Читать книгу Mord im Auwald - Beate Maly - Страница 12
SECHS
ОглавлениеDen ganzen Nachmittag war Anton beschäftigt. Zuerst ging er einkaufen zum Greißler. Der Lehrling des freundlichen Kaufmanns half ihm dabei, Kaffee, Milch, Käse, Brot und Marmelade sowie Nudeln, Reis und Gemüse in den Leiterwagen zu tragen. Zufrieden mit der Ausbeute zog Anton den Wagen zur Badehütte und brachte ihn im Anschluss wieder zum Bahnhof. Als er danach einen Liegestuhl aufgestellt hatte und erschöpft darin ausrasten wollte, kamen Rosa und Lili angerannt.
»Opa, fährst du mit uns eine Runde mit dem Ruderboot?«
Ernestine stand in ihrem nagelneuen Badekostüm bereit. »Ich komme mit.«
Das Kostüm war dunkelblau mit kleinen weißen Tupfen. Sie sah darin entzückend aus. Auf dem Kopf trug sie einen passenden Sonnenhut aus Stoff. Unmöglich konnte Anton jetzt in seinem Liegestuhl bleiben. Er drängte seine Müdigkeit zur Seite und rappelte sich auf.
»Ich komme.«
Rosa musste Minna ins Boot heben, denn die Cockerspaniel-Dame hatte Bedenken ob des schwankenden Untergrunds. In beschaulichem Tempo ruderte Anton einen Donauarm mit stehendem Gewässer entlang in den Auwald. Im Garten neben dem Ferienhaus von Lili und ihrer Mutter winkte ihnen eine Frau von der Terrasse aus zu.
»Juhu!«
»Wer ist das?«, fragte Anton.
Ernestine blinzelte zum Steg. »Ohne Brille kann ich das leider nicht sehen.«
»Das ist die Frau aus dem Zug«, erklärte Rosa und winkte freudig zurück.
Jetzt erkannte auch Anton das ehemalige Kindermädchen. Martha Kolarik war nicht allein. Zwei Frauen saßen mit ihr unter einem dottergelben Sonnenschirm. Eine war jung und blond, mit einer riesigen Sonnenbrille auf der Nase, die andere deutlich älter. Die beiden unterhielten sich intensiv und schenkten dem vorbeifahrenden Boot keine Aufmerksamkeit. Die Badehütte, vor der sie saßen, verdiente den Namen »Auwaldvilla«. Der Holzbau auf Stelzen war von einem namhaften Architekten entworfen und errichtet worden. Klare Linien, große Glasflächen und ein modernes Flachdach erinnerten an die Handschrift von Adolf Loos. Anton ruderte in zügigerem Tempo weiter. Immer tiefer drangen sie in den Auwald vor. Die quakenden Frösche machten Minna nervös. Sie bellte einmal kurz und schreckte damit einen Graureiher auf, der aus einem der Gebüsche hochstieg und über ihren Köpfen elegant davonsegelte. Üppige Farne, dicke Lianen und Sumpfpflanzen hingen in das dunkle Donauwasser. Grüne Wasserlinsen schwammen darauf und verliehen der Landschaft einen Hauch Exotik. Es roch nach feuchter Erde und Fisch. Die Geräusche der Insekten wurden immer lauter und intensiver.
»Da möchte ich nicht baden gehen«, meinte Rosa. »Da sieht man ja gar nicht mehr, was sich am Grund befindet.«
»Sicher ganz viele große Fische, die nur darauf warten, einem in den Zeh zu beißen.« Lili kicherte.
»Es ist sehr vernünftig, dass ihr hier nicht schwimmt«, sagte Ernestine. »Die Fische sind nicht gefährlich, aber die Blutegel können unangenehm sein. Sie saugen sich an der Haut fest und trinken so lange Blut, bis sie satt sind und wieder abfallen.«
»Igitt!« Beide Mädchen schrien entsetzt auf, klammerten sich aneinander und hatten sichtlich Freude an dem schaurigen Gedanken blutsaugender Tiere.
Der Wasserlauf wurde zunehmend enger. »Hier geht es nicht weiter«, sagte Anton und versuchte umzudrehen.
