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EINS

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Wien, August 1924

»Heute Nacht werde ich mein Bettzeug in den Garten tragen und in der Laube schlafen. Es ist einfach zu heiß hier drinnen.«

Anton fächerte sich Luft mit dem Sportteil der Tageszeitung zu. Seit Wochen lähmte eine Hitzewelle das Leben in Wien. Die asphaltierten Straßen glühten, und die Luft darüber flimmerte. Die Menschen versuchten sich ausschließlich im Schatten zu bewegen, um jeden Schritt in die Sonne zu vermeiden. Um die Mittagszeit, wenn die Sonne im Zenit stand, war die Stadt wie ausgestorben. Wer es sich leisten konnte und nicht arbeiten musste, drängte in die großen Freiluftbäder wie das Gänsehäufel in der Alten Donau oder das Krapfenwaldlbad in Döbling.

Anton war Apotheker im Ruhestand. Vor zwei Jahren hatte seine Tochter Heide das Geschäft übernommen und leitete es mittlerweile mit großem Erfolg. Wenn Not am Mann war, sprang Anton helfend ein. Besonders im Winter, während der Grippezeit, unterstützte er Heide tatkräftig. Im Moment gab es nicht viel zu tun. Die Kunden verlangten hauptsächlich nach Salben gegen Insektenstiche und Sonnenbrand. Hin und wieder brauchte jemand Schmerzmittel oder Ohrentropfen.

»Warum fährst du nicht ein paar Tage nach Kritzendorf?«, fragte seine Tochter Heide.

Wie zahllose andere junge Frauen war Heide im letzten Kriegsjahr Witwe geworden. Ihre Tochter Rosa hatte ihren Vater nie kennengelernt. Viele Jahre hatte Heide um ihren Mann getrauert, bis vor zwei Jahren Erich Felsberg, ein junger Polizist, in ihr Leben getreten war und ihr dabei geholfen hatte, ihre Zukunft wieder in einem neuen Licht zu sehen.

»Simon Goldblatt hat dir doch auch in diesem Jahr angeboten, dass du seine Badehütte nutzen kannst. Jetzt wäre die beste Gelegenheit dazu.«

Anton legte die Zeitung auf den Tisch. Sein alter Schulfreund, der Rechtsanwalt Simon Goldblatt, hatte von seiner Tante eine Badehütte geerbt, die die meiste Zeit des Jahres leer stand. Goldblatt verbrachte seine Sommer lieber in den Bergen, wo die Luft klar und frisch war und in den Nächten die Temperaturen deutlich sanken.

»Ich soll allein nach Kritzendorf fahren?«, fragte Anton.

»Natürlich nicht allein. Rosa wird begeistert sein. Sie beschwert sich ohnehin seit Tagen, dass ihre Sommerferien langweilig sind.«

Rosa war Antons siebenjährige Enkeltochter, sie hatte eben die erste Klasse hinter sich gebracht.

»Wie kann Rosa fad sein?«, fragte Anton.

Heide lachte. »Stimmt, seit Minna im Haus ist, darf sich niemand über Langeweile beklagen.«

Minna war eine Cockerspaniel-Dame, die seit vier Wochen die Wohnung mit Heide, Rosa und Anton teilte. Monatelang hatte Rosa ihrer Mutter und ihrem Großvater in den Ohren gelegen, bis Heide schließlich nachgegeben hatte. Seither war Antons beschauliches Leben deutlich turbulenter und anstrengender geworden. Lange, ausgedehnte Spaziergänge gehörten zum neuen Alltag.

»Außerdem gibt es da eine ganz bestimme Person, von der ich annehme, dass du sie gern in Kritzendorf dabeihaben würdest.« Heide legte den Kopf schräg und grinste vielsagend, sodass Anton errötete und sich verlegen räusperte. »Sicher wird Ernestine mitkommen, wenn du sie fragst.«

Ernestine Kirsch war eine pensionierte Lateinlehrerin, an die Anton eine kleine Mansardenwohnung über seiner Apotheke vermietete. Wenn er an sie dachte, wurde ihm heiß und sein Herz schlug einen jugendlich schnellen Rhythmus. In den letzten Jahren hatten die beiden viel Zeit miteinander verbracht, sie hatten so manches Abenteuer bestanden und waren sich dabei nähergekommen. Im Frühjahr waren sie gemeinsam auf Kur in Baden gewesen. Seither duzten sie sich.

