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ОглавлениеKapitel 7: Nähe
Zögerlich vertraute er sich Martin an, wie so oft in letzter Zeit. Martin hörte immer zu, ohne zu unterbrechen, Martins Rat hatte meistens Hand und Fuß, und vor allem wusste Heinrich, dass Martin niemals hinter seinem Rücken schlecht über ihn sprechen oder lachen würde. Er wusste das einfach, und es war ein gutes Gefühl. Bei seinen alten Freunden war er sich da nicht so sicher. Vermutlich war er an so manchem kalten Winterabend großer Anlass für Heiterkeit und Gelächter gewesen mit seinem Unfall. Die Geschichte mit dem Nachttopf an der Wand hatte bestimmt die Runde gemacht. Heinrich spürte, dass er seinen Freunden vieles von dem, was er wirklich dachte, nicht anvertrauen konnte. Er konnte ihnen nicht erzählen, dass er nicht immer der große Kämpfer, Säufer und Held war, sondern tief in sich drin seine Mutter jämmerlich vermisste, Laute spielen wollte und Angst vor der Zukunft hatte.
An einem Nachmittag Anfang März erzählte er also Martin von seiner Angst, wieder auf ein Pferd zu steigen. Scheu vertraute er ihm an, dass er Angst davor hatte, gar nie mehr reiten zu können und dass das seine Träume zunichtemachen würde. Martin war pragmatisch, wie immer. Manchmal war er erstaunt, wie ein so großer und mächtiger Kerl wie Heinrich Angst vor den banalsten Dingen hatte. Er fragte:
„Gibt es denn irgendeinen Grund dafür zu denken, dass Ihr nicht mehr reiten könnt?“
Heinrich sah ihn mit großen Augen an: „Nun ja, ich habe mir das Bein gebrochen.“
„Das Bein ist verheilt. Ihr könnt sogar schon wieder ohne Stock laufen.“
„Ja, aber Reiten ist was anderes.“
Martin wollte gerne seufzen und die Augen verdrehen, aber er wagte es dann doch nicht. Immer noch konnte Heinrich ihn aus einer Laune heraus zerstören. Also musste er diplomatisch sein. „Ich denke, Ihr könnt reiten. Ihr müsst ja nicht gleich mit Galopp oder einem Tagesritt anfangen.“
Heinrich schwieg. Martin hatte Recht, er konnte langsam anfangen. Aber wollte er das? Er war ein großartiger Reiter gewesen, und sollte jetzt wieder bei Null anfangen. Außerdem… Heinrich schauderte.
Martin hatte sein Mienenspiel beobachtet und sprach seine Vermutung aus, bevor sein Gehirn irgendetwas dagegen tun konnte:
Ihr habt Angst, dass Euer Pferd wieder durchgeht und Ihr wieder einen Unfall habt.“
Heinrich sah ihn stumm an, und Martin wurde nervös. Vielleicht hätte er das doch nicht sagen sollen?
Doch Heinrich nickte nur und meinte dann: „Ja, vielleicht. Es war schlimm, ich wäre fast gestorben. In der Ausbildung haben wir gelernt, wenn man vom Pferd fällt, soll man wieder aufsteigen, und wenn man im Kampf verletzt wird, soll man gleich weiterkämpfen. Man soll gleich weitermachen, damit die Angst im Kopf nicht so groß wird. Aber mein Unfall ist drei Monate her, und ich bin ja gar nicht vom Pferd gefallen. Mein Pferd ist einfach weggeschliddert, ich konnte nichts tun.“
Dann senkte er den Kopf und sprach ganz leise etwas aus, das eigentlich unerhört war: „Ja, ich habe Angst.“ Er war ein Ritter, ein adeliger Herr, ein Krieger, ein Haudrauf. Und er hatte Angst.
Vor Kriegen hatte man auch Angst, aber Heinrich hätte das nie im Leben zugegeben. Das Kämpfen im Krieg war wie ein Rausch, der Gefühle wie Angst betäubte. Oder man trank viel Wein, da verging die Angst auch. Zuzugeben, dass er Angst hatte, das war für Heinrich neu. Und noch dazu vor einem Dienstboten. Nein. Heinrich schüttelte den Kopf und zwang sich, an Martin nicht als Dienstbote zu denken, sondern als Halbbruder. Sie spielten zusammen Brettspiele, sie sangen zusammen, Martin war ständig bei ihm. Bei ihm waren Heinrichs tiefe Geheimnisse gut aufgehoben, da war er sich sicher. Heinrich hätte seine große Schuld einfach gerne weggezaubert, aber das ging nicht. Er würde weiterhin freundlich zu Martin sein, und irgendwann würde der ihn sicher auch mögen, als Freund oder sogar als Bruder.