Dazu musste er mit dem Heck ins dichte Grün fahren. Ein fetter Frosch sprang von einem der dicken Blätter, landete im Boot, blieb aber nur ganz kurz auf den Holzplanken sitzen und hüpfte mit einem lauten Klatschen ins Wasser. Schnell tauchte er unter.
»Ach, wie schade«, jammerte Rosa. »Vielleicht können wir ein paar Frösche fangen. Sie sind so süß.«
»Ja, wir setzen sie mit einer kleinen Leiter in ein Marmeladenglas, und dann beobachten wir sie. Bestimmt sagen sie uns das Wetter an.«
»Die armen Frösche«, sagte Ernestine. »Die Tiere ersticken in einem Marmeladenglas.«
»Aber nein, wir machen Löcher in den Deckel«, erklärte Rosa großmütig.
Deutlich langsamer, weil er zunehmend müde wurde, ruderte Anton wieder zurück. Wieder passierten sie die »Auwaldvilla«. Jetzt stand Martha Kolarik im Garten, nur ein paar Meter von ihnen entfernt. Wieder winkte sie ihnen zu.
»Herr Böck, Fräulein Kirsch, wollen Sie auf ein Stück Weichselkuchen vorbeischauen? Ich habe gerade frischen gebacken.«
Weichselkuchen? Das Wort klang wie liebliche Musik in Antons Ohren. Ohne die Antwort der anderen im Boot abzuwarten, lenkte er die Zille zum Ufer.
»Sie werden in den nächsten Wochen unsere Nachbarn sein, deshalb dachten wir, es wäre nett, wenn wir uns alle kennenlernen«, sagte Martha Kolarik.
Sie hatte ihr hochgeschlossenes Kleid gegen einen bunten Umhang aus leichtem Baumwollstoff getauscht, darunter trug sie ein dunkles Badekostüm. Trotz moderner Kleidung sah sie immer noch altbacken aus. Vielleicht lag es am goldenen Kreuz, das wie ein Mahnmal an ihrer Brust hing, oder an ihrer fahlen Gesichtsfarbe. Sie half, das Boot an einem Pfosten festzubinden. Einer nach dem anderen kletterte an Land. Rosa und Lili waren die Ersten.
»Bist du nicht die Kleine von Violetta Mader?«, fragte Martha Kolarik.
»Ja, ich bin die Lili.«
»Vielen Dank für die Einladung«, sagte Ernestine.
»Kommen Sie weiter. Wir haben auf der Terrasse schon alles vorbereitet.«
Offenbar hatten die drei Frauen auf die Rückkehr des Bootes gewartet, um ihre neuen Nachbarn zur Jause einzuladen. Auf einem Tisch standen Kaffee und Kuchen bereit. Die vornehm gedeckte Tafel erinnerte an eine der Kurkonditoreien in Baden.
»Opa, dürfen wir rübergehen und in Lilis Garten auf euch warten?«, fragte Rosa leise.
»Wollt ihr denn keinen Weichselkuchen?«
Die Mädchen sahen einander an. »Ihr könnt gern ein Stück mitnehmen.« Es war die junge blonde Frau, die diesen Vorschlag machte.
Das ließen die Mädchen sich nicht zweimal sagen. Dankend griffen sie sich zwei große Kuchenstücke und liefen mit Minna im Schlepptau in Lilis Garten.
»Ich kann verstehen, dass die Mädchen sich nicht mit uns alten Schachteln zu Tisch setzen wollen«, lachte Martha Kolarik.
Sie bat Anton und Ernestine, Platz zu nehmen. Die junge Frau, die immer noch unter dem Sonnenschirm saß, sah auf eine natürliche Art sympathisch aus. Sie stellte sich als Klara Kopf vor, die Tochter des großen Künstlers. Die andere Frau reichte zuerst Anton, dann Ernestine die Hand.
