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ОглавлениеKapitel 3: Alleine mit der Schuld
Bald darauf klopfte es, und Ulrich kam herein. Er sah angespannt aus. In sicherer Entfernung blieb er stehen und meinte: „Ihr habt mich rufen lassen? Braucht Ihr etwas?“ Heinrichs Gesicht war eine Maske aus Stein, als er befahl: „Setzt Euch.“
Ulrich setzte sich an den Tisch und wartete. Heinrich spürte, dass er gar nicht wirklich wissen wollte, was passiert war, aber es musste wohl sein. Zögernd fragte er: „Wie ist meine Mutter gestorben, und warum? War es im Kindbett?“
Ulrich schüttelte stumm den Kopf und sah so kummervoll dabei aus, dass es Heinrich das Herz zusammenzog. „Was war es dann? Mein Vater hat gesagt, sie hätte sich das Leben genommen.“ Der Verwalter schluckte schwer. Dann meinte er: „Ich hatte gedacht, Ihr wisst es. Jeder hier weiß es.“
Heinrich schloss die Augen. Alle außer ihm.
Die Männer schwiegen eine Weile, dann nahm Heinrich allen seinen Mut zusammen. „Nun?“
Ulrich räusperte sich. Am liebsten wäre er jetzt ganz weit weg gewesen. Er überlegte. Leider gab es niemand anderen, der Heinrich die Wahrheit ins Gesicht sagen konnte, also musste er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen.
„Wie gesagt, Eure Mutter war schwanger von den Vergewaltigungen. Sie hat mir erzählt, dass es mehr als einer war, deswegen weiß niemand, wer von ihnen Martins Vater war. Bei der Befreiung war sie bereits hochschwanger, sonst hätte sie das vielleicht anders lösen können, hm, also, Ihr wisst schon.“
Heinrich wusste, was er meinte. Sicherlich wäre das das Beste gewesen für alle Beteiligten.
„Euer Vater ist vergangen vor Kummer und Sorge. Er hat Eure Mutter so sehr geliebt und als er sie in ihrem Zustand gesehen hat, da hat er…. er hat etwas überreagiert.“
Überreagiert? Was konnte das wohl gewesen sein? Heinrich wollte gar nicht fragen. Der Verwalter fuhr fort:
„Als das Kind dann geboren war, hat Eure Mutter es gleich nach der Geburt ihrer Schwester mitgegeben, damit sie es zu Pflegeeltern bringt. Das hat sie auch getan, sie ist bei Nacht und Nebel aufgebrochen. Als Euer Vater das herausgefunden hat, war er furchtbar wütend. Er hat gedacht, dass sie das Kind liebte, dass es ihr wichtig wäre, dass sie es schützen wollte. Er hat sich in einen Wahn hineingesteigert und gedacht, sie hätte den Vergewaltiger und auch sein Kind geliebt.“
Heinrich wusste, was er mit Wahn meinte. Sein Vater hatte auch am Ende seines Lebens panische Angst vor einem Überfall gehabt. Irgendwie war es sein Wahn, dass jemand ihn angreifen würde. Niemand hatte ihm das ausreden können. Er hatte öfter solche Wahnideen gehabt.
Trotzdem verstand Heinrich nicht. Er fragte nach: „Aber meine Mutter hat doch das Richtige getan? Was hätte mein Vater denn mit dem Säugling anfangen können?“
Ulrich sah sehr traurig aus. Heinrichs Vater war sein Freund gewesen, und er hatte ihm immer treu als Verwalter gedient, aber seine Unbeherrschtheit und Grausamkeit war legendär gewesen. Leise meinte er: „Er wollte das Kind töten, um seine Genugtuung zu haben.“
Heinrich schauderte. Er war im Krieg gewesen und hatte viel Übles getan, aber Kinder hatte er nie töten können. Ulrich sprach weiter:
„Als Euer Vater herausgefunden hat, dass das Kind nicht mehr da war, hat sich sein Zorn auf Eure Mutter gerichtet. Er hat sich in die Idee verrannt, dass sie dem Vergewaltiger zärtlich zugetan war und nun sein Kind schützen wollte. Er hat einfach nicht erkannt, dass fast jede Mutter ihr Kind schützen würde, ob sie es nun freiwillig ausgetragen hat oder nicht. Wenn er einfach Ruhe gegeben hätte, dann wäre alles so einfach gewesen. Nichts wäre passiert.“
Heinrich staunte, denn Ulrich kämpfte mit den Tränen. Er hatte seinen Verwalter noch nie weinen oder die Fassung verlieren sehen. Sein Brustkorb wurde eng. Die Wahrheit war anscheinend noch furchtbarer, als er gedacht hatte.