»Möglich, dass sie mich und Rosa begleiten würde«, sagte er.

In Gedanken ging er das Gespräch durch. Die Chancen standen gut, dass Ernestine mitkommen wollte. Das Strombad Kritzendorf war eines der beliebtesten Naherholungsgebiete der Großstadt. Es wurde auch liebevoll die Wiener Riviera genannt. Jedes Wochenende fuhren bis zu zehntausend Menschen mit der Franz-Josefs-Bahn in die Donauauen, um dort Freiheit und Naturerlebnis zu genießen. Im Musikpavillon spielten die Wiener Symphoniker, und die Menschen tanzten im Badekostüm dazu. Dieses Ambiente war genau nach Ernestines Geschmack.

»Aber was ist mit Minna?«, fragte Anton.

Nun war es Heide, die sich verlegen räusperte.

»Darf ich dich daran erinnern, dass ich keinen Hund wollte«, sagte Anton streng.

»Wie soll ich mich denn um die Apotheke kümmern, wenn –« Weiter kam sie nicht, denn genau in dem Moment öffnete sich die Wohnungstür. Die Cockerspaniel-Dame sauste ins Wohnzimmer. Ein semmelbraunes Fellknäuel mit Schlappohren lief direkt zu Anton und begrüßte ihn mit so viel Freude und Überschwang, dass man meinen könnte, sie hätte ihn seit Tagen nicht gesehen. Dabei war Rosa gerade mal eine halbe Stunde mit ihr spazieren gewesen. Heide schenkte sie keine Beachtung.

»Sie liebt dich«, sagte Heide.

»Hm!« Anton bückte sich und kraulte Minna hinter den Ohren.

Die junge Hündin stieß ihn mit der feuchten Schnauze gegen das Bein und sah ihn mit treuherzigen Augen an. Sie vermittelte den Eindruck, als sei sie die bravste Hündin auf Gottes Erdboden, dabei hatte sie heute Morgen Antons Lieblingshausschuhe zerkaut.

»Meinetwegen«, gab Anton nach. »Wir nehmen Minna mit.«

»Wohin nehmen wir Minna mit?«, fragte Rosa.

Sie war im letzten Jahr um ein gutes Stück gewachsen. Der Rock, der vor Kurzem noch ihre Knie bedeckt hatte, zeigte jetzt vom Spielen aufgeschürfte Hautstellen.

»Wir beide ziehen mit Minna bis zum Ferienende nach Kritzendorf«, sagte Anton. »Mit etwas Glück können wir Ernestine dazu überreden, uns zu begleiten.«

»Drei Wochen im Strombad?« Rosa klatschte vor Begeisterung in die Hände und hüpfte aufgeregt auf und ab. Ihre geflochtenen Zöpfe wippten dabei fröhlich mit.

»Ich muss meinen alten Schulfreund anrufen und nachfragen, ob sein Angebot noch steht.«

Seit ein paar Monaten hatten Anton und Heide einen Telefonanaschluss in der Apotheke. Rosa lief zur Wohnungstür. Minna sprang ihr hinterher.

»Wo gehst du hin?«, rief ihr Heide nach.

»Zu Ernestine. Wir dürfen keine Zeit verlieren und müssen packen.«

Schon war sie im Stiegenhaus und polterte die Stufen hinauf zur Mansardenwohnung.

»Besser du rufst Simon Goldblatt gleich an«, meinte Heide. »Wie ich Ernestine kenne, werdet ihr morgen Früh im ersten Zug Richtung Kritzendorf sitzen.«

Mord im Auwald

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