Sie schwiegen eine Weile, dann meinte Martin: „Ihr solltet einfach morgen anfangen.“
„Was?“
Martin wiederholte ganz langsam, wie für einen Dummkopf: „Anfangen. Morgen.“
Heinrichs Atem ging stoßweise. Morgen schon. Morgen ging nicht, das musste Martin doch einsehen. „Weißt Du Martin, morgen geht nicht.“
„Nein? Warum?“
„Weil, hm, weil ich gar nicht weiß, ob die Pferde frei sind oder gebraucht werden.“
Martin konnte ein genervtes Schnauben nicht unterdrücken. Doch er fasste sich und erklärte geduldig: „Eure Pferde sind teure Reitpferde. Niemand würde sie zur Arbeit verwenden.“
Heinrich gab sich nicht geschlagen: „Aber vielleicht will jemand ausreiten? Der Verwalter, oder jemand der Wache. Oder eines der Weiber, die Einkäufe erledigen müssen.“
Martin zog eine Augenbraue hoch und schüttelte den Kopf. „Nein. Niemand würde Eure Pferde nehmen. Wir können morgen nach dem Mittagessen anfangen.“
„Wir? Hilfst Du mir?“
Martin war verlegen, er hatte tatsächlich „wir“ gesagt. Er erklärte: „Ich verstehe nichts vom Reiten. Ich kann nur dabeistehen und das Pferd festhalten. Aber ich kann gerne mitkommen, wenn Ihr das möchtet.“
Heinrich nickte. Martin hatte ihn schon einmal gerettet. Wenn er dabei war, würde es vielleicht nicht so schlimm werden.
Und so führte am nächsten Tag Martin das Pferd heraus. Heinrich streichelte Alba, putzte sie selbst, fütterte sie mit Karotten und Apfelschnitzen. Dann sattelte Martin das Pferd. Satteln konnte er, er war schließlich ein Stallknecht. Heinrich führte sein Pferd auf den Sandplatz. Gottlob war der Schnee schon weg und der Boden war auch nicht gefroren. Auf Schnee wäre Heinrich sicher nicht geritten, vor allem nicht nach dem blöden Unfall im Dezember.
Martin verschränke die Hände, damit Heinrich aufsteigen konnte. Gut, dass er sich sein rechtes Bein gebrochen hatte und nicht das Linke. Er stieg also mit dem linken Bein in Martins verschränkte Hände und drückte sich hoch. Martin schob von unten, und Heinrich saß im Sattel. Vorsichtig drückte er das Bein an sein Pferd und stellte erleichtert fest, dass es nicht weh tat. Martin nahm die Zügel und lief los. Langsam führte er das Pferd eine Runde nach der anderen. Dann blieb er stehen und reichte Heinrich die Zügel. Heinrich sah ihn flehentlich an, doch Martin hielt ihm weiterhin die Zügel hin. Wenn Heinrich ihm befehlen würde, ihn weiterzuführen, dann würde Martin das natürlich tun. Er hoffte jedoch, dass Heinrich einfach die Zügel nehmen und weiterreiten würde.
Heinrich zögerte. Martin schlug vor: „Ihr nehmt die Zügel und ich nehme das Halfter.“
Heinrich nickte und wieder ritten sie ein paar Runden. Martin hielt das Pferd am Halfter, und nach drei Runden meinte er. „So, ich lasse das Halfter los und gehe aber neben Euch her.“ Heinrich nickte wieder, er war blass.
Sie liefen los. Martin ging direkt neben dem Pferd, bereit, jederzeit einzugreifen. Aber nichts passierte, es ging alles gut. Heinrich schien sich zu entspannen. Das Reiten hatte sich in seinem Kopf zu einem riesigen Problem aufgebaut und dafür gesorgt, dass sich sein Magen zusammenzog, wenn er nur daran dachte.
Aber es war schön. Heinrich hob den Kopf und genoss den Frühlingswind, der ihm sanft um die Ohren blies. Er ritt einige Runden auf Alba und begann, sie zu lenken. Sie übten stehenbleiben, rückwärtsgehen, durch die Bahn wechseln. Es machte ihm riesige Freude, und zum Schluss trabte er noch mit ihr, allerdings nur eine Runde. Sein Bein begann, aufzumucken und zu schmerzen. Der frisch zusammengewachsene Knochen und die große Narbe brauchten wohl noch ein bisschen, um sich an das Reiten zu gewöhnen.
Strahlend stieg Heinrich ab. Oder, besser gesagt: er glitt wie ein Sack vom Pferd und Martin fing ihn auf. Hinkend führte er Alba zurück und übergab sie dann an Martin, der sie versorgte. Heinrich sah zu, und dann gingen sie zusammen zurück ins Warme.
In seiner Kammer sank Heinrich glücklich in seinen Sessel, froh, nicht mehr stehen zu müssen. Auf seinen Wink hin setzte Martin sich ebenfalls. Er war auch froh, allerdings hauptsächlich darüber, dass nichts passiert war. Heinrich sah ihn zufrieden an und meinte dann: „Danke, Martin. Danke, dass Du mich gezwungen hast und danke, dass Du da warst. Das hat viel geholfen.“
Martin lächelte ihn scheu an, was nur sehr selten vorkam.