Ulrich brauchte ein bisschen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Dann fuhr er fort: „Euer Vater hat sich also in diesen Wahn hineingesteigert, er war furchtbar eifersüchtig. Er hat Eure Mutter in den Turm gesperrt und wollte sie zwingen ihm zu sagen, wo das Kind ist. Sie hat es nicht getan. Und genau das hat ihn dann wieder in seinem Wahn bestärkt. Hätte sie ihm doch nur das Kind gegeben! Martin wäre viel Leid erspart geblieben, Eurer Mutter auch. Und Euch.“
Heinrich blieb stumm. Wollte er wirklich wissen, wie es weiter ging? Nein, er wollte nicht, absolut nicht. Aber er wusste genau, dass es ihm keine Ruhe lassen würde, also nickte er nur und bedeutete so dem Verwalter, weiterzusprechen.
„Er ist immer wütender geworden und hat Eure Mutter geschlagen und gequält. Ich habe sie oft schreien hören. Irgendwie ist aus seiner Liebe Hass geworden, und er hat ihr so bitter Unrecht getan. Eines Tages war er wieder bei ihr und wollte unbedingt herausfinden, wo das Kind war. Wir alle haben das Geschrei und das Weinen gehört. Dann ist Eure Mutter aus dem Turmfenster gestürzt.“
Ulrich schwieg erschüttert, sein Gesicht spiegelte seinen inneren Kampf. Mit leerer Seele fragte Heinrich:
„Hat sie sich das Leben genommen?“
Ulrich sah ihm in die Augen. Tiefer Kummer lag in seinem Blick. „Ich weiß es nicht, ich war nicht dabei. Euer Vater hat auch nie darüber gesprochen. Es ist nur seltsam, dass die Magd auch aus dem Fenster gefallen ist.“
Heinrich verstand. Er spürte, wie sein Herz gefror. Alle Lebenskraft schien aus ihm zu weichen und Heinrich war froh, dass er bereits im Bett lag, sonst wäre er vermutlich einfach umgefallen. Sein Vater hatte seine Mutter getötet.
Soviel Leid, soviel Einsamkeit, soviel Kälte wäre ihnen allen erspart geblieben, wenn sein Vater nicht so eifersüchtig und unbeherrscht gewesen wäre. Und er hatte andere dafür büßen lassen. Heinrich wurde schlecht als er daran dachte, was sie beide dem armen Martin angetan hatten. Er wollte gerne alleine sein und weinen, doch Ulrich war noch nicht fertig. Für Heinrich fühlte es sich unbarmherzig an, aber Ulrich fuhr fort: „Als sie tot war, hat er tief um sie getrauert. Sein Hass auf die Angreifer ist ins Unermessliche gewachsen. Eure Tante hatte sich in ein Kloster zurückgezogen, so konnte er sie nicht drangsalieren. Er hat sie tatsächlich 10 Jahre lang heimlich überwachen lassen, bis sie sich dann sicher wägte. Sie hat einen Boten zu den Zieheltern des Jungen geschickt, mit Geschenken und Geld.“
Heinrich spürte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen und herunter tropften. Offensichtlich weinte er, aber er fühlte nichts. Er ahnte, was er nun hören würde, und ihm graute davor. „Euer Vater ist mit ein paar Leuten zu dem Dorf geritten. Er hat Martins Ziehfamilie getötet und den Jungen mitgenommen. Den Rest wisst Ihr.“
Verzweifelt versuchte Heinrich, das Grauen von sich wegzuhalten. Er war gerade dabei, den Respekt vor seinem Vater zu verlieren, und das wollte er auf gar keinen Fall. Leise fragte er: „Hat Martin gewusst, warum mein Vater das getan hat?“ Ulrich schenkte sich noch einen Becher Wein ein und trank ein paar Schluck. Die Erinnerung hatte ihm sichtlich zugesetzt. „Nein. Er hatte von alldem nichts gewusst. Er hatte gedacht, dass die Müllersleute seine Eltern wären. Den Rest hat er dann erst hier nach und nach vom Gesinde erfahren.“
In Heinrichs Brust schmerzte es. Es schmerzte so stark, dass es ihm den Atem nahm. Der Schmerz und die Scham schienen ihn schier erdrücken zu wollen. Er brachte es noch zustande, dem Verwalter zuzunicken und ihn wegzuschicken, dann brach er zusammen.
