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ZWEI

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Sie nahmen nicht den ersten Zug, aber bereits um zehn Uhr am Vormittag befanden sich Anton, Ernestine, Rosa und Minna in der Franz-Josefs-Bahn. Sie hatten Plätze im vorderen Teil ergattert, was ein Glück war. Da die Lokomotive sich in der Mitte des Zuges befand, um die Waggons sowohl ziehen als auch schieben zu können, wurden die Passagiere in den hinteren Wägen vom Rauch der Kohle eingehüllt. Da half es auch nicht, die Fenster geschlossen zu halten.

»Hoffentlich habe ich nichts vergessen«, sagte Ernestine.

Genau wie Anton es erwartet hatte, war sie sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte noch gestern Abend damit begonnen, ihren Koffer zu packen, der jetzt in der Gepäckablage über ihr lag.

»Wie passend, dass ich letzte Woche im Kaufhaus Herzmansky auf der Mariahilfer Straße ein neues Badekostüm erstanden habe.« Ernestine rieb sich zufrieden die Hände. »Wer hätte gedacht, dass ich es so schnell ausführen kann.«

»Ich nehme an, dass es das wichtigste Kleidungsstück der nächsten drei Wochen sein wird«, sagte Anton.

Die Vorstellung, Ernestine drei Wochen im Badekostüm zu sehen, gefiel ihm. Er mochte ihre Rundungen, ebenso wie ihre grauen Locken und ihre blitzblauen Augen, denen selten etwas entging.

»Wir tragen drei Wochen nur einen Badeanzug?«, fragte Rosa erstaunt.

»Hin und wieder vielleicht auch einen Bademantel«, lachte Ernestine.

»Das glauben mir meine Freunde in der Schule nie!« Rosa strahlte. Sie konnte es kaum erwarten, nach Kritzendorf zu kommen.

»Es ist wirklich sehr großzügig von deinem Jugendfreund, dass er uns seine Badehütte zur Verfügung stellt«, sagte Ernestine zu Anton.

»Simon ist froh, dass die Hütte nicht leer steht. Den Schlüssel sollen wir bei seiner Nachbarin abholen, einer Frau Violetta Mader. Angeblich hat sie eine Tochter in Rosas Alter.«

»Oh, fein. Hoffentlich ist sie nett.« Rosa rutschte vorfreudig auf der Holzbank hin und her. Aufgeregt presste sie ihr Gesicht so nah an die Fensterscheibe, dass ihre Nase einen Abdruck hinterließ. Draußen zog die Donau an ihnen vorbei.

»Ist hier noch frei?«

Eine Frau um die fünfzig zeigte auf den freien Platz neben Rosa. Sie trug ein altmodisches, hochgeschlossenes Kleid, das längst aus der Mode gekommen war und für die Temperaturen viel zu warm war. In ihrer Rechten hielt sie eine geblümte Reisetasche. Um ihren Hals hing eine goldene Kette mit einem schlichten goldenen Kreuz.

»Ja, natürlich. Wenn Sie unser Hund nicht stört«, sagte Anton. Minna war aufgesprungen und beschnupperte die Frau.

»Minna tut Ihnen nichts«, versicherte Rosa. »Sitz, Minna.« Sie drückte das Hinterteil des Cockerspaniels nach unten. Sofort sprang Minna wieder auf.

Nun versuchte Anton, den Hund zu bändigen. Minna schleckte ihm übers Gesicht. »Igitt, Minna. Pfui!« Angeekelt holte er sein kariertes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte über die nasse Stelle.

»Sitz«, mischte sich Ernestine ein. Sofort setzte sich Minna und verharrte in dieser Stellung. Hechelnd sah sie zu Ernestine hoch.

»Wie machst du das?«, fragte Anton.

»Natürliche Autorität.«

Die Frau nahm neben Rosa Platz. Ihre Reisetasche hielt sie auf ihrem Schoß fest.

»Das ist ein sehr schöner Hund«, sagte sie. »Ich mag Hunde.« Sie streckte Minna die Hand entgegen. Die Hündin beschnupperte sie und ließ sich bereitwillig streicheln.

»Haben Sie selbst einen?«, fragte Ernestine.

»Ich nicht, aber die Frau, für die ich vor Jahren gearbeitet habe, hatte einen. Leider starben Hund und Frauchen in derselben Nacht.«

Ein Schatten legte sich über die farblosen Wangen der Mitreisenden. Mit etwas Schminke hätte sie als attraktiv durchgehen können. Doch sie schien wenig Wert auf ihr Äußeres zu legen. Der graue Farbton ihres Kleides entsprach dem ihres lieblos frisierten Haares.

»Oh, wie traurig. Gab es einen Zusammenhang?« Ernestine war von jeher eine neugierige Person, die am Schicksal anderer interessiert war.

»Das weiß man nicht«, sagte die Frau. »Emma Kopf kam bei einem nächtlichen Badeunfall ums Leben, ihr Hund wurde Tage später ebenfalls tot aus dem Wasser gezogen. Man hat nie erfahren, woran das Tier gestorben ist, es konnte ja schwimmen.«

Anton sah besorgt zu seiner Enkelin. Er fand, dass Rosa zu jung für derlei Schauergeschichten war, aber die Frau redete munter weiter.

