Читать книгу Der Seele tiefer Grund - Beate Berghoff - Страница 14
ОглавлениеKapitel 8: der Freund aus Kindertagen
Bereits am gleichen Tag begann Heinrich, mit seinem Halbbruder Französisch und Bretonisch zu üben. Seine Mutter hatte Bretonisch mit ihren Kindern gesprochen, doch sie hatte ihren eigenen Beichtvater aus Frankreich mitgebracht, der die Kinder auch in Französisch unterrichtete, sogar nach ihrem Tod. Er übte auch mit ihnen, Französisch zu schreiben, was Heinrich als unsäglich schwierig in Erinnerung hatte. Er hatte wohl auch einmal gelernt, in Bretonisch zu schreiben, aber das konnte er nicht mehr.
Er übte also Wörter und Redewendungen mit Martin, in Französisch und dann in Bretonisch. Die französischen Wörter schrieb Martin auch auf seine Schiefertafel. Es war mühselig. Latein fiel Martin leicht, es war eine logische und strukturierte Sprache. Französisch war schon deutlich schwerer, aber die Sprache hielt sich mit ihrer Logik und ihren Wörtern doch nah am lateinischen Vorbild. Aber Bretonisch war wirklich schwer. Es glich dem Lateinischen überhaupt nicht, und so manches Mal seufzte Martin verzweifelt. Es ging sehr langsam, aber, so tröstete Heinrich ihn, sie hatten ja Zeit. Dieses Jahr würden sie nicht in die Bretagne kommen, sein frisch verheiltes Bein würde noch keine mehrwöchige Reise auf dem Pferd durchhalten. Sie könnten frühestens im Jahr drauf aufbrechen, und bis dahin würde Martin sicher gut Französisch und Bretonisch sprechen.
Die nächsten Tage hielt Heinrich täglich Unterricht. Er freute sich schon darauf, sich mit Martin irgendwann in seiner Muttersprache unterhalten zu können. Er traf bei Festen und Märkten und Jagdpartien immer mal wieder Leute aus Frankreich und sprach Französisch oder Bretonisch mit ihnen, so dass er es nicht verlernte. Hier am Gut konnte bis jetzt niemand Französisch sprechen, aber das würde sich bald ändern.
Jeden Vormittag verbrachte Heinrich also mit seinem Verwalter, während Martin bei Bruder Alban war. Nach dem Mittagessen gingen sie zu den Pferden und ritten oft eine Runde aus, dann folgte der Sprachunterricht, und später kam Alban zum Singen. Es war perfekt.
Oder fast perfekt. Immer wieder dachte Heinrich an seinen Traum, wieder Pferde zu bereiten und zu züchten. Martin sollte ihm helfen, aber Martin war noch nicht gut genug. Heinrich hoffte, dass sein Halbbruder mit der Zeit immer besser werden würde, aber tief drin wusste er, dass Martin seine große Leidenschaft für Pferde vermutlich nicht teilte.
Der April ging zu Ende, der Mai kam. In der Nacht zum ersten Mai wurde gefeiert nach altem Brauch. Eine Birke wurde aufgestellt, um die herum in der Nacht getanzt wurden. Die Leute legten Besen und Maibüschel aus und knallten mit Peitschen, um die Unholde fernzuhalten. Ebenfalls wurde ein Feuer entzündet, um die bösen Geister zu vertreiben.
Bruder Alban blieb dem Fest fern, er war jedes Mal erzürnt über die heidnischen Bräuche. Jedoch musste er sich damit abfinden, dass die jeweiligen Herren von Rabenegg gerne Feste hielten, die seit jeher gefeiert wurden. Heinrich verstand nicht, warum er seinen Leuten die unschuldige Freude nehmen sollte. Die Leute arbeiteten so viel, da sollten sie auch feiern dürfen. Außerdem waren die Dinge schon immer so gemacht worden.
Es gab gutes Essen, ein Ochse wurde am Spieß gegrillt, es gab Bier und die Leute tanzten fröhlich. Heinrich wusste, dass gut neun Monate nach der Walpurgisnacht für gewöhnlich deutlich mehr Kinder in den Dörfern und Weilern zur Welt kamen als sonst. Auch das stieß Alban sauer auf, für ihn hätte es mehr Sinn gemacht, wenn die Leute in der Hexennacht zum Beten und Fasten in die Kirche kommen würden.
Aber er wusste, er würde am nächsten Tag, am Tag der Heiligen Walpurgis, eine besonders heilige und lange Messe feiern. Dann würden sie zwei Walpurgisfeuer anzünden, zwischen denen alle Gutsbewohner, Herren und Dienstboten, durchgehen mussten. Immerhin war die Heilige Walpurgis die Schutzheilige gegen Pest, Husten und Tollwut. Jeder wusste, dass der Gang zwischen zwei geweihten Walpurgisfeuern vor diesen Krankheiten schützen würde. Für Alban war es wichtig, den Schutz der Heiligen für die Leute des Gutes und der benachbarten Dörfer herbeizurufen. Er hatte sogar eine Reliquie der Heiligen Walpurgis, einen Knochensplitter. Dieser Splitter war in sein Silberkreuz eingearbeitet, das er trug. Es war ein Geschenk seiner Eltern zur Priesterweihe gewesen. Damals war eine Seuche umgegangen, bei der die Leute Blut husteten und dann starben, und die Eltern hatten ihren Sohn mit der Reliquie der Heiligen Walpurgis geschützt, die ja eben auch eine Schutzheilige gegen Husten war.
Am ersten Mai waren die Leute zwar müde vom Feiern, gingen aber brav in die Kirche und dann zwischen den vom Pfaffen gesegneten Feuern durch. Besser, man holte sich den Schutz der Heiligen ab.
Das Wetter wurde besser, der Frühling brach sich überall seinen Weg. Die Wiesen wurden so unglaublich grün, alles blühte und die Herzen der Menschen wurden froh. Ein Ofen im Winter war zwar gut, aber der Sommer mit Wärme und Schönheit war trotzdem um Längen besser. Der Sommer brachte zwar unendlich viel Arbeit, aber wenigstens erfror oder verhungerte niemand.
Kurz nach der Maifeier bekam der Verwalter einen Gichtanfall. Er konnte einige Tage nicht laufen und stöhnte, wenn jemand seinem geschwollenen Zeh auch nur nahekam. Ihn plagte das Zipperlein schon länger, aber nach großen Festen war er in letzter Zeit immer mal wieder bettlägerig geworden mit Fieber, Schmerzen und der Entzündung im Zeh. Er wurde schließlich auch nicht jünger. Heinrich wusste jetzt gottlob, welche Arbeiten zu tun waren und vertrat den Verwalter so gut er konnte. Jeden Tag besuchte er Ulrich und besprach mit ihm, was zu tun war. Nach einigen Tagen brachte der Verwalter ein ganz neues Thema auf: seine Nachfolge.