Er weinte und weinte und schlug mit den Fäusten auf sein Kopfkissen ein. Sein Vater war immer sein Held gewesen, ein guter Geschäftsmann, ein harter Mann, ein Mann ohne Furcht. Ein Mann, dem das Schicksal übel mitgespielt und ihm die Frau genommen hatte. Ein… ein Mörder.
Heinrich fühlte, wie nach seinem Herzen auch seine Seele gefror. Sein Vater war nichts anderes gewesen als ein gemeiner Mörder ohne Anstand und Gewissen. Und ein Lügner. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und schien ihn zu lähmen. Heinrich lag einfach nur in seinem Bett und wusste vor Gram nicht, was er tun sollte. Also lag er da und tat gar nichts, gefangen in seinem Schmerz.
Es wurde Abend, und die Magd kam mit dem Abendessen. Sie versorgte Heinrich wie immer, er ließ stumm alles über sich ergehen. Das Essen rührte er nicht an.
Nach einer langen Nacht kam endlich der Morgen. Heinrich hievte sich hoch, zog sich notdürftig an und humpelte los. Er verließ seine Kammer und wollte hinaus, an der Treppe kam er jedoch nicht weiter. Ratlos setzte er sich auf eine Truhe und fluchte leise vor sich hin. Dann hatte er eine Idee. Mühsam setzte er sich auf die oberste Treppenstufe und glitt langsam mit seinem Hintern Stufe für Stufe hinunter. Sein Bein tat weh, aber das kümmerte Heinrich nicht. Als er endlich unten war, zog er sich mühsam hoch und hinkte Richtung Tür.
Er kam nach draußen, sog gierig die frische, kalte Luft ein. Dann stapfte er weiter. Der Weg bis zur Kapelle war gut ausgetreten, er hatte keine großen Probleme mit dem Schnee. Auf dem Friedhof allerdings lag Schnee, und Heinrich musste gut aufpassen. Er gelangte fast bis zum Grab seines Vaters, dann bemerkte er, dass er nicht mehr stehen konnte. Hinsetzen ging auch nicht, er wäre nicht mehr hochgekommen. Frustriert begann Heinrich, laut zu rufen, und es dauerte nicht lange, bis er gehört wurde. Ein paar Knechte trugen ihn wieder ins Haus, zurück in sein Bett. Heinrich war froh drum, sein Ausflug hatte ihn restlos erschöpft. Er lag im Bett und starrte die Decke an, in seiner Seele tobte ein erbitterter Kampf. Es war unglaublich schwer, sich einzugestehen, dass der eigene Vater ein übler Drecksack gewesen war. Er dachte an das 4. Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Was, wenn man seinen Vater nicht ehren konnte? In Heinrichs Kopf drehte sich alles und kam immer wieder zum Anfang zurück.
Nach und nach kam das volle Ausmaß dessen bei ihm an, was sein Vater getan hatte. Er hatte die Mutter gequält und getötet, und Heinrichs Kindheit traurig gemacht.
Und Martins Leben zerstört. 1000 heiße Messer stachen in Heinrichs Herz und Seele. Sein Vater hatte tatsächlich einem unschuldigen und unwissendem Kind die Eltern geraubt, um sich an ihm zu rächen. Warum nur? Warum? Diese Frage hatte er eigentlich am Grab seines Vaters herausschreien wollen, aber es war ihm ja nicht gelungen, dort hinzukommen. Heinrich hatte seinen Vater immer respektiert, sogar gefürchtet. Niemals, auch nicht später in der Zeit, in der der Vater immer mehr seinem Wahn verfiel, hatte Heinrich es gewagt, ihn zu kritisieren oder auch nur schlecht über ihn zu denken. Das war etwas, was man nicht tat. „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Ein göttliches Gebot.
Seine Erziehung durch die Eltern, die Lehrherren, die Priester hatte eine große Mauer vor jegliche Kritik an den Eltern gestellt. Sein Vater war der „Herr Vater“ gewesen, und er hatte immer Recht gehabt. Grundsätzlich immer. Manchmal hatte Heinrich sich selbst gegenüber verstohlen zugegeben, dass er froh war, als er zur Ritterausbildung wegdurfte. Offen ausgesprochen hätte er das niemals.