»Ich bin Franziska Magyar.« Sie war in Ernestines und Antons Alter und sprach im nasalen Schönbrunner Deutsch. »Ich bin Klaras Tante.«
Alles an ihrem Aussehen und ihrer Haltung ließ darauf schließen, dass sie reich war. An ihrem Hals glänzte eine dezente, aber garantiert teure Halskette aus Gold mit kleinen Diamanten, ihre beiden Ringfinger waren mit schweren Ringen geschmückt. Auch an ihren Ohrläppchen baumelten glitzernde Steine. Selbst die Sandalen an ihren Füßen waren aus gold gefärbtem Leder, das mit bunten Glassteinen besetzt war. Sie trug ein Sommerkleid aus reiner Seide, das mit Sicherheit aus einer der teuren Boutiquen am Graben stammte. An jedem anderen Ort hätte der skandalös tiefe Ausschnitt, der Einblick in ein nicht mehr ganz faltenfreies Dekolleté bot, für Aufsehen gesorgt. Hier in Kritzendorf war ein solcher Anblick völlig normal. Die Dame besaß eine erstaunlich üppige Oberweite. Das blasse Gesicht wurde vom Schatten eines riesigen, ausladenden Strohhuts geschützt. Nur ihr Mund lugte hervor. Die Lippen waren in einem ungewöhnlichen Orangeton geschminkt, passend zum orange gefärbten Haar, das ihr in Wellen auf die Schultern fiel. Die drei Gastgeberinnen hätten unterschiedlicher nicht sein können.
Das Geschirr am Tisch stammte aus der Wiener Porzellanmanufaktur. Es wirkte einen Hauch zu filigran und exquisit für eine Sommerbadehütte im Auwald.
»Kaffee oder Tee?«, fragte Martha Kolarik.
Obwohl sie zu Besuch hier war, übernahm sie die Rolle der Gastgeberin und Hausherrin.
»Kaffee«, sagten Anton und Ernestine gleichzeitig.
Während Martha Kolarik duftenden Filterkaffee in die Tassen schenkte, sah Ernestine sich um. »Hatten Sie Besuch von Gustav Preisel?«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Franziska Magyar irritiert.
»Dieser Karton, der an der Wand lehnt. Der stammt doch von ihm. Oder?«
Alle drehten die Köpfe zur Holzwand neben der hohen Glastür. Es war der Karton, den Anton zuvor für Gustav Preisel transportiert hatte. Die Verpackung war geöffnet worden. Das Papier war nur noch lose um die Leinwand gewickelt.
»Günther hat mir das Bild schon seit Jahren versprochen. Jetzt hat er es endlich mitgebracht«, sagte Klara Kopf.
»Günther? Ich dachte, der Maler heißt Gustav«, sagte Anton, der für gewöhnlich ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis hatte.
»Herr Preisel hat seinen Vornamen geändert, wohl in der Hoffnung, dass, wenn er den Namen seines Lehrers trägt, ein wenig von dessen Ruhm auf ihn abfärbt«, erklärte Martha Kolarik.
»Seit wann magst du Bilder zweitklassiger Künstler?«, fragte Franziska Magyar ihre Nichte abfällig.
»Es ist ein Bild von Mama.« Die Stimme der jungen Frau wurde leiser.
»Wann hat Günther Preisel meine Schwester porträtiert?«
»Es ist kein Porträt.« Martha Kolarik räusperte sich dezent.
Franziska Magyar ignorierte die Bemerkung. Sie sah Klara eindringlich an und wartete auf eine Antwort.
»Das Bild ist in der Zeit entstanden, als Günther in Wien studiert hat.«
»Pah, das sieht meiner kleinen Schwester ähnlich. Sich von diesem untalentierten Möchtegernkünstler malen zu lassen.« Sie schnaufte verständnislos. »Sie hat ihr ganzes Leben lang absonderlichste Dinge getan. Die unsinnigste Sache war ihre Ehe mit Emil Kopf.«
»Es gibt Leute, die mögen Gustavs Bilder.« Klara Kopf hielt Martha Kolarik ihre leere Tasse entgegen. »Für mich auch noch einen Schluck, bitte.«
»Jetzt haben Sie mich furchtbar neugierig gemacht«, sagte Ernestine. »Dürfen Herr Böck und ich das Gemälde sehen? Wir finden Kunst äußerst spannend.«
Anton verschluckte sich. Sein Interesse galt ausschließlich dem duftenden Weichselkuchen auf dem Servierteller in der Mitte des Tisches.
