Читать книгу Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern – Band 3 - Benedikt Sturzenhecker - Страница 16
Warum ist demokratische Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Kommune zu fördern?
ОглавлениеDas ergibt sich zunächst aus der schon oben geführten rechtlichen Argumentation. Wenn Kinder und Jugendliche „Subjekte des Grundgesetzes“ sind, haben sie den Status als Bürger*innen. Damit gelten die demokratischen Partizipationsrechte auch für sie. Ohne hier die Frage eines Wahlrechts für Kinder diskutieren zu wollen, wird argumentiert, dass Kinder und Jugendliche ihr Recht auf Mitbestimmung besonders dort wahrnehmen sollten, wo sie täglich leben. Die Mündigkeitsunterstellung meint, dass alle Menschen Expert*innen sind, wenn sie konkret von etwas betroffen sind – anders gesagt: Betroffenheit bedeutet Expertise. Betroffenheit ist dort am stärksten, wo die Menschen im Alltag leben und arbeiten. Obwohl virtuelle Welten für viele Menschen (auch für Kinder und Jugendliche) zumindest geistige Lebens- und Handlungsorte darstellen, sind doch gerade die Notwendigkeit eines materiellen Lebensortes und die materielle Erhaltung des eigenen Lebens in Kooperation mit anderen an einem solchen Ort unaufhebbar. Man braucht ein Dach über dem Kopf, Orte der (Aus-)Bildung wie Schulen, Kitas und Jugendeinrichtungen, Verkehrsmittel und Verkehrsinfrastruktur, Läden und Märkte, Gesundheitseinrichtungen, Orte der Freizeitgestaltung und des Spiels, der Religionsausübung, der Geselligkeit, der Politik, der Rechtsprechung und so weiter. All diese Orte sind geprägt durch ihre materielle Örtlichkeit, aber ebenso durch das soziale Handeln, mit dem Menschen deren Bedeutung und deren Wirkungen überhaupt erst herstellen. Es handelt sich in diesem Sinne um soziale Räume beziehungsweise Sozialräume.
Üblicherweise sind solche Orte der Herstellung und des Erhalts des sozialen und materiellen Lebens auf einem Territorium zu einem Netz von Orten verbunden, das hier als Kommune bezeichnet wird. Der Begriff kommt vom lateinischen „communis“, das „gemeinsam“ bedeutet, zusammengesetzt aus dem Präfix „con“ – das „mit“ bedeutet – und „munis“ mit der Bedeutung von „gefällig, dienstfertig“. Gefällig bedeutet im Deutschen unter anderem, sich einen Gefallen tun, sich einen Dienst erweisen. Eine Kommune ist etymologisch also ein Ort, an dem Menschen einander gefällig handeln, an dem man sich gegenseitig Dienste leistet. Es handelt sich um eine Gemeinde, die nicht nur durch ihren territorialen Zusammenhang gekennzeichnet ist, sondern zentral durch das gegenseitige soziale Füreinander-Sorgen. Das Gemeinschaftliche, das im Begriff der Gemeinde zum Ausdruck kommt, spiegelt sich in der Mitgliedschaft der Bürger*innen in der politisch verfassten Kommune, wo Mitglieder auch das Recht auf Mitbestimmung haben. Kinder und Jugendliche sind in solche sozialen und politischen Gemeinschaften vor Ort eingebunden. Sie sind ebenso wie die Erwachsenen real und rechtlich Mitglieder der Kommune, also Bürger*innen.
Auf solche Erkenntnisse antworteten seit den 1990er-Jahren unterschiedliche Konzepte zur Stärkung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen in den Kommunen. Das hatte beispielsweise zur Folge, dass Bundesländer wie Schleswig-Holstein oder Hamburg in ihren Gemeindeordnungen, also den kommunalen Verfassungen, starke Regeln zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an kommunalen Entscheidungen schufen. So formuliert die Gemeindeordnung Schleswig-Holstein in § 47f: „(1) Die Gemeinde muss bei Planungen und Vorhaben, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, diese in angemessener Weise beteiligen. Hierzu muss die Gemeinde über die Beteiligung der Einwohnerinnen und Einwohner nach den §§ 16a bis 16f hinaus geeignete Verfahren entwickeln. (2) Bei der Durchführung von Planungen und Vorhaben, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, muss die Gemeinde in geeigneter Weise darlegen, wie sie diese Interessen berücksichtigt und die Beteiligung nach Absatz 1 durchgeführt hat.“ Ähnlich das Bezirksverwaltungsgesetz des Landes Hamburg für seine Kommunen, also die Bezirke: „§ 33 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Das Bezirksamt muss bei Planungen und Vorhaben, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, diese in angemessener Weise beteiligen. Hierzu entwickelt das Bezirksamt geeignete Verfahren.“
Diese Gesetze waren Meilensteine auf dem Weg, Kindern und Jugendlichen ihre Bürger*innenrechte auch tatsächlich zu gewähren. So wichtig diese Schritte auch waren, bleibt doch kritisch zu bemerken, dass diese Regelungen nur eine Top-down-Partizipation vorsehen. Die mittels Demokratie als Regierungsform gewählten Gemeindevertretungen bestimmen Planungen und Vorhaben; erst dann prüfen sie, ob Kinder und Jugendliche davon betroffen sind und ob und wie sie beteiligt werden müssen. Der umgekehrte Weg würde stärker die Prinzipien einer partizipativen Demokratie berücksichtigen. Danach entstehen die Themen der zu entscheidenden Fragen aus den Interessen, Konflikten und Problemstellungen des Zusammenlebens in der Gemeinde. Diese werden in Öffentlichkeiten debattiert, finden darüber auch in die Meinungsbildung der Parteien und führen schließlich zu Entscheidungen der gewählten kommunalen Gremien.