Allerdings verschwand das Lächeln wieder, als Heinrich verkündete: „Und morgen bist Du dran mit Reiten.“
„Was?“
„Ab morgen bringe ich Dir das Reiten bei.“
Martin wand sich. Er war noch nie geritten, und das sagte er dann auch. Heinrich erklärte ihm, dass sie zusammen ausreiten könnten und wie schön es doch wäre, Dinge zu unternehmen. Martin überlegte einige Momente und fragte dann: „Warum wollt Ihr mit mir ausreiten? Warum wollte Ihr mit mir Dinge unternehmen?“
Heinrich sog scharf die Luft ein. Sollte er Martin nun sagen, warum er so freundlich war? Sollte er das Thema endlich ansprechen? Am liebsten hätte er sich in seinem Bett verkrochen. Heinrich fehlte der Mut. Sicherlich würde er um Verzeihung bitten müssen, und das hatte er noch nie getan. Einen ranghöheren Mann noch nicht, und einen leibeigenen Knecht schon gleich gar nicht. Wie es sich wohl anfühlte, um Verzeihung zu bitten? Ob es sehr demütigend war? Und was, wenn Martin ablehnte?
Heinrich stellte es sich furchtbar vor, jemanden um Verzeihung zu bitten und dann abgewiesen zu werden. Vielleicht musste er ja gar nicht bitten. Vielleicht könnten sie reden, beschließen Brüder zu sein und alles wäre gut. Er scheute dieses Gespräch wie der Teufel das Weihwasser. Er würde mit Martin darüber sprechen müssen. Irgendwann. Aber nicht heute, am Tag seines Erfolges: Er war wieder geritten, und sein Herz jubelte.
Die nächsten Tage waren sehr ausgefüllt für Heinrich. Er besprach sich des Morgens mit dem Verwalter, ritt nachmittags auf dem Platz, während Martin danebenstand, und er brachte Martin das Reiten bei. Martin stellte sich leidlich an, aber ein wirklich guter Reiter würde er wohl leider nicht werden. Aber vielleicht würde es ausreichen, dass sie ausreiten könnten. Sie verbrachten täglich sicher zwei bis drei Stunden draußen, dann zogen sie sich in Heinrichs Kammer zurück und spielten Brettspiele, meistens Schach, bis des Abends Bruder Alban kam. Dann wurde gesungen.
Heinrich war glücklich. Er bemerkte, dass er seine Freunde überhaupt nicht vermisste, sein Leben war sehr erfüllt gerade. Das Reiten ging immer besser. Vielleicht konnte er ja doch wieder Pferde bereiten. Martin würde keine große Hilfe sein, aber vielleicht könnte ja einer seiner Freunde mitmachen, die waren alle exzellente Reiter.
Ein schöner und erfüllter März ging zu Ende. Heinrich und Martin wagten sich an die ersten Ausritte. Erst waren es nur kleine Runden, quasi vor das Tor und zurück. Dann wurden die Ausritte täglich länger, bis sie Mitte April schließlich bis zum See ritten. Martin ritt einigermaßen passabel, aber die schnellen Rennen, die er sich mit Veit und später seinen Freunden geliefert hatte, diese schnellen Rennen waren mit Martin nicht möglich. Er war sehr vorsichtig auf dem Pferd und raste nicht jubelnd und schreiend den Weg entlang. Überhaupt war Martin sehr vorsichtig. Heinrich war überzeugt, dass sie mittlerweile Freunde waren und Martin ihn ganz gut leiden konnte, und doch war Martin immer vorsichtig mit dem was er tat und sagte. Er war eher still, und doch konnte man mit ihm eine gute Zeit haben. Die Zeit mit Martin und später am Abend dann mit Alban war so ganz anders als alles, was er davor mit seinen alten Freunden erlebt hatte. Da war keine Prahlerei, kein Besäufnis, keine Hurerei. Es waren Treffen mit freundlichen, nüchternen Leuten, mit denen er gerne zusammen war. Es waren ehrliche Treffen. Er hatte mit Martin so manches besprechen können, was er mit seinen Freunden nie so ehrlich besprochen hätte. Und doch: das eine große Thema, seine Schuld, das mied er. Irgendwann würde er es ansprechen, aber nicht jetzt. Jetzt war alles gut so, wie es war.
Auch der April näherte sich seinem Ende zu, und Martin wurde merklich stiller. Er zog sich in sich selbst zurück und begann, wieder öfter auf den Boden zu schauen, wenn er mit Heinrich sprach. Erst dachte Heinrich, Martin würde über irgendwelche verworrenen Theorien von Albans verehrten Theologen nachdenken, aber nach ein paar Tagen kam er zum Schluss, dass Martin wegen irgendetwas beunruhigt war. In der letzten Zeit hatte Martin sich mit ihm unterhalten, sogar einige Male selbst ein Gespräch angefangen. Nun wurden die Unterhaltungen wieder sehr einsilbig und einseitig. Irgendetwas war. Heinrich wartete ab, ob Martin ihn ins Vertrauen ziehen würde, aber nichts geschah. Also fragte er nach ein paar Tagen einfach: „Martin, was ist los mit Dir? Du wirkst besorgt und traurig?“
Martin sah ihn erschrocken an. Seine Augen waren groß, und wie so oft, wenn er nervös war, biss er auf seiner Unterlippe herum. Er meinte: „Nein, es ist nichts, ich denke nur nach.“
Heinrich war nicht überzeugt. „Und über was denkst Du nach?“ „Über… nichts.“ Martin sah ihn flehentlich an. Anscheinend wollte er nicht darüber sprechen.