Er würde schließlich nicht ewig leben, so erklärte Ulrich seine Gedanken. Er brauchte einen Nachfolger als Verwalter, den er einarbeiten konnte, solange er noch gesund war und die Arbeit einigermaßen leichtfiel. Heinrich hörte sich das alles an und kam zum Schluss:
Ja, Ulrich hatte Recht. Sie mussten einen Nachfolger suchen.
Doch Ulrich meinte, sie müssten niemanden suchen, es gäbe da schon jemanden. Heinrich sah ihn gespannt an. Wen Ulrich wohl meinte? Ulrich sah Heinrich so nachsichtig an, wie man einen zurückgebliebenen Trottel ansah.
Er begann: „Nun ja, wir brauchen jemanden, der hier schon länger arbeitet, der das Gut kennt, der absolut loyal und fleißig ist, und der auch klug genug für die Arbeit des Verwalters ist. Der neue Verwalter muss natürlich rechnen können, um mit den Abgaben und Geldern zu haushalten. Er muss Korrespondenz führen können, auf Deutsch und auf Latein.“
Heinrich begann zu ahnen, wohin dieses Gespräch führen würde. „Ihr meint Martin?“
„Ja. Er ist genau der Richtige.“
Heinrich fühlte sich wie ein Kind, dem man ein Spielzeug wegnehmen wollte. Er wusste, dass Ulrich Recht hatte, dass Martin die beste Wahl war, aber irgendwie fühlte er sich um seinen neu gewonnenen Bruder betrogen. Martin würde künftig den Hauptteil des Tages mit dem Verwalter verbringen müssen, und für ihn würde nicht mehr viel Zeit übrigbleiben. Also meinte er:
„Ulrich, da habt Ihr sicher Recht. Aber ich wollte Martin Französisch und Bretonisch beibringen, und wir singen zusammen. Außerdem wollte ich ihm zeigen, wie man Pferde bereitet.“ Der Verwalter lächelte ihn freundlich an und beharrte: „Ihr könnt ihm jede Sprache der Welt beibringen, am Abend, bevor Bruder Alban kommt. Martin kann jeden Vormittag eine Stunde zu Alban gehen und den Abend nach wie vor mit Euch verbringen. Dann lernt Ihr halt nur eine Stunde statt viele Stunden am Nachmittag. Ihr habt doch Zeit. Frankreich läuft nicht davon, oder? Und außerdem, warum wollt Ihr mit Martin üben, wie man ein Pferd bereitet? So wie ich das gesehen habe, hat er nicht viel Talent dazu.“
Heinrichs Gesicht wurde heiß. Gingen seine Pläne den Verwalter etwas an? Hm, vermutlich schon. Wenn er tatsächlich Pferde bereiten oder gar züchten würde, dann müssten die Stallungen repariert werden, oder am besten gleich neue gebaut werden. Das ging nicht ohne den alten Geizkragen.
Heinrich seufzte also ergeben und meinte: „Ich will was Sinnvolles tun. Mein Vater hat damals Pferde gezüchtet und beritten, und das will ich auch wieder machen.“ Unsicher sah er Ulrich an. Der fragte: „Ihr wollt Pferde bereiten und züchten? Ihr wisst, dass das viel Arbeit ist? Und dass Ihr das alleine nicht hinbekommt?“ Heinrich wurde ungeduldig. „Ja, das weiß ich. Deswegen wollte ich ja, dass Martin mir hilft.“
Ulrich überlegte eine Weile und fragte dann: „Was ist mit Veit? Warum nehmt Ihr den nicht?“
Heinrich war sprachlos. Veit? Den hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte gedacht, dass Veit weggegangen oder gestorben war. Anscheinend gab es ihn doch noch, aber warum hatte er ihn so lange nicht gesehen? Heinrich bemerkte, wie in seinem Herzen ein Kampf begann. Veit wäre natürlich der Allerbeste für seine Pläne, aber es war auch Veit gewesen, der Heinrich nie ernst genommen hatte und immer besser und schneller als er gewesen war. Heinrich hatte keine Lust, wieder nur die zweite Wahl zu sein und sich täglich von seinem ehemaligen Freund demütigen zu lassen. Er stutzte. Die Dinge waren anders als früher, er war ja jetzt der Herr auf diesem Gut, Veit würde sich unterordnen müssen. Trotzdem: so wie er Veit kannte, würde der ihm mit Blicken und Gesten ganz genau zeigen, wer der Bessere war. Heinrich war verwundert, wie groß der Groll in seinem Herzen war. Ulrich sah Heinrich zaudern und meinte: „Wenn Euch jemand helfen kann hier, dann Veit. Ihr müsstet ihn halt begnadigen und ihm die Fußketten abnehmen lassen.“
Heinrich sah ihn sorgenvoll an. Knechte, die Halseisen oder Fußketten trugen, hatten die ja nicht umsonst. Sie abnehmen zu lassen, war ein Zeichen von Schwäche, das die Dienstboten sicher ausnutzen würden. Diese Diskussion hatte er mit seinem Verwalter schon so oft geführt, aber Ulrich gab einfach nicht auf. Der Vater hatte Veit damals die Fußeisen verpasst, und Heinrich hatte sich gefreut. Der Vater hatte sicher einen Grund gehabt, er….
Heinrich schluckte schwer. Immer wieder schien er zu vergessen, welcher Drecksack sein Vater gewesen war. Vielleicht hatte er sich auch hier geirrt? Er fragte den Verwalter kurzangebunden: „Was ist passiert? Wo war Veit die ganze Zeit? Warum hat er die Fußketten?“
Der Verwalter versuchte, sich etwas bequemer hinzusetzen. Im Bett herumliegen war nicht das, was er gerne tat. Er bat Heinrich, ihm und sich selbst einen Becher gewässerten Wein einzuschenken, was Heinrich auch tat. Er war neugierig, was er jetzt zu hören bekommen würde.
Ulrich trank einen Schluck und schaute dann nachdenklich in seinen Becher hinein. Heinrich hatte also nicht gewusst, dass es Veit noch gab. Es war schon erstaunlich, wie wenig Ahnung er von seinem eigenen Gut gehabt hatte. Gottlob war das jetzt anders. Ulrich begann:
„Ihr wisst ja, dass Euer Vater mit Veit die Pferde beritten und gezüchtet hat. Die beiden waren jeden Tag zusammen. Aber es gab… Unstimmigkeiten. Euer Vater hat Veit in den Kerker werfen lassen. Er war acht Monate dort und danach hat er die Fußketten bekommen, damit er nicht mehr reiten konnte. Die Leute auf dem Gut haben ihn gemieden, und er hat sich zurückgezogen. Sein Vater war mein bester Freund, und deswegen gebe ich ihm immer Arbeit, bei der er für sich sein kann. Er ist gerne auf den Weiden oder Koppeln und bessert Zäune aus. Oft war er mit Martin im Wald. Er isst nicht mit den anderen, sondern verzieht sich irgendwo hin. Auch zu den Feiertagen, wenn es Geschenke gibt, ist er nicht mit den anderen zusammen, sondern vergräbt sich irgendwo. Die Geschenke gebe meistens ich ihm. Er geht den Leuten aus dem Weg, deswegen habt Ihr ihn vermutlich nicht gesehen.“ Ulrich schwieg und vermied es, Heinrich anzublicken.