»Aber natürlich«, sagte Klara Kopf. »Martha und ich haben zuvor einen Blick darauf geworfen. Ich finde, dass Gustav Mama gut getroffen hat.«
Klara Kopf stand auf. Sie trug ein dunkelrotes Badekostüm und darüber einen ärmellosen Seidenmantel, der lose ihren schlanken Körper umspielte.
»Stammt Ihr Mantel auch aus dem Laden im Strombad? Der Schnitt ist außergewöhnlich«, sagte Ernestine.
»Ja«, sagte Klara Kopf erstaunt. »Marthas übrigens auch. Nur Tante Franzi mag die Mäntel aus dem Gelsenstüberl nicht.«
»Das ist billiger Plunder!«, empörte sich die vornehme Dame. »Diese Madam Fischer, wie sie sich nennt, ist keine Designerin, sondern bloß eine einfache Schneiderin, die sich selbstständig gemacht hat.«
»Es ist doch völlig egal, was sie ist, Tante. Hauptsache, ihre Produkte überzeugen ihre Kundinnen.«
Mit geschickten Griffen entfernte Klara Kopf das Papier, hob das Gemälde hoch und warf zuerst selbst einen ausführlichen Blick darauf. Wehmut legte sich über ihr hübsches Gesicht. Trotz der Sonnenbrille konnte man die Traurigkeit in ihren Augen erahnen. Langsam drehte sie das Gemälde zu den anderen.
Es handelte sich um eine sehr moderne Darstellung einer jungen, nur spärlich gekleideten Frau, die mit überkreuzten Beinen auf einem Sofa saß. Sie war schlank und blond, mit einem kantig geschnittenen Gesicht und einer geraden Nase. Sie trug ein wallendes Nachthemd, das ihr lasziv über die rechte Schulter hing. Die Farbwahl des Gemäldes war ungewöhnlich: kräftige, satte Töne. Goldene Elemente im Hintergrund erinnerten an Gustav Klimt. Trotz der sehr eigenwilligen Pinselführung war die Ähnlichkeit der Frau mit Klara Kopf unübersehbar.
»Ich verstehe, dass Günther oder Gustav Preisel es nie zu Ruhm geschafft hat«, schnaufte Franziska Magyar abfällig. »Wer hängt sich freiwillig so ein Bild ins Wohnzimmer?«
»Ich werde es tun«, sagte Klara Kopf.
»Seit Tagen mustern wir den Dachboden der Hütte hier aus, und du kaufst neues Gerümpel.«
»Ich mag das Bild.«
»Hat dir dein Vater jemals das Perlenarmband gegeben, das Emma auf dem Bild trägt?«, fragte Franziska Magyar.
Anton musste genau hinsehen, um das Schmuckstück zu erkennen. Aber ja, am rechten Handgelenk befand sich ein doppelt gewickeltes Perlenarmband mit einem roten Rubinanhänger.
»Nein«, sagte Klara Kopf traurig.
»Ich werde mit ihm reden. Das Armband stammt von deiner Großmutter. Es ist ein Familienerbstück, das seit Jahren den von Waldhofens gehört. Es steht dir zu. Wenn du es nicht einforderst, trägt es bald Emils neue Frau oder deren grässliche Tochter. Emil hat schon zu Emmas Lebzeiten ihren Schmuck verschenkt. Meine Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie davon erführe.«
Anton war überrascht ob der direkten Worte. Auch Ernestine hob die Augenbrauen. Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, beschloss er, nicht mehr länger zu warten.
»Darf ich?«, fragte er mit Blick auf den Kuchenteller.
»Ja, natürlich, greifen Sie zu, Herr Böck. Noch ist der Kuchen warm.« Martha Kolarik hielt ihm den Servierteller entgegen. Freudig langte Anton zu.
»Sie haben eine Stiefmutter und eine Stiefschwester?«, erkundigte sich Ernestine.
Klara Kopf legte die Sonnenbrille ab und lachte, doch das Lachen erreichte ihre Augen nicht. Es blieb rund um die Mundpartie stecken. »Klingt ein bisschen nach Klischee, wie im Märchen.«
»Der Vergleich passt gut, denn Elfriede und Marlene benehmen sich wie die bösen Frauengestalten im Märchen«, sagte Martha Kolarik.