Doch Heinrich ließ nicht locker. Nun konnte er seinem Halbbruder zeigen, dass er ihm helfen würde, und dass Martin ihm vertrauen konnte. Er hakte nach: „Nun?“
Martin starrte seine Fußspitzen an. Er zögerte, doch dann begann er: „Bruder Alban hat mir den Kalender erklärt, und wir haben geübt. In zwei Tagen ist der Geburtstag Eurer Mutter.“
Heinrichs Herz zog sich zusammen. Das hatte er ganz vergessen, weil seine Tage so voll waren. Nachdenklich ruhte sein Blick auf seinem Halbbruder, der nun zusammengesunken dasaß. Er hatte Martin viel schikaniert, und sich aber die letzten Jahre damit „begnügt“, ihn am Sonntag hungern und arbeiten zu lassen, und ihm am Geburtstag und Todestag seiner Mutter auf dem Friedhof an ihrem Grab vor allen Leuten des Gutes auszupeitschen. Das war seine Rache gewesen, und er hatte sein Recht dazu nie in Frage gestellt.
Seine Mutter hatte ihren Geburtstag Ende April, und gestorben war sie Anfang Juli. Nicht, dass Heinrich den Kalender lesen könnte. Der jeweilige Pfaffe musste ihn an die Jahrestage erinnern, meistens am Tag vorher. Heinrichs Herz zog sich noch mehr zusammen, als ihm klar wurde, dass Martin offensichtlich nicht davon ausging, dass die Dinge dieses Jahr anders sein würden.
Anscheinend hatte er das große Gespräch zu lange hinausgezögert. Was sollte er nun sagen? Wie sollte er anfangen? Er könnte um Verzeihung bitten. Trotzdem würde er aber erklären müssen, wofür. Er könnte Martin in die Arme schließen und ihn als Bruder willkommen heißen. Irgendwie fühlte sich das jedoch falsch an. Er könnte ihm sagen, dass er nichts zu befürchten hatte, und es gar nicht erklären. Doch Heinrich sah, dass Martin Angst hatte, und er fühlte sich schäbig.
Er könnte Martin einfach erzählen, dass er das große Geheimnis nicht gekannt hatte. Das fühlte sich irgendwie am Besten an, also tat er es Martin nach und starrte auf seine Fußspitzen, und begann:
„Weißt Du, mein Vater hat mir immer erzählt, dass meine Mutter sich das Leben genommen hat. Er hat mir erzählt, dass sie schwanger geworden ist von den Entführern und sich wegen der Schande das Leben genommen hat. Das habe ich geglaubt, und ich war entsetzlich wütend auf die Leute, die mir meine Mutter genommen haben. Im Januar hat mir der Verwalter erzählt, dass… dass.“
Heinrich hielt inne. Nein, er würde nicht weinen. Verzweifelt schaute er nach oben an die Decke und knetete seine Finger. Heinrich bemerkte, dass sein Halbbruder ihn ansah. Ihre Blicke trafen sich und Heinrichs Mut sank. Martins blaue Augen waren aus Eis, sein Gesicht aus Stein.
Also doch wieder die Fußspitzen, die waren gnädiger. Er richtete seinen Blick auf seine Schuhe und fuhr fort: „Der Verwalter hat mir im Januar erzählt, dass meine Mutter das Kind geboren hat und gestorben ist, um es zu schützen. Er hat mir gesagt, dass mein Vater meine Mutter getötet hat, und dass Du mein Halbbruder bist.“ Heinrich war erschöpft. Endlich war es ausgesprochen. Sie schwiegen eine Zeitlang, dann fragte Martin:
„Ihr habt das nicht gewusst?“
Heinrich schüttelte den Kopf, dann fragte er: „Hast Du mich deswegen aus dem Eisbach gerettet? Weil Du mein Halbbruder bist?“
Martin überlegte kurz und meinte:
„Nein. Niemand sollte im Eis erfrieren.“
Und niemand sollte hungern oder ohne Grund gequält werden, fügte Heinrich in Gedanken hinzu. Er sah Martin ins Gesicht und flüsterte: „Mein Vater war ein Mörder. Er hat … Deine Familie getötet.“
Martin nickte nur leicht. Heinrich musterte ihn verzagt. Wenn sein Gesicht doch nur weicher werden würde, wenn er doch nur lächeln und sagen würde, dass alles in Ordnung war, dass sie Freunde waren. Aber er sagte es nicht, Heinrich würde also den bitteren Weg zu Ende gehen müssen.
Er schloss die Augen und fuhr fort: „Mein Vater hat meine Mutter getötet und Deine Familie. Er hat Dich gequält, und…“. Heinrich holte tief Luft und ließ endlich das raus, was ihm auf der Seele lag: „Und ich habe mitgemacht. Ich habe Dich auch gequält und geschlagen, und Dich hungern lassen. Ich habe nicht gewusst, dass Du mein Halbbruder bist.“
Endlich sprach Martin auch. Ernst meinte er: „Es ist falsch, einen unschuldigen Menschen zu quälen, ganz gleich, ob Halbbruder oder nicht.“
Heinrich sah ihn erstaunt an. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Martin nahm seinen ganzen Mut zusammen und fügte hinzu: „Es gibt viele Leute hier, die für irgendwas büßen, obwohl sie nichts gemacht haben, oder zu mindestens nichts wirklich Schlimmes.“
Nervös rutschte Heinrich auf seinem Armstuhl herum. Vermutlich hatte Martin Recht, vermutlich war das so, aber er wollte jetzt nicht darüber reden. Jetzt war Martin dran.