Nun bröckelte diese große, unüberwindbare Mauer zur Kritik am Vater. Der Schmerz und das Chaos in Heinrichs Herz waren kaum auszuhalten. Sein Vater war ein Mörder, ein Lügner und ein Schuft gewesen. Es kostete Heinrich unglaublich viel Kraft und Überwindung, sich das einzugestehen.
Er bekam Angst. Wenn diese Mauer bröckelte, was würde er wohl noch alles dahinter finden?
Die Magd kam wieder und brachte das Mittagsessen. Sie stutzte, als sie sah, dass der Herr auch das Frühstück nicht angerührt hatte, genauso wie das Abendessen gestern. Ihr stand es nicht zu, ihm das Essen zu befehlen, also ging sie zum Verwalter und berichtete ihm.
Ulrich kam kurze Zeit später. Er setzte sich zu Heinrich ans Bett und betrachtete ihn mitfühlend. Dann meinte er: „Ihr müsst etwas essen, Heinrich. Es nützt niemandem, wenn Ihr Euch kasteit.“
Heinrich starrte nur geradeaus. Irgendwann sagte er: „Es ist so viel Unrecht geschehen hier.“
Ulrich nickte nur. Der nächste Satz fiel Heinrich schwer: „Und ich habe mitgemacht.“
Wieder nickte Ulrich.
„Warum habt Ihr mir nie was gesagt?“
Diese Frage hatte Heinrich auf der Zunge gebrannt.
Sein Verwalter verzog keine Miene als er antwortete: „Ich dachte, Ihr wisst es.“
Heinrich schüttelte den Kopf. Dann fragte er verzagt: „Und jetzt? Sowas kann man doch nie im Leben wiedergutmachen?“
„Ihr könntet es versuchen. Es ist nie zu spät.“
Heinrich war mutlos. So etwas Furchtbares konnte man nicht wiedergutmachen. Wo sollte er anfangen? Zumal er ja selbst im großen Hass auf diesen Jungen aufgewachsen war. Er musste seinen eigenen Unwillen überwinden und zusätzlich die Schuld seiner Familie tilgen. Am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen.
Dann hatte er die rettende Idee: „Ich gebe ihn frei, sagt ihm das. Er ist frei und kann gehen, wohin er will.“
Ja, das war eine wunderbare Idee, Heinrich war stolz auf sich. Er würde Martin freigeben und ihm noch Reisegeld schenken, und dann würde der neugewonnene Halbbruder einfach verschwinden. Er wäre sicher glücklich drüber und Heinrich wäre ihn und die Schuld einfach los.
Aber Ulrich machte ihm einen Strich durch die Rechnung. „Es ist Januar und eiskalt. Wo soll er denn hin? Wo soll er mitten im Winter in Dienst treten? Außerdem ist er halbverhungert, so findet er nirgends eine Arbeit. Ihr müsst ihn mindestens bis Mai hierbehalten. Ihr könnt ihn nicht einfach wegschicken und ihm der Kälte und dem Hunger preisgeben.“
Heinrichs Mut sank wieder, Ulrich hatte Recht. Er konnte Martin frühestens Ende April rauswerfen, alles andere wäre sein Todesurteil. Ende April oder Anfang Mai, das waren noch fast vier Monate. Heinrich seufzte. Er würde Martin gut füttern und ihn dann mit einem gefüllten Geldbeutel wegschicken, und ihm bis Mai aus dem Weg gehen. Und wenn er ihm begegnete, würde er einfach freundlich zu ihm sein.
Der Verwalter dachte bei sich, dass es vermutlich wirklich das Beste sein würde, Martin gehen zu lassen. Allerdings mussten sie ihn vorher noch aufpäppeln und alles tun, damit ihn potenzielle Arbeitgeber nicht gleich wieder wegschickten oder, schlimmer noch, zurückbrachten. Ulrich blieb also sehr hartnäckig mit seinen Forderungen: „Was ist mit dem Halseisen, Heinrich? Soll er damit im Mai Rabenegg verlassen? Auf dem Eisen ist Euer Wappen drauf, die Leute werden ihn Euch immer wieder zurückbringen.“
Heinrich schluckte schwer. Das war das Letzte, was er wollte. Er gab nach: „Gut, dann lasst es ihm abnehmen. Ihr gebt ja eh keine Ruhe.“
Ulrich lächelte schwach, deutete eine Verbeugung an und ging.