»Das stimmt so nicht«, entgegnete Klara Kopf. »Es ist auch Papas Schuld, dass die Dinge so sind, wie sie sind.«
»Du bist einfach zu gut für diese Welt«, seufzte Martha Kolarik.
»Was tun Stiefmutter und Stiefschwester, dass Sie an böse Märchenfiguren erinnert werden?«, wollte Ernestine wissen.
»Das Übliche«, antwortete Franziska Magyar. »Sie sind auf Emils Geld aus. Aber mein ehemaliger Schwager ist um keinen Deut besser, auch er kann nicht genug bekommen. Ich behaupte, dass er meine Schwester ausschließlich wegen ihrer Mitgift geheiratet hat. Dieser lächerliche Angsthase.«
»Angsthase?«, wiederholte Ernestine.
»Er hat eine krankhafte Insektenphobie. Schlimmer als jedes kleine Mädchen.«
»Ach, Tante Franzi. Du bist zu streng mit Papa. Das Finanzielle ist längst geregelt und die andere Sache Schnee von gestern«, beschwichtigte Klara Kopf.
»Welche Sache?«, fragte Ernestine.
Anton fixierte peinlich berührt seine Kuchengabel. Ungeheuerlich, wie hartnäckig Ernestine die arme junge Frau ausfragte.
»Diese Badehütte gehörte meinen Eltern. Elfriede Schlögel war sie immer ein Dorn im Auge, weil meine Eltern hier gute Zeiten verbracht hatten. Sie hat meinen Vater dazu überredet, sie zu verkaufen und eine größere und luxuriösere Hütte in der zweiten Reihe zu erstehen. Sie hat das gemacht, obwohl sie wusste, wie sehr ich an dieser Hütte hänge. Zum Glück hat meine Tante die ›Auwaldvilla‹ gekauft, und jetzt gehört sie mir.«
»Ich habe einen Strohmann vorgeschickt, der gewieft verhandelt hat. Trotzdem ist es ein Skandal, dass meine Nichte sich ihr Erbe, das ihr rechtmäßig zusteht, erkaufen muss«, sagte Franziska Magyar. »Heute Abend werde ich deinen Vater auf das Armband ansprechen. Nicht wegen des Geldes, sondern wegen des ideellen Wertes.«
Klara Kopf stellte das Bild wieder zurück an die Hauswand. Sorgfältig wickelte sie das Packpapier um das Gemälde.
»Hast du vor, Günther oder Gustav, wie auch immer er sich nennt, für das Bild Geld zu geben?«
»Ja, natürlich.« Klara Kopf setzte sich wieder unter den Sonnenschirm. Noch bevor ihre Tante weitere Fragen stellen konnte, sagte sie bestimmt: »Ich will über die Summe nicht reden.« Ihre Bemerkung erstickte jeden weiteren Kommentar zu dem Thema im Keim.
Ernestine bemühte sich, die Stimmung wieder etwas aufzuhellen. »Magyar ist doch ein ungarischer Name, oder?«, fragte sie fröhlich.
»Ja, mein verstorbener Mann war Ungar.«
»Haben Sie in Ungarn gelebt?«
»Bis vor vier Jahren.« Franziska Magyar winkte ab, als Martha Kolarik ihr ein Stück Kuchen auf den Teller legen wollte. »Es ist zu heiß für so ein Gebäck. Außerdem muss ich in meinem Alter auf meine Linie achten.« Sie schaute vorwurfsvoll zu Ernestine, die genussvoll vom Kuchen abbiss.
Auch Anton konnte der Idee, dass es zu heiß für Kuchen sein sollte, nichts abgewinnen. Er hatte seine Portion schon beinahe aufgegessen. Der saftige Teig mit den säuerlichen Kirschen schmeckte himmlisch.
»Nach dem Tod meines Mannes hat mich nichts mehr in dem Land gehalten, in dem ich mich nie wohlgefühlt habe«, erklärte Franziska Magyar.