Heinrich bemerkte, dass er auf seinen Fingernägeln kaute, wie immer, wenn ihn etwas beschäftigte. Er sah an Ulrichs Gesicht, dass er nicht alles gehört hatte. Was waren „Unstimmigkeiten?“ Heinrich stellte seinen Wein ab und wartete, bis Ulrich ihn ansah. Dann fragte er: „Was ist passiert? Könnt Ihr mir bitte die Wahrheit sagen? Ich weiß, dass hier am Gut viel Übles passiert ist? Wie soll ich das denn wiedergutmachen, wenn ich gar nicht weiß, was genau los war?“
Ulrich zögerte immer noch, aber Heinrich hatte Recht. Anscheinend wollte der junge Herr die Dinge tatsächlich wiedergutmachen, also würde Ulrich ihm genauer erklären müssten, was passiert war. Es war schwer für ihn, sehr schwer. Der alte Herr hatte ihm vor vielen Jahren, als er als Krüppel vom Krieg heimkehrte, die Arbeit als Verwalter gegeben und ihn aus Hunger und Not gerettet. Ulrich war ihm dankbar, und doch: Schuft blieb Schuft, auch wenn man offiziell befreundet war.
Für ein paar Augenblicke bemitleidete Ulrich sich selbst. Warum eigentlich musste immer er dem Herrn Heinrich erklären, welche Idioten seine Familienangehörigen gewesen waren? Er hatte ihm sagen müssen, was sein Vater seiner Mutter und Martins Familie angetan hatte. Und jetzt musste er ihm erzählen, welch übles Ungeheuer sein Onkel gewesen war, und wie dumm und überheblich sein Vater. Gab es hier denn niemand anderen, der das übernehmen konnte?
Ulrich schluckte schwer. Nein, es gab niemand anderen.
Er holte tief Luft und begann:
„Euer Vater und Veit haben eigentlich wunderbar zusammengearbeitet. Veit hat rund um die Uhr gearbeitet, aber es hat ihm nichts ausgemacht, es war ja das, was er liebte. Euer Vater hat jeden Tag beim Bereiten geholfen, er hat die Bodenarbeit gemacht, während Veit auf dem Pferd war. Er hat Pferde gekauft und verkauft und hat entschieden, wie gezüchtet wird, und Veit hat die Arbeit gemacht. Es wäre so gut gewesen, wenn nicht Euer Onkel Markwart aus dem Krieg gekommen wäre. Er hat den ganzen jungen Leuten am Gut nachgestellt, und sein größter Preis war Veit. Nicht, weil Veit besonders schön gewesen war, sondern wegen Veits Stellung. Ihr wisst ja, dass Veit einen Hang zum Hochmut hatte, und das hat Markwart gereizt. Veit ist ihm aus dem Weg gegangen und hat sich viel an Euren Vater gehalten, und das ging lange gut. Markwart hat versucht, ihn mit Schmeicheleien und Geschenken gefügig zu machen, aber Veit hat sich nicht einfangen lassen. Der Trottel!
Jeder am Gut hat gewusst, dass niemand gegen Marquart ankommt. Doch Veit hat gedacht, er würde das Machtspiel gegen Marquart gewinnen, weil er was Besonderes war, weil Euer Vater ihn sicher schützen würde. Doch Ihr wisst selbst, dass…. dass Euer Vater nicht immer die klügsten Entscheidungen getroffen hat.“
Heinrich nickte betroffen. Sein Vater hatte viel falsch gemacht. Allerdings wusste Heinrich auch, dass Veit wirklich überheblich und eingebildet gewesen war, der große Held. Ein kleiner Dämpfer hatte ihm sicher nicht geschadet.
Der Verwalter fuhr fort: „Eines Abends hat Markwart versucht, Veit in sein Bett zu bekommen, und Veit hat sich gewehrt. Er hat Markwart sogar gebissen, im Gesicht und an einer sehr delikaten Stelle.“ Ulrich wurde rot, und Heinrich konnte sich gut vorstellen, welche Stelle das gewesen war. Das hatte sicher sehr weh getan. „Marquart hat geschäumt vor Wut und hat Veit vor Euren Vater geschleift. Er hat so lange getobt, bis Euer Vater Veit in das dunkle Verlies im Kerker gesteckt und dort angekettet hat. Ihr wisst schon, das Verlies ohne Fenster. Er war da acht Monate lang, und Markwart war fast jeden Tag unten, um sich zu rächen.“
Heinrich schauderte. Sein Onkel war ein böser Mensch gewesen. Unvorstellbar, diesem Ungeheuer so lange so hilflos ausgeliefert zu sein. Ulrich hing wohl ähnlichen Gedanken nach, denn er schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort:
„Nach acht Monaten hat Euer Vater Veit aus dem Kerker geholt, warum auch immer. Doch Markwart wollte seine Rache nicht aufgeben, und hat durchgesetzt, dass er Fußketten bekommt, um nie mehr reiten zu können. Er wollte nicht nur Veits Körper und Seele zerstören, sondern seine Rachegelüstet gingen so weit, dass er Veit für die Ewigkeit zerstören wollte. Er wollte erreichen, dass Veit sich selbst das Leben nimmt und dann nicht in den Himmel kommt. Er wollte ihm den ewigen Frieden und die ewige Seligkeit nehmen. Veit war gebrochen, aber er hat sich nicht das Leben genommen. Es war ein ungleicher, ungerechter Kampf, bis Markwart dann gottlob endlich gestorben ist.“
Ulrich wurde klar, was er da gerade gesagt hatte und stammelte: „Oh, Verzeihung, ich…“
Doch Heinrich unterbrach ihn: „Schon gut, Ulrich. Ich glaube, jeder war froh, als Markwart endlich tot war. Ich auch.“
Ulrich nickte. Dann holte er Luft für den Rest: „Markwart hatte Veit unter Kontrolle, weil Veit furchtbare Angst vor ihm hatte. Nach der schlimmen Zeit im Kerker hat sich Veit an seinen Freund Simon gehängt, Ihr wisst schon, Simon der Schmied.“
Heinrich wusste, wer Simon war. Als Kind hatte er immer Veits Freund sein wollen, aber da war auch immer Simon gewesen. Heinrich war damals wirklich vor Eifersucht vergangen. „Veit hat sich an Simon gehängt, aber er hat nie irgendwem erzählt, was ihm im Kerker widerfahren ist. Simon hat wohl angenommen, Veit würde sich schon wieder beruhigen und hat sich nicht viel dabei gedacht. Eines Tages gab es wohl irgendein Missverständnis und Veit hat Simon an Markwart verraten. Simon wurde hart gestraft, und seitdem verachten die Leute Veit als Verräter. Wohin er kommt, niemand spricht mit ihm, niemand isst mit ihm, niemand sitzt mit ihm. Wenn ich nicht dabei bin, dann spucken sie ihn an und werfen Steine nach ihm. Es ist furchtbar. Wenn ich in der Nähe bin, dann tun sie ihm nichts, aber ich kann nicht überall sein. Das ist der Grund, warum sich Veit immer zurückzieht, wenn es geht. Er ist nicht gerne unter anderen Menschen.“
Wieder schwiegen die beiden Männer, jeder war damit beschäftigt, die eigenen Gedanken zu sortieren.