Heinrich lehnte sich erschöpft zurück. Irgendwie wurde alles immer komplizierter. Er wollte einfach sein altes Leben zurück, aber er hatte die ungute Ahnung, dass das wohl nicht möglich sein würde. Zuviel war passiert. Zuviel hatte er erfahren, was sein Weltbild und seine Selbstgefälligkeit erschüttert hatte. Zuviel musste er nun durchdenken und wohl auch einfach hinnehmen. Sein Vater war ein Mörder, ein Lügner und ein Schuft gewesen. Heinrich fand keine Ruhe. Was, wenn alles, was sein Vater ihm beigebracht und gesagt hatte, auch nur Unwahrheit und dummes Zeug war?
Der Vater hatte ihm gesagt, dass ein echter Kerl nicht Streichpsalter spielte und sang. Warum eigentlich nicht? Der Vater hatte ihm auch gesagt, dass der Tod im Kampf ein erstrebenswerter Tod war. Warum war er selbst dann nicht im Kampf gestorben, sondern Zuhause am Wundbrand? Und sein Bruder Markwart, Heinrichs Onkel, war im Suff die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Wie heldenmütig.
Der Vater hatte ihm gesagt, dass Dienstboten faul und verlogen war und man hart mit ihnen umgehen musste. Was, wenn das auch nicht so war? Ja, was dann?
In Heinrichs Brust zog es. Was, wenn er selbst auch nur ein verlogener Drecksack war, und ein Mörder? Schließlich hatte er im Krieg genug Leute getötet. Aber das war ja Krieg, aus irgendeinem Grund schien das Töten im Krieg für die Kirche annehmbar, ja sogar gewünscht zu sein.
Sein Gehirn arbeitete pausenlos. Bruder Gernot, der frühere Pfaffe, der vor über vier Jahren an einem Blutsturz aus dem Schlund gestorben war, hatte ihm vom „Gerechten Krieg“ erzählt. Den gerechten Krieg hatte wohl vor vielen Jahren irgendein christlicher Denker erfunden, wie so viel anderen Unfug auch. Heinrich hatte noch nie einen gerechten Krieg gesehen. Es ging immer nur um Geld, um Macht und um Besitz. Gernot hatte ihm einreden wollen, dass die Kämpfe der Kreuzzüge, die bereits seit fast 200 Jahre andauerten, gerecht wären. „Deus lo vult“, Gott würde es angeblich wollen. Aber Heinrich hatte immer abgeblockt. Er hatte genug Männer kennengelernt, die im Heiligen Land gekämpft hatten. Was die erzählten, ließ sogar erfahrenen Kriegern das Blut in den Adern erfrieren. Die sogenannten Christen hatten übel gewütet im Heiligen Land. Sie hatten gemordet, geschändet und sollen sogar Heidenkinder am Spieß gebraten und gegessen haben.
Heinrich war nie ein hochgläubiger Mann gewesen, aber sogar ihm war klar, dass solche Grausamkeiten nicht von Gott gewollt sein konnten. Der Papst hatte Ablässe gewährt, damit die Leute ins Heilige Land zum Kämpfen gingen, aber Heinrich hatte sich nicht einfangen lassen. Den Erzählungen nach war das Heilige Land furchtbar weit weg, man war Jahre unterwegs und musste schlimme Entbehrungen hinnehmen, um dann dort blindwütig Leute abzuschlachten.
Man hatte ihm erzählt, dass es sogar mal einen Kreuzzug gegen andere Christen in Frankreich gegeben hatte. Einen Kreuzzug gegen die Heiden im Heiligen Land konnte man vielleicht sogar noch hinnehmen. Aber einen Kreuzzug gegen Christen in seinem geliebten Frankreich, das ging für Heinrich gar nicht. Die meisten Kämpfer hatten sich wohl keine Gedanken gemacht und hatten geglaubt, was der Papst ihnen gesagt hatte, aber Heinrich hatte sich immer seiner Zweifel bewahrt. Seine Mutter hatte ihm vor vielen Jahren die 10 Gebote beigebracht, und das 5. Gebot war: „Du sollst nicht töten.“ Und trotzdem taten es alle. Es wurde getötet in Kriegen, in Streitereien, in der Gerichtsbarkeit.