»Es gab böse Stimmen, die behaupteten, dass Frau Kopf beim Schwimmen von ihrem eigenen Hund angegriffen wurde und sie deshalb unterging.«

»Was für eine Tragödie«, sagte Ernestine betroffen. »Handelt es sich bei der Verstorbenen um die Frau von dem berühmten Künstler Emil Kopf?«

»Ja, ich habe viele Jahre für die Familie gearbeitet. Ich war das Kindermädchen ihrer Tochter, Klara.«

Ernestine tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Nase. »Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe damals von dem schlimmen Unfall in der Zeitung gelesen. Die Frau ist ertrunken, obwohl sie eine hervorragende Schwimmerin gewesen ist.«

»Ja, das war sie. Wir waren alle entsetzt. Es konnte auch niemand glauben, dass ausgerechnet der Hund sie getötet haben soll. Es war ein loyales Tier, das ihr wie ein Schatten überallhin gefolgt war. Er hat ebenso treuherzig dreingeschaut wie Ihre Minna.«

»War es auch ein Cockerspaniel?«, fragte Rosa.

»Nein, es war ein größerer Hund, ein Dalmatiner.«

»Oh, die lustigen weißen Hunde mit den schwarzen Punkten?«

Die Frau seufzte. »Man weiß eben nie, was wirklich in einem Tier vorgeht. Auch wenn sie noch so harmlos aussehen, können sie zu gefährlichen Bestien werden.«

»Nicht meine Minna«, sagte Rosa entschieden. Sie hielt der Hundedame die Ohren zu, damit sie die bösen Worte nicht hören konnte.

Anton fand die geschwätzige Frau zunehmend anstrengend. Warum hatte sie sich ausgerechnet zu ihnen gesetzt?

»Stimmt es, dass Emil Kopf in einem Haus in Klosterneuburg wohnt?«, fragte Ernestine.

»Ja, ich bin auf dem Weg zu seiner Tochter. Klara und ich stehen immer noch in engem Kontakt.« Die Frau streckte ihre Hand über die geblümte Reisetasche. »Mein Name ist Martha Kolarik.«

»Sehr erfreut. Ernestine Kirsch.« Sie ergriff die Hand und schüttelte sie. Auch Anton und Rosa stellten sich vor.

»Ach, Sie sind gar keine Familie«, sagte Martha Kolarik überrascht.

»Doch«, mischte sich Rosa ein. »Ernestine gehört zur Familie. Zumindest sagt Mama das.«

»Wirklich?« Ernestine hob amüsiert die Augenbrauen.

Antons Wangen wurden heiß. Plötzlich fand er die Donau unglaublich interessant. Er sah konzentriert aus dem Fenster.

»Dann werden Sie wohl in der Stadt Klosterneuburg wohnen«, mutmaßte Ernestine.

Abwehrend wedelte Martha Kolarik mit der Hand. »Aber nein, ich besuche Klara in der Badehütte ihrer Tante.«

»Wir ziehen auch in eine Badehütte«, sagte Rosa.

»Wie schön. In welche denn?«, wollte Martha Kolarik wissen.

»In die von Herrn Böcks Freund Simon Goldblatt. Er hat derzeit keine Verwendung für die Hütte.«

»Nein, was für ein Zufall. Klaras Hütte liegt ganz in der Nähe. Ich kenne Herrn Goldblatt nur flüchtig. Nutzt er die Hütte überhaupt noch?«

»Simon ist nur sehr selten in Kritzendorf«, sagte Anton und wandte sich wieder vom Fenster weg.

Die Frau schien sich gut in der Sommersiedlung auszukennen.

»Ich komme Klara seit vier Jahren besuchen. Genau genommen seit sie aus dem Internat in der Schweiz zurückgekommen ist.«

»Fräulein Kopf wohnt nicht mehr bei ihrem Vater?« Ernestines Anteilnahme an ihren Mitmenschen war schier grenzenlos.

»Den Sommer verbringt sie in der Badehütte ihrer Tante. Herr Kopf und seine neue Frau haben ebenfalls eine Hütte in der Siedlung. Im Winter ließ es sich bisher nicht vermeiden, dass Klara hin und wieder auch im Haus ihres Vaters in Klosterneuburg lebt. Das wird sich bald ändern. Die Situation ist für alle Beteiligten äußerst unerfreulich.«

»Ich habe gelesen, dass Herr Kopf nach dem Tod seiner Frau wieder geheiratet hat.«

Es war erstaunlich, was Ernestine wusste. Würde Anton sich nicht ausschließlich dem Sportteil widmen, wüsste er vielleicht auch über das Leben bedeutender Künstler Bescheid. Immerhin war ihm bekannt, dass Emil Kopf als berühmtester Bildhauer und Maler der Gegenwart galt.

»Seine neue Frau, Elfriede, ist eine ganz schreckliche Person«, schimpfte Martha Kolarik.

Anton fand es außergewöhnlich, wie freizügig die ehemalige Kinderfrau Privates ihrer Dienstgeber ausplauderte.

»Nächste Station Kritzendorf!« Der Schaffner ging mit schneidender Stimme durch den Waggon.

»Oh, wir sind schon da«, sagte Ernestine. »Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man sich angeregt unterhält.«

»Das stimmt.« Martha Kolarik stand auf. »Ich bin sicher, dass wir uns in den nächsten Tagen wiedersehen werden. Kritzendorf ist klein und überschaubar. Man trifft sich im Strombad und begegnet dort auch den Menschen, denen man lieber aus dem Weg gehen will.« Sie lachte. »Damit meine ich natürlich nicht Sie.«

Mord im Auwald

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