Dann fügte Ulrich noch hinzu: „Euer Vater hat dann noch lange versucht, zusammen mit Markwart Pferde zu bereiten und zu züchten, aber das ist nicht gut gegangen. Sie haben beide zu viel getrunken und hatten keine Disziplin. Veit hatte ja immer die ganze Arbeit gemacht. Sie haben ihn weiterhin gezwungen, mitzuarbeiten, aber er durfte nicht mehr reiten. Veit war nicht mehr mit Freude bei der Sache, wie es immer ist, wenn jemand Zwangsarbeit verrichten muss. Mit der Pferdezucht ist es abwärts gegangen und Euer Vater hat aufgehört. Den Rest wisst Ihr selbst.“
Heinrich war erstaunt. Sein Vater war ein noch größerer Idiot gewesen als gedacht. Etwas aufzugeben, woran sein Herzblut hing, nur um ein versoffenes, abartiges Ungeheuer zufrieden zu stellen. Wie dumm das gewesen war. Seine Gedanken wurden zerschnitten von Ulrichs Stimme: „Heinrich, Veit trägt diese Fußketten jetzt seit über zehn Jahren. Er hat genug gelitten. Könnt Ihr sie nicht einfach abnehmen lassen? Er hilft Euch bestimmt gerne bei Euren Pferdeplänen.“
In Heinrichs Kopf tobten die Gedanken. Es wurde eng. Und immer, wenn es eng wurde, musste er raus, am besten reiten. Er würde ausreiten, so lange und so schnell er konnte. Ausreiten half immer. Er stand auf und bedankte sich bei Ulrich. Er sagte ihm, dass er ausreiten würde und über die ganze Sache nachdenken müsste.
Das, was er gerade gehört hatte, beschäftigte ihn sehr. Heinrich hatte selbst genug schlimme Dinge getan im Krieg. Aber einen wehrlosen Mann zu quälen, der irgendwo angekettet war, das ging zu weit. Das war gegen jede Ritterehre, das war einfach nur feige und widerlich.
Heinrich ging zum Stall, um sich Alba zu holen, aber Alba war nicht da. Normalerweise waren seine Pferde im Stall, wenn er nachmittags kam. Jetzt aber war Vormittag, und einer der Stallknechte teilte ihm mit, dass die Pferde auf der Weide am anderen Ende des Gutes wären. Heinrich überlegte kurz, ob er Martin mitnehmen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Martin war bei seinem heißgeliebten Unterricht, und Heinrich wollte nicht stören. Außerdem brauchte er dringend einen freien Kopf und wollte nicht reden. Und natürlich würde er so richtig schnell reiten, um sich abzureagieren, da würde Martin vermutlich gar nicht mitkommen.
Also würde er alleine ausreiten. Seltsam, wie schnell er seine Vorsätze vergessen hatte, genau das nicht mehr zu tun. Aber es lag ja kein Schnee, und Eis war auch nicht da, also würde schon nichts passieren. Er würde reiten so schnell er konnte, und zwar zum See. Dort würde er Brotzeit halten, das wäre sicher wunderbar. Dieser Gedanke munterte ihn auf, und er holte sich Brot, Käse und ein paar Äpfel aus der Küche.
Dann lief er Richtung Weide, die hinter den Ställen Richtung Wald lag, gut geschützt von einem stabilen Holzzaun. Er kam an. Eine einsame Gestalt lief gerade mit Eimern zum Bach, um Wasser zu holen. Eine andere Gestalt war in einer Ecke der Koppel damit beschäftigt, den Zaun auszubessern. Ein paar Pferde standen um ihn herum und beäugten neugierig, was er da tat.
Leise, um die Pferde nicht zu erschrecken, kam Heinrich näher. Frustriert musste er feststellen, dass der einzige greifbare Knecht ausgerechnet der war, den er aus dem Kopf haben wollte. Da stand, hochkonzentriert an der Arbeit, Veit mit seinen Fußketten. Heinrich wollte langsam rückwärts weg gehen und sich den anderen Pferdeknecht schnappen, der bald mit dem Wasser wiederkommen musste. Aber sein Pferd, Alba, hatte ihn gesehen, schnaubte freudig und kam näher.
Veit drehte sich um und fuhr entsetzt zusammen. Für ein paar Momente starrte er den Herrn mit aufgerissenen Augen an, bevor er sich fing und den Kopf senkte, so wie es sich gehörte. Heinrichs Frust stieg an. Er wollte einfach nur ausreiten. Veits Reaktion war so ermüdend. Er wollte das alles nicht mehr. Die Leute sollten sich normal verhalten und nicht so tun, als wenn er ein Ungeheuer wäre.
Ein Ungeheuer.
Heinrich musste an das denken, was ihm der Verwalter vorhin erzählt hatte. Veit hatte Übles erfahren, aber doch nicht von ihm. Ja, er war schadenfroh, als er die Fußketten bekam und nicht mehr reiten konnte, aber er selbst hatte Veit nichts getan. Er bemerkte, dass er kurz davor war, die Nerven zu verlieren. Zuviel brodelte in ihm.
Heinrich trat zwei Schritte von Veit weg und meint nur kurzangebunden: „Sattle mir mein Pferd“.
Veit nickte leicht, sagte nichts weiter und holte Alba von der Weide. Sie folgte ihm sofort, schmiegte ihren Kopf an seine Wange. Veit ging mit dem Pferd Richtung Stall, seine Fußketten machten ein feines, schepperndes Geräusch.
Heinrich ging hinterher. Er musste fort von hier! Wohin er auch kam, wurde er mit den Schatten der Vergangenheit konfrontiert. Gerade erst hatte er das eine große Unrecht ausgebügelt und sich mit Martin zusammengerauft, nun wurde er mit dem nächsten großen Unrecht konfrontiert. Heinrich hatte keine Lust mehr. Veit richtete geübt das Pferd her. Er vermied jeglichen Augenkontakt und versuchte einfach nur, unauffällig und schnell zu sein. Je schneller der Herr wieder weg war, desto eher konnte er aufatmen. Veit war froh, dass der junge Herr Heinrich so selten in den Ställen auftauchte. Er war ein verwöhntes reiches Söhnchen, dem sein Gut egal war. Hauptsache, es brachte genug Geld, um ihm sein faules Leben zu ermöglichen. Es war ungerecht, dass jemand wie Heinrich dieses Gut geerbt hatte. Aber was war nicht ungerecht?
Veit liebte die Pferde und konnte gut mit ihnen umgehen. Und er war der Beste gewesen, der die Pferde bereiten und ausbilden konnte. Was könnte man mit dieser Pferdezucht alles machen! Welche grandiosen Pferde könnten sie wieder verkaufen! So wie früher. Schmerzlich zog es in seiner Brust.