»Oh, das tut mir leid«, sagte Ernestine betroffen.
»Das muss es nicht«, antwortete sie. »Mein Mann hat mich zu einer sehr reichen Frau gemacht. Ich habe nach seinem Tod alles in Ungarn verkauft, mein Vermögen geschnappt und bin damit zurück nach Österreich gesiedelt. Jetzt wohne ich wieder bei meinem Vater. Er ist froh über Gesellschaft, und wenn es die Zeit zulässt, besuche ich meine Nichte.«
»Ihr Vater wohnt auch hier in Kritzendorf?«
»Aber nein, er verabscheut dieses freizügige Leben in der Au. Mein Vater ist ein sehr traditionsbewusster, konservativer Mann. Wenn es nach ihm ginge, hätten wir immer noch einen Kaiser, die Frauen trügen lange Röcke, und der Walzer wäre ein unsittlicher Tanz.«
Klara Kopf kicherte. »Mein Großvater kann nicht nachvollziehen, dass Menschen den ganzen Tag über im Badekostüm herumlaufen. Das findet er abscheulich und er ist davon überzeugt, dass die verlotterten Sitten zum Untergang des Abendlandes führen werden.«
Anton konnte den Mann gut verstehen. Bis vor Kurzem hätte er sich auch nicht vorstellen können, mit vier Damen eine Nachmittagsjause einzunehmen, von denen zwei in Badeanzügen, eine im Bademantel und die Älteste in einem freizügigen Sommerkleid am Tisch saßen. Doch er war neuen Ideen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen. Im Moment fand er die Situation durchaus erfreulich.
»Der Weichselkuchen ist köstlich«, sagte Anton zufrieden.
»Bitte, nehmen Sie doch noch ein Stück, Herr Böck.« Martha Kolarik reichte ihm erneut den Servierteller.
»Werden Sie heute Abend auch zur Gesangsdarbietung ins Strandcafé kommen?«, fragte Ernestine.
»Ja, natürlich. Das lassen wir uns nicht entgehen«, sagte Klara Kopf.
Die Damen waren alle der gleichen Meinung. Nur Anton hoffte, dass Minna ihm eine überzeugende Ausrede bieten würde. Kopfschmerzen oder Müdigkeit aufgrund der Sonne würde Ernestine niemals akzeptieren.
Und Minna verhalf Anton zu seinem wohlverdienten ruhigen Abend. Sie weigerte sich, allein in der Hütte zurückzubleiben, die sie nicht kannte, und begann zu heulen, sobald sie die Tür hinter ihr schlossen.
»Ich werde auf das Konzert verzichten und dem Hund Gesellschaft leisten«, sagte Anton tapfer.
»Wirklich, Opa? Das ist soooo lieb von dir!« Rosa umarmte ihn. »Lili darf auch hingehen.«
»Wir können Minna mitnehmen«, schlug Ernestine vor.
Aber Anton war dagegen. »So viele Menschen würden das arme Tier verängstigen.«
»Hm!« Ernestine stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Anton errötete, er fühlte sich durchschaut.
»Wenn ihr mir hinterher alles genau erzählt, dann ist es fast so, als wäre ich dabei gewesen«, sagte er.
Am Gartenzaun warteten Lili und ihre Mutter bereits.
»Schnell, sonst bekommen wir keine Plätze mehr, wir müssen uns beeilen«, drängte Violetta Mader.
Rasch liefen Ernestine und Rosa los.
Sobald sie außer Sichtweite waren, holte sich Anton ein Glas Ribiselwein aus der Küche. Das Getränk erfreute sich in Kritzendorf großer Beliebtheit. Seit die aus Amerika eingeschleppte Reblaus den Weingärten der Gegend zusetzte, war man auf diese süße Alternative zum Wein umgestiegen. Die Reblaus konnte den robusten Pflanzen, die in großen Mengen angebaut wurden, nichts anhaben. Anton klappte den Liegestuhl erneut auf und machte es sich darin bequem. Minna legte sich mit einem zufriedenen Schnaufen zu ihm. Konnte es eine bessere Art geben, den Abend ausklingen zu lassen? Endlich war Anton in der Sommerfrische angekommen.