Heinrich wollte das hier unbedingt zu Ende bringen, also meinte er: „Ich habe das alles nicht gewusst, und ich habe wohl alles falsch gemacht. Aber seit ich weiß, was wirklich passiert ist, habe ich mir Mühe gegeben, freundlich zu Dir zu sein. Ich würde all das gerne wieder gut machen. Du kannst gerne mein Freund sein, oder mein Bruder. Dir wird nichts Schlimmes geschehen. Übermorgen nicht, und im Juli an ihrem Todestag auch nicht.“
Es fehlte noch etwas, aber den fehlenden letzten Satz schob Heinrich vor sich her, es war zu hart. Konnte er sich so demütigen? Vielleicht reichte das, was er gesagt hatte, ja schon aus? Er riskierte er einen Blick auf Martins Gesicht. Es war viel weicher also vorhin, Martin sah plötzlich so jung aus, fast wie ein Kind. Das Eis in Martins Augen war verschwunden, viel mehr war sein Blick jetzt eher verwundert, oder vielleicht sogar hoffnungsvoll? Heinrich konnte den Blick nicht wirklich deuten. Martins Gesicht war ohne Maske, ohne Stein, ohne Eis, sehr offen und sehr weich.
Heinrich wusste, dass es jetzt sein musste, jetzt gleich. Er seufzte, zwang sich, den Halbbruder anzusehen und versuchte, zu sprechen. Es kam nur ein Krächzen heraus, und gegen seinen Willen musste Heinrich lachen. Anscheinend kämpfte alles in ihm gegen das, was er jetzt tun musste, auch seine Stimme. Er nahm einen Schluck Milch und schenkte auch seinem Halbbruder einen Becher voll ein. Er reichte ihm den Becher und Martin nahm ihn verwundert. Was der Herr Heinrich nur hatte? Er hatte schon so viel gesagt, mehr als Martin je für möglich gehalten hatte. Was konnte nun noch kommen? Er sah Heinrich zu, wie der in seinem Lehnstuhl herumzappelte. Schließlich schlossen sich Heinrichs Finger fest um die Armlehnen und er schaute Martin wild entschlossen an. Er begann:
„Mein Vater…“ und hörte wieder auf. Nein, sein Vater war tot. Er versuchte es erneut: „Ich habe Dir großes Unrecht getan, und es tut mir leid. Ich bitte Dich um Vergebung.“
Nun war es draußen, und Heinrich war froh. Es war gar nicht so schlimm gewesen.
Dann war er still. Martin konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Heinrich hatte sich entschuldigt, um Vergebung gebeten? Er wusste nicht so recht, was er jetzt sagen sollte, also nickte er nur. Heinrich entspannte sich. Martin hatte genickt, das war sicher ein gutes Zeichen. Er war froh, dass sie jetzt nicht viel reden mussten, er mochte emotionale Reden überhaupt nicht. Er hatte um Verzeihung gebeten, und Martin konnte das jetzt annehmen oder nicht. Er hatte es tatsächlich geschafft, und es fühlte sich gut an. Er hatte seinen Teil getan, und den Rest konnte er nicht beeinflussen. Heinrich hoffte natürlich, dass Martin seine Entschuldigung annehmen und sein Bruder sein würde. Heute, morgen, irgendwann, das spielte eigentlich keine Rolle.
Lange sprach niemand, und dann hatte Heinrich eine Idee: „Übermorgen gehen wir zusammen zum Grab meiner Mutter, wenn Du willst.“
Martin spürte, wie er sich verkrampfte. Er sollte mit zum Grab von Heinrichs Mutter? Was sollte er dort? Er war so oft neben dem Grab an einen Pfahl gefesselt gestanden und grausam geschlagen worden, er befürchtete, dass ihn die Erinnerungen übermannen würden.
Und doch, vermutlich war das Heinrichs ausgestreckte Hand, seine Einladung, tatsächlich ein Bruder zu sein. Und immerhin Heinrichs Mutter ja tatsächlich seine eigene Geburtsmutter gewesen, sie war sogar gestorben, um ihn zu schützen. Martin seufzte. Wenn sie ihn doch nur als Säugling Heinrichs Vater übergeben hätte, soviel Leid und Elend wäre ihm erspart geblieben. Und doch, sie war gestorben für ihn und sein Leben wurde momentan viel besser, als er es sich je erträumt hatte. Wieder nickte er. Er war nicht sicher, ob es das Richtige war, aber er hatte das Gefühl, das tun zu müssen. Die letzten Wochen hatte Martin geübt, Schönheit und Glück in Dingen und Situationen zu sehen und zu spüren. Vielleicht würde ihm das am Friedhof auch wieder gelingen?