Veit ließ den Gedanken fallen, was ihm gut gelang. Er hatte lange geübt und konnte Gedanken und auch Gefühle vorübergehend einfach wegdrängen. Er konnte kurzfristig Ruhe schaffen in seinem Kopf und Denken und Fühlen abwehren und sich dann langfristig in seinen Fantasiewelten vergraben. Ohne diese Fähigkeit wäre er wohl draufgegangen in den letzten Jahren, die so erfüllt waren von Gewalt, Demütigungen und dieses entsetzlich…. Halt!
Veit stoppte sich selbst. Nur nicht daran denken! Er versuchte, einen Tag nach dem anderen zu leben, sich immer auf die nächste Arbeit zu konzentrieren. Die Leute, die ihm so zugesetzt hatten, waren nicht mehr hier. Die anderen Dienstboten mieden ihn als Verräter, aber hatte sich an das Alleinsein gewöhnt. Er machte seine Arbeit und war froh, wenn ihm keiner zu nahekam. Er war froh, wenn ihn niemand anfasste. Außer den Pferden und den anderen Tieren. Sie gaben ihm viel Trost und Wärme. Nur schade, dass er nicht mehr reiten konnte. Er fühlte das altbekannte schmerzhafte Ziehen im Herz, und stellte mit viel Willenskraft dieses Gefühl ab. Dieses Ziehen im Herz, das wusste er, das konnte ihn vernichten. Er zwang sich selbst zur Ruhe, führte das Pferd die paar Schritte vor, verbeugte sich und hielt dem Herrn die Zügel hin. Das Ziehen im Herz versuchte sehr hartnäckig, sich bemerkbar zu machen. Dieser Mann würde jetzt AUSREITEN! Frei sein, der Wind würde ihm ins Gesicht blasen, sein Herz würde leicht werden.
Veit versuchte verzweifelt, seinen innerlichen Aufruhr im Zaum zu halten. Er musste klein bleiben, unauffällig. Auf gar keinen Fall durfte der Herr Heinrich merken, dass es ihm weh tat, und dass er ihm den Ausritt nicht gönnte. Auf gar keinen Fall durfte er jetzt in seine Fantasiewelt abtauchen, der Herr hätte das sicher bemerkt. Veit zwang sich, im Jetzt zu bleiben und die Angst niederzukämpfen.
Heinrich, der nichts zu tun hatte und herumstand, sah Veit beim Satteln zu. Er sah, wie sich sein Brustkorb zitternd hob und senkte. Irgendetwas war los mit ihm. Heinrich merkte, dass er sein Gut mit den ganzen stillen Anklagen nicht recht viel länger ertragen konnte. Es war, als wenn er hier ersticken würde. Er musste raus.
Ob Veit wohl schon mal rausgekommen war in den letzten Jahren? Er konnte nicht einfach gehen, wenn es ihm zu viel wurde. Heinrich seufzte. Diese blöden Gedanken! Er wollte nicht darüber nachdenken, wie es seinen Knechten ging. Aber er konnte es nicht abstellen. Er hatte das Mitgefühl in sein Herz gelassen, und das hatte ihn verändert, ohne dass er es geplant oder gewollte hatte.
Der Verwalter hatte um Gnade gebeten für Veit. Was war denn eigentlich so Großes dran, ihm Gnade zu gewähren? Ja, da war die alte Sache mit der Eifersucht. Früher war Veit immer der Beste gewesen. Der beste Reiter, der Wortgewandteste beim Spielen. Heinrich kramte ein paar Erinnerungsfetzen heraus. Sie hatten zusammen gespielt als Kinder. Immer hatte Veit den jüngeren Buben dominiert, und es war ihm völlig egal gewesen, dass sein Spielkamerad im Rang deutlich über ihm gestanden war.
Heinrich atmete tief durch. Das war Kinderkram, das musste er jetzt endlich mal gut sein lassen. Er konnte den Groll nicht ewig herumtragen. Umso mehr, als dass die gebrochene und untertänige Gestalt vor ihm nicht recht viel mit dem strahlenden Veit seiner Kindertage gemeinsam hatte. Er griff nach dem Zügel seines Pferdes. Veit hielt wortlos den Steigbügel und den Sattel fest, damit Heinrich aufsteigen konnte. Sein Bein war so aufgestellt, damit der Herr es als Treppe nutzen konnte. Er tat, was er konnte, damit der Herr Heinrich so schnell wie möglich wieder verschwand.
Heinrich stieg nicht auf, sondern schaute nachdenklich seinen Knecht an. Er fällte eine Entscheidung. „Komm mit“ sagte er und lief mit dem Pferd am Zügel los. Veit holte tief Luft und gehorchte. Er merkte, wie die Kälte anbrandete und in ihm hochlaufen wollte. Noch kämpfte er verbissen dagegen an. Nur nicht denken, nur nicht fühlen! Er verbot sich selbst, irgendeine Vermutung anzustellen, was der Herr von ihm wollte. Mit ganzer Kraft kämpfte er gegen die Angst, die sich in ihm ausbreiten wollte. Veit bemerkte die Übelkeit, die in ihm aufstieg und wusste, dass er nicht mehr lange die Panik niederhalten konnte.
Heinrich hielt an und Veit lief gegen den Pferdehintern. Warum blieben sie stehen? Sie waren an der Schmiede. Brauchte das Pferd frische Hufeisen? Veit dachte nach. Nein, die Hufeisen hatte er gestern erst kontrolliert, da passte alles. Was zum ….?
Der Schmied kam heraus und senkte respektvoll den Kopf. Heinrich wies auf Veit und fragte den Schmied: „Kannst Du die Fußketten wegmachen?“
Veits Kopf schnellte hoch. Was?!? Der Schmied schien ähnlich erstaunt. Er sah Heinrich kurz an, um zu prüfen, ob er es ernst meinte. Er fand keinen Hinweis, dass das Ganze ein Scherz war, und so antwortete er: „Ja, Herr. Das ist keine Schwierigkeit.“ Heinrich war entschlossen. „Dann tu´s. Nimm die Fußketten weg.“
Veit schwindelte. Was ging hier vor? Was wollte dieser Mann? Und was in Gottes Namen würde er dafür tun müssen?
Der Herr wies ihn mit der Hand zum Schmied, und benommen ging Veit näher und stellte erst den einen und dann den anderen Fuß auf den Schemel, wo der Schmied sein Werk verrichtete. Die Fesseln fielen. So schnell, und so unkompliziert, so einfach. So leicht wäre das also all die langen Jahre gewesen.
Zehn Jahre Elend fielen einfach so herunter, wie wenn das je so einfach sein könnte. Veit war fassungslos. Er hatte sich früher oft ausgemalt, was er tun, wie er jubeln würde, wenn er die Fußketten loswerden könnte. Aber jetzt stand er einfach nur mit leerer Seele da.
Heinrich dankte dem Schmied mit kurzen Worten. Veit stand immer noch wie betäubt da und wusste nicht so recht, was er jetzt tun sollte. Sollte er sich bedanken? Oder kamen jetzt die Forderungen nach Gegenleistung? Ein Mitglied der Familie von Rabenegg gab niemals irgendetwas ohne Gegenleistung, das hatte er gelernt in den letzten Jahren.