Demnach müssten auch Kinder und Jugendliche Zugang zur kommunalen politischen Öffentlichkeit haben, um ihre Interessen zu artikulieren, um Konflikte und Probleme zu benennen und so Themenstellungen einer gemeinsamen Debatte und letztlich Entscheidungen selbst erzeugen und beeinflussen zu können. Insgesamt ergibt sich der empirische Eindruck, dass eine solche partizipative und öffentliche Demokratie bei den Erwachsenen nicht besonders gut funktioniert beziehungsweise im Wesentlichen beschränkt ist auf politisch ohnehin stark vernetzte und artikulationsfähige Teilgruppierungen. Damit entsteht das Risiko, dass solche politisch engagierten Gruppierungen ihre Teilinteressen mit dem Gemeinwohl verwechseln und sie, ohne große Beteiligung anderer Betroffener durchsetzen. Die Stärkung einer kommunalen, an die lebensweltlichen Themen und unterschiedlichsten Gruppeninteressen wirklich anknüpfenden Demokratie steht also ohnehin an.
Gerade die pädagogischen Organisationen haben hier den Vorteil, dass ihre Adressat*innen sich dort relativ kontinuierlich aufhalten und es damit auch Gelegenheiten gibt, strukturiert und unterstützt ihre lebensweltlichen Themen und ihre Betroffenheit in der Kommune zu erheben. Dann können sie pädagogisch unterstützt werden, ihre Themen, Konflikte und Interessen zu klären und diese in Bezug auf kommunale Öffentlichkeiten zu artikulieren. Anders als in den allgemeinen kommunalen Politikprozessen gibt es also eine Unterstützungsstruktur, die Kinder und Jugendlichen helfen kann, sich in die kommunale Demokratie einzubringen.
Hier zeigen sich die großen Chancen sozialpädagogischer Institutionen, sich als Feld demokratischer Mitgestaltung der Adressat*innen zu strukturieren und von dort Übergänge zu gesellschaftlich-demokratischem Engagement der Kinder und Jugendlichen in die Kommune zu eröffnen. Denn wer sich in Organisationen engagiert, beteiligt sich auch stärker allgemein politisch (European Commission 2013). Damit wird konzeptionell angenommen, dass eine kommunale Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen auf demokratisch strukturierten pädagogischen Institutionen beruhen muss. Ohne eine solche dauerhafte strukturell verankerte Demokratieerfahrung in den pädagogischen Einrichtungen verkommt die kommunale Partizipation schnell zu episodalen Spielweisen der Partizipation (Winklhofer 2000), die ohne eine Stützung durch den Alltag und die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen stark bestimmenden pädagogischen Institutionen kaum qualifiziert werden kann (Gerdes und Bittlingmayer 2012).
Mit den Konzepten und Initiativen, die demokratische Partizipation der jungen Menschen in den Einrichtungen zu stärken, entstand möglicherweise eine zu starke Konzentration oder gar Begrenzung auf die Demokratisierung der Binnenverhältnisse. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind allerdings keine Inseln. Sie sind nicht abgekoppelt von einer komplexen lokalen und gesamtgesellschaftlichen Umwelt, sondern vielfach mit dieser verbunden und von ihr beeinflusst. Das gilt erst recht für das Leben der Kinder und Jugendlichen in der räumlich-sozialen, wirtschaftlichen und politischen Welt ihres Stadtteils oder Dorfes. Durch ihr Handeln entsteht schon ein Netzwerk, das die verschiedenen Orte, Handlungsweisen, Interessen, aber auch Probleme und Konflikte in eine Verbindung bringt. So entstehen in der Schule eine ganze Reihe von Themen und Problemen, die für die Kinder und Jugendlichen gar nicht auf diesen Ort beschränkt sind.