Zwei Tage später besuchten sie gemeinsam in der Früh die Messe, die Bruder Alban für Heinrichs Mutter hielt. Martin hielt den Kopf gesenkt, als er neben Heinrich nach vorne zu den Sitzen für die Familie von Rabenegg ging. Er wollte nicht die Leute anschauen, die ihn sicher anstarrten. Gewiss, sie alle hatten mitbekommen, dass er viel Zeit mit Heinrich verbrachte und ihm half, aber vermutlich hätte niemand auch nur im Ansatz geglaubt, dass die beiden hier als Brüder zur Kirche kommen würden. Es fühlte sich seltsam an. Die letzten Jahre hatte er an einen Pfahl gefesselt gewartet, bis die Messe vorbei war. Und nun saß er neben Heinrich auf einer edel gestalteten Bank für die Familienangehörigen, während das Gesinde stand oder auf dem Boden kniete. Spätestens jetzt musste es allen klar sein, dass sich etwas massiv geändert hatte. Niemand hatte dem Gesinde verraten, dass Heinrich und Martin zusammen Brettspiele spielten und sangen, und dass Martin Unterricht bekam.
Sicherlich würde das alles das große Klatschthema die nächsten Tage sein.
Nach der Messe gingen alle auf den Friedhof und Heinrich verteilte vor der Kapellentür kleine Honigkuchen, wie er es immer zu den Jahrtagen seiner Mutter tat. Er verteilte Honigkuchen mit der Auflage an alle, für seine Familie zu beten.
Martin drückte sich hinter ihm in ein Eck in der Mauer. Als die Leute wieder an ihrer Arbeit waren, ging er mit Heinrich weiter. Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch betrat er den Friedhof neben der Kapelle. Die letzten Male, als er hier gewesen war, hatte Heinrich ihn vor dem Grab ausgepeitscht und ihn dann im Dreck liegen lassen. Dieses Mal gingen sie zusammen, nebeneinander. Martin wusste immer noch nicht so recht, was er davon halten sollte. Die Frau im Grab, Heinrichs Mutter, war nicht seine Mutter. Seine Mutter war die Müllerin gewesen. Trotzdem war es sehr freundlich von Heinrich, ihn mitzunehmen, es war etwas sehr Privates, Intimes. Es war Heinrichs Friedensangebot, seine ausgestreckte Hand. Martin hoffte, dass er das Ganze nicht ruinieren würde durch ein falsches Wort, eine falsche Geste, durch zu viel Gefühl oder auch durch zu wenig.
Sein Herz klopfte, als sie zu dem Grab kamen. Alte Erinnerungen stiegen an ihm hoch. Er sah den Pfahl, an den sie ihn immer gebunden hatten und die Panik stieg in ihm hoch. Weglaufen ging nicht, diesen Instinkt hatten sie gründlich ausgelöscht in ihm. Weglaufen wäre eine natürliche Reaktion gewesen, aber er konnte nicht. Ein Hund, der viele Jahre an der Kette gelegen hatte, würde vermutlich auch nicht weglaufen, so dachte Martin bitter.
Martin fühlte, wie er erstarrte, so wie er es schon oft getan hatte. In dieser Starre konnte man nicht rennen und nichts Gescheites reden, aber zumindest trafen einen die nachfolgenden schlimmen Dinge nicht so hart. Martin wusste nicht so richtig, auf was genau er wartete, aber nichts passierte. Keine harten Worte, keine Schläge. Er atmete tief durch und versuchte, den Ort hier bewusst wahrzunehmen und auf die Schönheit zu achten, wie er es sich vorgenommen hatte. Er würde die Schönheit sehen und damit das Grauen in seiner Seele überschreiben.
Martin blickte sich um. Eigentlich war der Friedhof sogar ein wunderschöner Ort. Er betrachtete den knospenden Haselstrauch und versuchte, ihn in seiner ganzen Schönheit wahrzunehmen. Martin lächelte. Er musste an die vielen Geschichten denken, die seine Mutter ihm über den heiligen Haselstrauch erzählt hatte, und natürlich über den Holunder. Er sah sich um, ob er wohl auch einen Holunderbusch gab, und natürlich wurde er fündig. Der heilige Baum der Frau Holle. Seine Mutter hatte gewusst, wie man Krankheitsgeister in den Holunder bannen konnte. Viele Gebrechen gab es, gegen die man nichts tun konnte, für die es keine Erklärung und auch kein Heilmittel gab. Seine Mutter hatte, meistens heimlich, die Krankheitsgeister mit rot gefärbten Wollfäden bei abnehmendem Mond in den Holunder gebannt. Natürlich durfte man dann den Holunder nicht einfach schneiden, es hätte die Krankheiten freigesetzt. Sie hatte mit den Haselstecken auch behexte Rinder entzaubert oder Frauen damit behandelt, die sich ein Kindlein wünschten.