Heinrich wartete. Ein Dankeschön sollte doch wohl drin sein? Veit stand stocksteif und stumm da, und Heinrich war mit seinen Nerven am Ende. Nichts lief so, wie er es wollte. Er hatte sich entschlossen, Gnade zu zeigen und etwas Gutes zu tun. Und trotzdem liebten ihn die Leute nicht, ließen ihn nicht hochleben. Wortlos stieg er auf sein Pferd und ritt weg.
Endlich.
Endlich konnte er diese vertrackte Angelegenheit hinter sich lassen. Heinrich ritt in vollem Galopp zum Tor hinaus und preschte vorwärts Richtung Wald. Sein verheiltes Bein tat nach einiger Zeit weh, aber er ignorierte es. Er ritt und ritt, bis er und sein Pferd keuchte und sie von selbst langsamer wurden. Sie verfielen in Schritttempo, und Heinrich wurde ruhiger. Er sah die Natur um sich herum, hörte die Vögel singen, roch den Duft der Bäume. Immer wieder musste er daran denken, dass er fast der Einzige in seinem Gut war, der dieses Privileg genießen und einfach verschwinden konnte, wenn es ihm danach war. An einem wunderschönen Bachlauf hielt er an. Er stieg mit den Füßen im Bach herum und trank, und sein Pferd tat es ihm nach. Heinrich fühlte, wie seine Nerven sich beruhigten. In der Natur hatte er sich schon immer wohl gefühlt. Im Wald hatte er das Gefühl, dort hin zu gehören. Manchmal war es ihm sogar, als könnte er die kleinen Waldwesen wahrnehmen. Natürlich hätte er das niemals jemandem erzählen können. Seit er acht Jahre alt war hatte er das Kämpfen gelernt. Er hatte gelernt, hart zu sein; zu anderen, und vor Allem zu sich selbst.
Lange war er immer von anderen jungen Knappen und Rittern und Höflingen umgeben gewesen, und da ging es für ihn nicht an, vor den anderen ruhig mit der Natur zu verschmelzen. Sie hätten ihn als Weichling betrachtet. Er seufzte. Jetzt fühlte er sich wohl. Alleine im Bach, nur sein Pferd und er.
Heinrich setzte sich auf einen Felsbrocken und fühlte die Sonne auf seiner Haut. Er genoss die Wärme, entspannte sich und schlief langsam ein. Als er wieder aufwachte, fühlte sich Heinrich wunderbar ausgeruht, aber hungrig. Er aß dankbar was er mitgenommen hatte und teilte die Äpfel mit seinem Pferd. Oh, seine wundervolle Alba. Er schmiegte sich an sie und dachte, wie furchtbar es ohne Pferde wäre. Er streichelte sie, und Alba stupste ihn freundlich mit ihrer Nase an. Sein Pferd liebte ihn, das war offensichtlich. Und er liebte Alba.
Heinrichs Herz wurde wieder schwer. Die Leute auf seinem Gut liebten ihn ganz sicher nicht. Sie kuschten vor ihm, und wahrscheinlich verachteten sie ihn heimlich. Vielleicht zu Recht. Was hatte er die letzten Jahre anderes getan, als faul zu sein und sein Geld zu verprassen? Er hatte vieles geändert in den letzten Monaten, eigentlich war Heinrich zufrieden mit sich. Aber da war immer noch sein Traum.
Veit war wiederaufgetaucht. Vielleicht war das ein Zeichen des Himmels? Vielleicht konnte er tatsächlich mit Veit zusammenarbeiten. Vielleicht würde Veit ihn jetzt nicht mehr missachten. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Würde er die viele Arbeit schaffen oder aufgeben, wenn es anstrengend wurde? Was, wenn es nicht klappte? Heinrich grübelte und grübelte.
Der Heimweg zog sich, weil er so sehr mit Denken beschäftigt war und nicht durchgehend galoppierte. Die Strecke war doch länger gewesen als er das bemerkt hatte. Als Heinrich das Tor passierte, wurde es bereits dunkel und die Knechte hatten Feierabend. Trotzdem kam sofort einer angelaufen, verbeugte sich und nahm Alba mit sich. Heinrich blickte sich um, aber konnte Veit nicht bei den anderen Knechten entdecken. Na ja, dann eben morgen.
Er suchte Martin, den er bei Alban fand. Er bat die beiden, heute ohne ihn zu singen und ging in seine Kammer. Dort zog er die Stiefel herunter und setzte sich in seinen großen Sessel, um nachzudenken. Es klopfte, und die Wirtschafterin stand da und fragte, ob er noch etwas zu Essen wünschte. Gerade wollte Heinrich irgendetwas Leckeres bestellen, als er innehielt. Die Knechte hatten Feierabend, die Mägde wahrscheinlich auch. Er fragte „Was hast Du denn noch da? Brot und Käse reichen auch.“ Die Verwalterin stutzte kurz, und meinte dann „Wir haben Brot und Käse, und noch Gerstensuppe. Aber natürlich können wir Euch auch noch etwas kochen.“
Sie sah müde aus, und Heinrich versicherte ihr, dass Suppe und ein Butterbrot völlig ausreichen würde. Sie sah ihn kurz verwundert an und verschwand. Kurz darauf erschienen ein paar Mägde mit Unmengen an Suppe, Butterbroten, Pflaumenmus, Bier und einer großen Schüssel Honigquark mit Nüssen. Heinrich dankte den Mädchen und schob sie hinaus, um zu essen. Er hatte wirklich Hunger, und mit Hunger schmeckte auch das einfachste Essen unglaublich gut.
Während er dasaß und zufrieden sein einfaches Mahl verzehrte, klopfte es wieder. Heinrich seufzte und bat den Besucher laut herein. Es war Veit. Heinrich hörte zu essen auf und starrte ihn an. Veit starrte auch, aber auf seine Fußspitzen. Er war sichtlich nervös, und Heinrich fragte sich, was er zu so später Stunde noch bei ihm wollte.
Einige Zeit sagten beide nichts, und schließlich fasste Heinrich sich ein Herz. „Was willst Du?“ fragte er so höflich, wie er es trotz der Störung beim Essen noch hinbekam.
Veit blickte auf. Er war blass. Ganz offensichtlich suchte er nach Worten, und holte schließlich tief Luft. „Ich denke, Ihr wünscht wahrscheinlich eine Gegenleistung, wegen der Fußketten“. Heinrich starrte ihn verblüfft an. Eine Gegenleistung? Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Er fragte „Wie kommst Du darauf?“. Veit zögerte. Dann sagte er sehr leise:
„Alles hat seinen Preis“.
Heinrich graute bei diesen Worten, er musste an das denken, was der Verwalter ihm über seinen Onkel und seinen Vater erzählt hatte. Er seufzte; es war kein gutes Gefühl. Wenn Veit doch einfach nur verschwinden würde! Heinrich wünschte sich so sehr, seine Ruhe zu haben, und nicht mehr nachdenken zu müssen. Er würde Veit wegschicken, aber erst, nachdem er ihm die Angst genommen hatte.