Das Problem, dass viele Schüler und Schülerinnen das Essen in der Ganztagsschule nicht nur stressig, sondern auch wenig wohlschmeckend finden, führt dazu, dass sie versuchen, andere Orte für Erholung und Essen zu finden. Sie versuchen, das Schulgelände zu verlassen, Kioske oder Dönerbuden aufzusuchen oder in der Nachbarschaft beziehungsweise in angrenzenden Grünzonen zu chillen. An solchen außerschulischen Orten stoßen sie aber wieder auf andere dort handelnde Menschen und deren Interessen. Es entstehen neue Chancen, etwa der Bildung, der Schließung von Freundschaften und Bekanntschaften, der Freizeitgestaltung, des Umgangs mit Nahrungsmitteln usw. Selten aber können die pädagogischen Einrichtungen wie Schule oder Jugendhäuser solche Verschränkungen von Räumen und Handlungsmustern jenseits der Grenzen der eigenen Einrichtungen erkennen oder gar handelnd einbeziehen. Die Kinder und Jugendlichen sind also immer schon Akteur*innen jenseits der Grenzen der Einrichtungen und handeln im Rahmen der räumlich-sozialen Verhältnisse der Kommune.
Dort sind sie als Einzelpersonen oder als Cliquen häufig den Machtsphären anderer Personen, Gruppierungen oder Institutionen ausgesetzt. Forschungen zum sozialräumlichen Handeln von Kindern und Jugendlichen zeigen, dass diese in den lokalen Machthierarchien oft an letzter Stelle stehen und wenig Einflussmöglichkeiten haben (zum Beispiel Reutlinger 2003; Scherr 2004; Sturzenhecker 2015a). Obwohl die Kinder und Jugendlichen Mitbürger*innen sind, wird ihnen doch nicht gleiches Recht eingeräumt, die öffentlichen Räume zu nutzen. Stattdessen kommt es häufig zu Kontrollen, Vertreibungen und Verbringung in pädagogische Einrichtungen. Mögen diese dann durchaus selbst wieder demokratisiert sein, bleibt diese Chance der jungen Menschen auf Partizipation jedoch schwach, wenn die pädagogischen Einrichtungen selbst nicht auf den Mangel an demokratischer Beteiligung ihrer Adressat*innen in der Umwelt eingehen. Der Blick der Einrichtungen muss sich also immer gleichzeitig auf ihre Binnenverhältnisse und deren Demokratisierung sowie auf die Außenverhältnisse richten, also auf die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen auch in ihren sonstigen Lebensverhältnissen, um in den sozialen Räumen der Kommune als mitentscheidungsberechtigte Bürger*innen anerkannt zu werden.
Daher fordern landesweite Kampagnen wie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ (jugendgerecht.de), demokratische Beteiligung und ein Mehr an Gerechtigkeit für Kinder und Jugendliche, besonders auf Ebene der Kommunen, durchzusetzen. Gefordert werden kinder- und jugendgerechte Kommunen und Regionen, „weil sie räumlich und politisch den jugendlichen Lebenswelten am nächsten sind. Hier sind die jungen Menschen unmittelbar betroffen, hier sind sie direkt ansprechbar“ (jugendgerecht.de). Handlungsmodelle einer kommunalen jugendgerechten demokratischen Beteiligung haben auch das Potenzial, die gesellschaftliche Inklusion von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Diese werden – folgt man demokratischen Prinzipien – nicht als benachteiligte, defizitäre, problematische oder riskante Gruppierungen betrachtet und behandelt, sondern sind gleichberechtigte Mitbürger*innen, die, anerkannt als Mitglieder der kommunalen Demokratie, diese mitgestalten.
Insgesamt ist damit auch ein Argument verbunden, das Demokratie auf kommunaler Ebene besondere Chancen der konkreten Mitwirkung der Bürger*innen an lokalen Entscheidungen und kommunalen Handlungsweisen böte. Es sind heute viele konzeptionelle Ideen zu finden, die die Rettung der Demokratie in der Kommune verorten (zum Beispiel Barber 2013; Hüther 2013; Richter 2016). Angesichts von Globalisierung und postdemokratischen Phänomenen wird damit doch gerade einer kommunalen Zivilgesellschaft und Demokratie noch die Möglichkeit zugetraut, Erfahrungen konkreter Beteiligung an öffentlich-diskursiver Konfliktbearbeitung und gemeinsamer Entscheidung zu ermöglichen. Auch und gerade Kinder und Jugendliche sollen solche kommunalen Erfahrungen der Demokratiebildung machen können.