Die Leute hatten sie eine Lachsnerin geheißen, aber sie hatte das nicht so gerne gehört. Die Leute gingen zu weisen Frauen und ließen sich helfen, bezahlten auch für die Dienste, aber wenn etwas Ungutes geschah, waren oft die Lachsnerinnen diejenigen, die als erstes verdächtigt wurden. Wenn Vieh krank wurde und starb, wenn ein Mann impotent oder eine Frau unfruchtbar war, wenn es Unwetter gab oder eine Seuche ausbrach oder ein Kind missgebildet zur Welt kam, dann brauchten die Leute immer jemanden, der schuld war. Und oft waren es dann die weisen Frauen, oder einfach Menschen, die anders waren. Wenn etwas passierte, was sich die Leute nicht erklären konnten, dann brauchten sie jemanden, den sie dafür verantwortlich machen und strafen konnten, um ihre eigene Angst zu beruhigen. Das war schon immer so gewesen und würde wohl auch immer so bleiben, dessen war sich Martin sicher. Seine Mutter hatte ihr Tun deswegen immer bedeckt gehalten. Genutzt hatte es ihr auch nichts, Heinrichs Vater hatte sie trotzdem getötet, weil sie das falsche Kind großgezogen hatte. So viel Unrecht war geschehen, und er konnte nichts dagegen tun.
Martin ertappte sich dabei, dass er wieder über alten Kummer nachdachte. So würde er seine Seele nie überschreiben können. Er dachte wieder an die Heilkünste seiner Mutter und ihre Kenntnisse der alten Bräuche und des alten Wissens und bemerkte, wie sein Herz zog.
Natürlich würde er Bruder Alban davon nichts erzählen, der würde das sicher nicht verstehen. Für ihn war der Haselstrauch etwas Anrüchiges, eine Pflanze, die die Wollust anregte und zur Sünde verführte. Wenn es nach Alban ginge, würden keinerlei Pflanzen mehr auf Rabenegg gedeihen, die in irgendeiner Form heilten oder mit denen die Leute alten Zauber trieben. Martin musste noch mehr lächeln. Wenn Alban wüsste, was die Leute so alles trieben mit alten Bräuchen, alten Sprüchen, alten Zaubern! Sicher ahnte er, dass die Leute an den alten heiligen Tagen in den Wald gingen und den Naturgeistern Geschenke brachten oder die Fruchtbarkeit feierten. Sicherlich wusste Alban, dass die Leute Amulette trugen und Schutzzauber gebrauchten. Er wusste es, aber sicherlich war er noch nie dabei gewesen. Sein Lehrmeister wäre entsetzt, und Martin konnte sich lebhaft Albans Gesicht vorstellen, wenn er seine Mutter zum Kräutersammeln oder auf Krankenbesuche begleitet hätte. Also würde er diese Dinge einfach nie ansprechen. Er hoffte, dass er irgendwann einmal eine Frau finden würde, die genauso weise und gutherzig und kenntnisreich war wie seine Mutter.
Eine Eibe fand er auch, den Totenbaum. Fasziniert betrachtete er die roten Früchte. Wie schön sie aussahen! Sie waren wunderschön, und doch: die Früchte konnten töten, sie waren giftig. Martin sinnierte vor sich hin. Es war oft so, dass etwas wunderschön aussah und doch giftig war. Die Tiere wussten das, sie hielten sich von Gift fern. Menschen fielen oft darauf herein und nahmen das schöne Gift, in Form von Pflanzen aber auch in Form von anderen Menschen. Viele Menschen waren Gift und hatten doch ein schönes Äußeres. Viele Menschen, das wusste Martin aus Erfahrung, konnten nach außen hin sehr freundlich und gütig wirken oder sich sogar als heilig verehren lassen, und doch waren sie Gift. Das hatte ihm die Mutter auch schon immer gesagt: „Traue Deinem Bauchgefühl.“ Wie bei den Tieren weiß das Bauchgefühl, ob etwas giftig ist oder nicht. Martin hatte versucht, sich daran zu halten, allerdings hatte er die letzten Jahre dem Gift nicht entkommen können. Manche Dinge konnte man einfach nicht ändern, man musste sie aushalten.
Martin konzentrierte sich auf die Schönheit um sich herum. Schönheit war überall, man musste sie nur sehen. Er blickte auf das Grab und versuchte es so zu sehen, als sähe er es das erste Mal. Der Stein wies ein leichtes Rosa auf, die Namen von Heinrichs Eltern waren eingraviert, ebenso ein Spruch. Martin versuchte, den Spruch zu lesen, aber es ging nicht. Vermutlich war es Französisch. Das Grab selbst war mit kleinen Brocken von dem rosa Stein eingefasst und liebevoll gepflegt. Eine Statue der Heiligen Mutter Maria stand auf dem Grab, vor ihr lag ein großer Rosenkranz aus Muscheln. Einige Gänseblümchen lugten freundlich aus der Erde. Das Grab war in einem guten Zustand, vermutlich ließ Heinrich es sorgfältig pflegen. Martin nahm die Liebe wahr, die von diesem Ort ausging. Vermutlich hatte Heinrich seine Mutter genauso geliebt wie Martin seine eigene Mutter, die Müllerin.