Also sah er Veit fest an und meinte „Nein, ich erwarte keine Gegenleistung. Nimm es einfach als Geschenk von mir“. Veit blickte ihn skeptisch an, ganz offensichtlich glaubte er nicht, was er da hörte. „Ihr wollt ganz sicher nichts von mir?“ fragte er, und sein Gesicht spiegelte so viel Grauen und Entsetzen wider, dass es Heinrich langsam dämmerte, warum Veit zu ihm gekommen war. Diese Erkenntnis sorgte dafür, dass ihm übel wurde und ihm die Luft wegblieb, und er sagte nichts. Heinrich stütze die Arme auf den Tisch und legte sein Gesicht in seine Hände. Er rieb sich die Augen und versuchte, tief zu atmen. Als er wieder aufblickte, stand Veit immer noch da, sein Gesicht jetzt völlig leer.
Da plötzlich hatte Heinrich eine Idee. Vielleicht würde es helfen, freundlich zu sein und Veit zum Essen einzuladen. „Komm her“ forderte Heinrich ihn übertrieben freundlich auf, und Veit kam näher und sank vor Heinrichs Sessel auf die Knie. Er wartete. Heinrich wusste nicht recht, worauf, und was er jetzt tun sollte. Plötzlich fragte Veit tonlos, wie aus einer anderen Welt: „Wie wollt Ihr mich?“
Es dauerte einige Augenblicke, bis Heinrich verstand. Er zuckte weg und sprang auf. „Nein!“
Er brachte einige Meter zwischen sich und Veit. „Nein! Veit! Ich….ich will Dich nicht, nicht so. Bitte steh auf!“
Der letzte Satz klang so flehentlich, dass Veit tatsächlich aufstand. Er war verwirrt. Was wollte der Herr Heinrich dann? Heinrich kam langsam wieder näher und blieb aber in deutlichem Abstand zu Veit stehen. „Ich will wirklich keine Gegenleistung, versteh das doch. Wenn Du magst, dann bete für mich. Und vorhin habe ich mir beim Ausreiten gedacht, wir könnten wieder Pferde zureiten. Wenn Du magst, dann mach mit.“
Das war es also. Pferde zureiten. Veit sog einen großen Schwall Luft ein und ließ die Luft langsam wieder nach draußen. Ihm war klar gewesen, dass es eine Gegenleistung geben musste. Pferde zureiten! Das war eine Gegenleistung, die er gerne geben würde. Er entspannte sich etwas.
Heinrich setzte sich wieder. Er hoffte, dass nun alles klar war und war ziemlich fassungslos, als Veit sich wieder hinkniete. Diesmal nahm Veit den Saum von Heinrichs Gewand und küsste ihn. Leise, aber deutlich sprach er „Ich danke Euch“. Es folgte ein Geräusch, das einem Schluchzen ähnelte. Und dann nochmal „Danke.“ Jetzt drückte Veit Heinrichs Gewandsaum an seine Stirn und meinte noch; „Gott segne Euch“.
Heinrich saß staunend da. Er hatte gedacht, die Leute würden ihn irgendwann lieben und ihm zujubeln und ihn hochleben lassen. Doch dieser stille Dank so ganz ohne Jubel berührte ihn noch viel mehr, er war so ehrlich. „Gott segne Euch“. Heinrich wusste nicht mehr, wann jemand das letzte Mal aufrichtig Gottes Segen für ihn erbeten hatte.
Veit kniete immer noch still da. Heinrich räusperte sich und fragte „Magst Du mit mir essen? Ich habe mehr, als ich schaffen kann“. Langsam hob sein Knecht den Kopf. Er vermied es, dem Herrn Heinrich direkt in die Augen zu schauen, dass durfte man ja nicht. Er blickte irgendwo in Richtung Kinn und meinte „Vielleicht solltet ihr besser mit dem Verwalter essen, der ist bessere Gesellschaft als ich.“ Heinrich hörte Wehmut aus Veits Worten, deswegen schluckte er die aufkommende Ungeduld über die Zurückweisung hinunter.
„Nein, das passt schon. Setz Dich!“ Veit tat wie ihm geheißen, aber wohl war ihm nicht dabei. Am liebsten wäre er wieder gegangen, aber das ging nicht ohne Erlaubnis dieses verhassten Mannes da vor ihm. Obwohl… Veit spürte nach.
Irgendwie war sein Hass gerade nicht da, die Dankbarkeit überwog. Bitter dachte er daran, was aus ihm geworden war, für was er jetzt schon Dankbarkeit fühlte. Sein Mut, sein Kampfgeist, sein unbeugsames Wesen, das waren alles Schatten, Erinnerungen an ein Leben, das so lange her war. Ein Leben, an das zu denken er sich normalerweise verbot, um den Schmerz in der Seele nicht zu spüren. Aber Heinrich wollte mit ihm Pferde zureiten. Ob er was wohl wirklich so meinte? Etwas Altbekanntes, lange Totgeglaubtes, erwachte in ihm: Neugier.
Veit sah Heinrich dabei zu, wie er versuchte, die Schalen und Schüsseln so zu verteilen, dass jeder einen eigenen Teller und eine eigene Schüssel hatte. Heinrich legte Butterbrote mit Schnittlauch und Brote mit Pflaumenmus auf die Schale, die Veits Teller sein würde. Dann füllte er etwas ungeschickt Gerstensuppe in einen großen Becher, der Veit als Schüssel dienen sollte. Für die Süßspeise war kein Teller mehr da, also sah Heinrich sich um. Vom Vortag stand noch ein leerer Weinbecher herum, in den löffelte er jetzt die Hälfte des Honigquarks.
Veit saß da und konnte es nicht glauben. Er schüttelte den Kopf, und kniff sich, um zu sehen, ob das hier wirklich real war. Aber kein Zweifel: er erlebte das gerade tatsächlich.
Heinrich schob das Essen zu Veit hin und grinste kurz. Veit fand, dass er aussah wie der kleine Junge, dem er vor langer Zeit das Reiten beigebracht hatte, und er wusste nicht, was er davon halten sollte.
Heinrich begann zu essen, und Veit schloss sich nach kurzem Zögern an. Das Mahl schmeckte wunderbar. Die Knechte mussten für gewöhnlich nicht hungern, sie aßen dreimal am Tag, zur Erntezeit sogar viermal. Aber das Brot war meistens schon alt, und der Käse trocken. Butter aufs Brot gab es nur selten. Dieses Brot hier war frisch, und die Butter kleinfingerdick draufgestrichen, und ein Brot hatte sogar noch Pflaumenmus drauf, wie köstlich. Die Suppe war warm und vor allem VIEL, und da waren auch noch der Quark, anscheinend waren Honig und Nüsse drin. Wunderbar süß und einfach nur gut. Veit seufzte wohlig. Er hatte die Augen geschlossen, und schmeckte und genoss jeden Bissen und vergaß alles um sich herum.
