrich ihm einfach nur irgendetwas Gutes tat, ohne Hintergedanken. Die Stille wurde unbehaglich, Martin bemerkte das sicher auch, denn er antwortete verlegen: „Ich würde gerne lesen und schreiben lernen. Und Latein.“ Angespannt sah er Heinrich an. Heinrich lächelte und meinte: „Abgemacht. Morgen fängst Du an. Schickst Du mir den Pfaffen gleich noch her, wenn Du gehst?“

Martin verstand den Wink. Er wünschte eine gute Nacht und ging. Das benutzte Geschirr würde nachher irgendeine der Mägde holen. Martin suchten Bruder Alban und fand ihn in seiner Kammer. Mit klopfendem Herzen sah er sich um. Überall waren Pergamentrollen und sogar einige Bücher standen herum. Es gab einen Schreibtisch und ein Lesepult, und noch einige Gerätschaften, von denen Martin gar nicht wusste, was sie waren. In einer Ecke stand eine kleine Harfe, daneben lag eine Flöte. Pflichtschuldig richtete Martin dem Priester aus, dass der Herr ihn zu sehen wünschte, und ging wieder.

Ob er wohl wirklich lesen und schreiben lernen dufte?

Der Seele tiefer Grund

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