Martin hatte nie richtig um seine Familie trauern können. Man hatte ihn aus seinem Leben herausgerissen und ihn den Leuten ausgeliefert, die ihn hassten. Er war erstarrt und hatte getan, was man ihm sagte. Arbeiten, arbeiten, und schwer arbeiten. Er hatte Schmerzen ertragen, Angst, Hunger und Einsamkeit. Getrauert hatte er nie. Martin wusste gar nicht, ob es von seiner Familie überhaupt ein Grab gab. Die Mühle war etwas abseits des Ortes gelegen. Gefunden hatte man die Toten gewiss, der Müller hatte jeden Tag Kundschaft gehabt. Hatte man ihnen ein richtiges Grab mit Totenfeier gegeben, oder hatte man sie nur verscharrt? Martin wusste es nicht. Eine seiner Schwestern, Affra, hatte überlebt, weil sie schon 17 Jahre alt war und nur ein paar Monate vorher geheiratet hatte. Ob sie wohl noch lebte?
Martin ließ seinen Blick wieder über das Grab schweifen, und dann weiter zu Heinrich. Heinrich schien tief in ein Gebet versunken und Martin versuchte auch, zu beten. Er beschloss, für seine Eltern und seine Geschwister zu beten. Sicherlich waren sie im Himmel, und das gab ihm Trost. Seine Eltern waren gute Leute gewesen, sie hatten nichts zu befürchten im Jenseits.
Er hörte ein Geräusch und drehte den Kopf. Heinrich weinte! Zuerst wusste Martin nicht, was er tun sollte, dann legte er ihm scheu seine Hand auf den Arm.
Heinrich sah in an und schluchzte: „Ich vermisse sie so. Und ich kann gar nicht richtig beten, weil mein Vater auch dort beerdigt ist. Er hat es nicht verdient, neben meiner Mutter zu liegen, er hat sie umgebracht!“
Martin schluckte. Ja, es war wohl so. Heinrichs Vater hatte zwei Mütter auf dem Gewissen: die von Heinrich und auch die Seine. Was für ein Ungeheuer.
Er hätte Heinrich gerne in den Arm genommen, wagte es aber nicht. Er kam jedoch näher, legte seinen Arm auf Heinrichs Rücken und blieb einfach stehen, bis er sich ausgeweint hatte. Irgendwann wischte Heinrich sich mit seinem Ärmel den Schnodder aus dem Gesicht und begann, Martin über das Grab zu erzählen. Die Marienstatue und der Rosenkranz aus Muscheln waren aus dem Heimatland seiner Mutter, der Bretagne. Auch die Steine waren von dort, es war rosa Granit.
Heinrich erzählte Martin von der Bretagne, vom Essen dort, von der Musik, von den Leuten, vom Duft der Blumen, von den großen Steinen aus alter Zeit, vom Meer und vom Wind, vom Geschrei der Möwen und von den unglaublich schönen Sonnenuntergängen über den Felsen am Meer. Die Sehnsucht klang aus seinen Worten und Martin sehnte sich auch nach diesem schönen Land, ohne es zu kennen. Vielleicht hatte ihm die Frau, die ihn geboren hatte, diese Sehnsucht nach der Heimat ins Herz gepflanzt. Er sagte Heinrich das auch so, und Heinrich versprach, mit ihm eines Tages nach Frankreich zu reisen und mit ihm zusammen die Bretagne zu besuchen. Sie würden im Meer baden und Muscheln suchen, frischen Meeresfisch essen und am Abend wunderschöner Musik zuhören.
Frankreich war das Heimatland der Troubadoure gewesen, und viele Edelmänner dort waren stolz darauf, selbst zu musizieren. Heinrich erzählte dem hingebungsvoll lauschendem Martin von den Kreistänzen und der Musik dazu, gespielt mit Sackpfeife und Schalmei oder Flöten und Trommeln.
Heinrich hörte gar nicht mehr auf zu reden und schwärmte Martin von den frischen und süßen Früchten dort vor, es gab Nektarinen, Aprikosen, Trauben, Erdbeeren, Pfirsiche, Himbeeren, Zuckermelonen und eine Frucht, die Martin bis dahin nur als getrocknetes verklebtes Etwas kannte: Feigen. Laut Heinrich schmeckten frische Feigen süß und unglaublich gut, man konnte sie direkt vom Baum pflücken und in den Mund schieben.
Und natürlich war der Wein dort besser und nicht so ein saures Gesöff wie Zuhause.
Heinrich schwärmte und erzählte, und Martin hörte ihm staunend zu. So hatte er Heinrich noch nie erlebt, so begeistert und frei. Fast war es Martin, als könnte er seinen Halbbruder sogar mögen, irgendwann. Vielleicht war er ja wirklich ganz nett, vielleicht würde man ihm wirklich trauen können, vielleicht würden sie tatsächlich Brüder sein.
„…. können wir das dann üben, oder?“
Martin wurde aus seinen Gedanken gerissen. Anscheinend hatte Heinrich ihm eine Frage gestellt, und er wusste aber nicht, worum es ging. Also fragte er:„Was können wir dann üben?“
„Na, bretonisch. Wenn wir nach Frankreich reisen, dann musst Du doch bretonisch können.“
„Ich dachte französisch?“
Heinrich lachte. „Nein, in der Bretagne wird bretonisch gesprochen. Aber französisch kann ich auch, ich kann Dir beides beibringen.“
Martin nickte. Das Glück kam gefährlich nahe.