Heinrich kam einfach zu keinem Ergebnis. Niemand, auch er nicht, nahm die Gebote ernst. Aber er wollte doch ein besserer Mensch werden? Und er wollte so gerne in den Himmel kommen, was sollte er nur tun? Heinrich fühlte sich so unglaublich einsam und verloren. Mit wem sollte er über diese Dinge sprechen? Er selbst hatte getötet, und zwar nicht nur einmal. Er hatte gelogen, gestohlen und etliche Male auch gegen das 9. Gebot verstoßen und das Weib seines Nächsten begehrt und einfach genommen (auch wenn das Weib gar nicht wollte). Wenn Heinrich drüber nachdachte, so hatte er eigentlich gegen fast alle Gebote verstoßen. Gerade mal zwei Gebote, die er eingehalten hatte, fielen ihm ein, das erste und das vierte. Er hatte keine anderen Götter neben Gott, und er hatte Vater und Mutter geehrt. Bis vor Kurzem.
Er vergrub das Gesicht in den Händen. Den Vater konnte er nun auch nicht mehr ehren. Was blieb noch übrig? Heinrich seufzte. Er hatte einfach zu viel Zeit zum Denken. Er musste unbedingt aus diesem Bett herauskommen. Wieder Reiten gehen, tätig werden, Besuche machen und sich endlich um sein Gut kümmern.
Mühsam schob er sich hoch und angelte nach seinem Stock. Der Stock fiel um und Heinrich kam nicht dran. Er war so frustriert. Nichts ging so, wie er das wollte.
Hilflos blieb er im Bett liegen, er musste wohl warten, bis die Magd kam und ihm den Stock aufhob. Nachdenklich sah Heinrich sein Mittagessen an. Es gab Pasteten, die mit Pilzen und Kalbfleisch gefüllt waren. Er seufzte. Sicherlich aß sein Gesinde das nicht, für die Leute gab es wohl Suppe.
Heinrich nahm eine der Pasteten und biss hinein. Er spürte seinen Hunger im Bauch, aber der Appetit wollte trotzdem nicht kommen. Was er da gestern erfahren hatte, verschloss ihm den Magen. Aber der Verwalter hatte Recht. Es würde niemandem nutzen, wenn er sich kasteite. Heinrich aß sein Mittagessen auf und sank dann erschöpft in sein Bett zurück. Zum Aufstehen war er jetzt zu müde.
Noch nie in seinem Leben war Heinrich so ungeschützt und lange seinen Gedanken und seinem Gewissen ausgesetzt gewesen. Immer hatte es irgendeine Art von Ablenkung gegeben. Es waren immer Leute dagewesen und wenn das nicht half, viel Wein. Heinrich hatte es auch mit Brandwein versucht, was aber eigentlich nur immer Kopfschmerzen und ein schales Gefühl zur Folge hatte. Heinrich schloss die Augen und seine Gedanken überfielen ihn wieder. Die Grübeleien drehten sich im Kreis und fanden einfach kein Ende, keinen Ausweg. Immer wieder kam er an der Tatsache an, dass sein Vater, sein Onkel und er selbst alles falsch gemacht hatten, was nur ging. Wollte er so weiterleben? Er konnte einfach warten, bis das Bein wieder heil war und dann so weitermachen wie vorher auch. Aber wollte er das?
Die Antwort war klar. Nein, das wollte er nicht, er würde sonst in die Hölle kommen.
Irgendwas musste anders werden, aber was nur?
Heinrich war ein lausiger Gutsherr. Er hatte keine Geduld für den ganzen Verwaltungskram, das Planen, das Rechnen. Ihm graute immer, wenn er Gericht sitzen und sich das Gejammere und die Beschwerden der Leute anhören musste. Ulrichs Arbeit war nichts für ihn. Aber immer nur Jagen gehen und Besuche machen wollte er auch nicht mehr. Heinrich bemerkte plötzlich, dass er etwas Nützliches tun wollte. Etwas, das Sinn machte. Etwas, dass er konnte und gerne tat.
Langsam formte sich in seinem Kopf eine Idee. Es war nur eine vage Idee, eigentlich mehr eine Träumerei, aber Heinrich hatte viel Zeit, und der Traum bekam Farbe und Form. Vielleicht konnte er den Traum tatsächlich umsetzen? Doch erst musste er wieder ganz gesund werden.