Heinrich beobachtete ihn heimlich. Da die Knechte meistens Kopf und Blick gesenkt hatten, konnte er deren Gesichter nicht richtig sehen. Jetzt studierte er Veits Gesicht mit den geschlossenen Augen. Veit war deutlich älter geworden, und schmaler. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Heinrich fand auch ein paar Narben, die früher da nicht gewesen waren. Aber sonst war es eindeutig Veits Gesicht. Heinrich wurde von Erinnerungen überflutet. Erinnerungen an eine Kindheit, in der sich alles nur um Pferde gedreht hatte. Sein Vater, wie er ihn auf ein Pony hob und lachte. Und Veit, der schier endlos mit ihm übte. Erst Reiten, dann wilde Jagden auf dem Pferd, und dann die Meisterdisziplin: ein Pferd zureiten, es ausbilden.
Veit war sein erster Lehrer gewesen und später dann, als Heranwachsender, sein größter Konkurrent. Egal wie er sich anstrengte, Veit war immer noch ein bisschen besser, und ziemlich überheblich, und Heinrich konnte sich gut erinnern, dass er ihn sogar eine Zeitlang gehasst hatte. Veit hatte gewusst, wie gut er war, und ließ sich das auch anmerken. Er war der Held gewesen.
Davon war jetzt nicht mehr viel zu sehen, und Heinrich schauderte. Offensichtlich hatte Veit viel Übles erlebt und es hatte ihn gebrochen. Es war an der Zeit, den Hass und die Konkurrenz zu begraben. Heinrich wartete still ab, bis Veit die Augen wieder öffnete. Ihre Blicke begegneten sich kurz, und dann senkte Veit den Kopf, so wie es sich gehörte.
Heinrich wusste nicht recht, wie er beginnen sollte. Er hatte sich noch gar keine Gedanken drüber gemacht, ob er Veit einfach nur als Pferdeknecht dabeihaben wollte, der ihm zuarbeitete, oder wirklich als eigenständigen Ausbilder und Zureiter. Irgendwie fürchtete Heinrich, dass Veit ihm dann wieder überlegen sein und ihn das auch spüren lassen würde. Andererseits sah Veit gerade nicht nach Arroganz oder Selbstüberschätzung aus. Vielleicht konnte er es riskieren. Vielleicht würde Veit ihn diesmal ernst nehmen, weil er nicht sein Schüler war, sondern sein Herr. Sein Herr.
Irgendwie hatte das Schicksal seinem ehemaligen Freund übel mitgespielt. Heinrich überlegte kurz, wie es denn für ihn an Veits Stelle wäre. Es war kein gutes Gefühl.
Veit wartete still. Der Herr Heinrich plante anscheinend, wieder Pferde zu trainieren. Warum sprach er nicht endlich?
Heinrich fasste sich ein Herz und redete einfach. Er starrte den Tisch an, während er erzählte, was ihm während der letzten Monate im Kopf umgegangen war. Er wollte wieder Pferde züchten, und zureiten, und fürs Erste auch Jungpferde zukaufen und ausbilden.
Das hatte er ja schließlich gelernt und wollte es wieder tun. Heinrich erzählte natürlich nicht, dass er das Gefühl hatte, die letzten Jahre stinkfaul gewesen zu sein, und dass er sich nach einer Aufgabe sehnte. Das ging niemanden etwas an. Er erzählte von seinen Plänen mit den neuen Ställen und dass er auch vorhatte, die scheuen und wilden und schwierigen Pferde der umliegenden Nachbarn zuzureiten, wenn diese das wollten und auch bezahlten. Und jetzt kam der schwierigste Teil. Heinrich zögerte kurz. Er starrte immer noch nach unten, und erzählte dann der Tischplatte, dass er das ja nicht allein tun konnte, und jemanden brauchte, der auch Pferde trainieren konnte, und vor allem jemanden, der wusste, wie man so etwas organisierte. Und natürlich jemanden, der die Drecksarbeit machte. Das sagte Heinrich selbstverständlich nicht, aber beide wussten, dass es so war.
Heinrich hatte seine Ideen ausgesprochen. Er wusste, dass Veit keine Wahl hatte, aber er war trotzdem recht angespannt. Tief in sich drin fürchtete er, dass Veit, der übermächtige Lehrer seiner Kindheit, ihn auslachen und ihm das Talent absprechen würde. Veit hatte gebannt zugehört. So etwas hatte er sich schon öfters überlegt und durchdacht. Es wäre so wunderbar, wenn es klappen würde. Er war sich nicht sicher, ob der Herr eine Antwort wünschte, also wartete er ab. Nach kurzer Stille fragte Heinrich: „Und was meinst Du dazu?“
Veit wusste, dass er vermutlich so etwas sagen sollte wie „Ich werde alles tun, was Ihr wünscht“, aber es ging nicht. Zu lange hatte er gewartet. Also erzählte er dem Herrn Heinrich von den Pferden, die gerade im Stall waren. Von den Fohlen, wie alt sie waren, wie man sie trainieren konnte, er sprach auch über das wilde Pferd, das Heinrich geschenkt bekommen hatte, und das keiner zähmen konnte. Er redete sich in Fahrt und beschrieb seine Vision, die der von Heinrich ziemlich nahekam.
Heinrich saß da und war verblüfft. Veit lachte ihn nicht aus und sprach ihm auch nicht das Talent ab.
Offenbar hatte er die gleichen Träume wie er selbst.
Am Schluss seiner Erklärungen, als er schon geendet hatte, fiel Veit die ursprüngliche Frage wieder ein. Deutlich scheuer als gerade noch fügte er hinzu: „Ich finde Eure Pläne wirklich gut, und ich würde gerne helfen, wie auch immer“.
Heinrich entspannte sich. „Gut, abgemacht. Wir fangen morgen an. Ich komme nach dem Gespräch mit dem Verwalter“.
Heinrich sprach jeden Morgen mit dem Verwalter, und künftig würde auch Martin dabei sein, der das Ganze ja lernen sollte. Plötzlich fand Heinrich, dass es eine gute Idee war, Martin zum Verwalter auszubilden. Heinrich wurde leicht rot. Er kam sich sehr selbstsüchtig vor. Martin war beschäftigt, und er konnte mit Veit die Pferde zureiten. Die Tatkraft packte ihn, und die Vorfreude.
Veit nickte. „Ich bin wahrscheinlich auf der Weide und bessere Zäune aus.“ Dann stand er auf. Heinrich gestattete ihm zu gehen, was Veit nach einer höflichen Verbeugung auch tat.
Auch er war voll Tatendrang und Vorfreude, die allerdings deutlich getrübt war. Er wusste einfach nicht, ob Heinrich seine Idee wirklich umsetzen würde, ob er dranbleiben würde, wenn es schwierig wurde. Ob er sich von Veit etwas sagen lassen würde, oder einfach nur jemanden brauchte, der die harte Arbeit für ihn verrichtete. Veit wusste es nicht. Er würde es ganz einfach abwarten müssen, etwas anderes blieb ihm – wie so oft – nicht übrig.