Читать книгу Flucht - Benjamin Withmer - Страница 10

3 – Die Geächtete –

Оглавление

Dayton Horn war irgendwann am Nachmittag auf dem Sofa eingeschlafen. Das frühe Aufstehen hatte sie sich angewöhnt, bevor Ethan starb. Die zwei oder drei Stunden vor Sonnenaufgang waren die einzige Zeit, zu der er sie nicht brauchte, sie wurden zu ihrer liebsten Tageszeit. Am Küchentisch sitzend trank sie ihren Tee, hörte zu, wie die Morgenvögel erwachten, und beobachtete durch das Fliegengitter der Tür, wie der Nebel über die Wiese kroch.

Inzwischen ist es zur Routine geworden. Aufstehen vor dem Morgengrauen und draußen sein bei Sonnenaufgang. Sie hat nicht viel von dem Vieh behalten. Nur ein paar Hühner und eine Milchkuh. Das Pferd war weder die Zeit noch das Geld wert, also hat sie es verkauft. Um sich um alles zu kümmern, braucht sie nicht den ganzen Tag, aber sie mag es, alles schon am Morgen erledigt zu haben. So kann sie am Nachmittag lesen. Sie hat alles, was sie braucht, auch ohne sich um jemand anderes kümmern zu müssen als sich selbst. Und sie hat nicht vor, das jemals wieder zu ändern.

An diesem Nachmittag ist sie mit ihrem Buch im Schoß eingeschlafen. »The Brave Cowboy« von Edward Abbey. Es ist die Erkältung, die Dayton zu schaffen macht. Sie hat einen dicken Kopf und die Wörter auf der Buchseite verschwimmen, und dann sind ihr einfach die Augen zugefallen. Sie hätte in die Stadt fahren und sich etwas gegen die Erkältung im Drugstore kaufen sollen, aber es ist eine lange Fahrt. Stattdessen hat sie sich etwas von Ethans Bourbon auf dem Ofen warm gemacht, mit Honig und Zitronensaft, und ihn beim Lesen getrunken.

So ist sie eingeschlafen. Eingemummt von der trägen Wirkung des Bourbons, der Erkältung und dem wohlig wattigen Gefühl, das sich um sie legt.


Als es bereits dämmert, erwacht sie, die verschneite Wiese vor dem Fenster schimmert in sanften Blau- und Weißtönen. Dayton ist heiß, sie schwitzt. Sie hat ihre Stallkleidung ausgezogen, ist aber in ihrer langen Unterwäsche eingeschlafen. Sie bewegt ihre Unterarme gegen den dumpfen Schmerz in ihren Ellbogen. Ihr kommt es vor, als ob sie nicht von alleine aufgewacht ist. Etwas hat sie geweckt. Sie weiß nur nicht, was.

Sie nimmt das Buch von ihrer Brust, legt es neben dem Sofa auf den Boden, dann steht sie auf und findet die Kerosinlampe auf dem Beistelltisch. Sie zieht den Glaszylinder ab und zündet den Docht an. Das unheimliche Zwielicht weicht dem Flackern der Lampe, das Wohnzimmer erwacht zum Leben. Alles wirkt verzerrt, unscharf.

War es ein Traum?

Was für ein Traum?

Sie kann sich nicht erinnern.

Sie steckt den Glaszylinder auf die Lampe und justiert den Docht, bis das Zimmer aufhört zu schwanken und das gelbe Licht klare Konturen zeichnet. Am anderen Ende des Raums, in der Ecke neben dem Schreibtisch, steht ihr kleiner Weihnachtsbaum. Sie hat ihn selbst geschlagen und dann im Wald Vogelnester in einen Rupfensack gesammelt. Als er voll war, hat sie ihn nach Hause gebracht und in jedes Nest Wachs getröpfelt, für je eine kleine Kerze, dann die Nester mit Wäscheklammern als Baumbeleuchtung befestigt. Ein Eimer Brunnenwasser steht daneben, aber sie hat es erst ein einziges Mal gewagt, die Kerzen anzuzünden. Es schien nur wichtig zu sein, einen Baum zu haben. Weihnachten gehört zu den Dingen, bei denen sie sich nicht sicher ist, ob sie aus ihrem Leben gestrichen werden dürfen.

Ein einzelnes Geschenk liegt unter dem Baum. Es ist eine Taschenbuchausgabe von John Tolands »The Dillinger Days«, die sie gekauft hat, als sie das letzte Mal in der Stadt war. Sie hat es für Mopar besorgt, in der Hoffnung, dass er es lustig findet.


Es ist erst ein paar Wochen her, dass sie Mopar das letzte Mal besucht hat. Er war bleicher als sonst, seine Augen erinnerten an das, was man aus Strafkolonien kennt. Der Besuchsraum war nackter Zement, wurde von Wand zu Wand von einem langen Resopaltisch geteilt. Sie setzte sich auf ihrer Seite der Plexiglaswand auf einen Stuhl.

Er rauchte hastig, aschte nervös in die Blechdose auf dem Tisch. Seine Augen flackerten sie an, flackerten wieder weg. Er war nur noch Haut und Knochen. Spindeldürr, dass es wehtat, ihn anzuschauen. »Es ist die verdammte Dunkelzelle«, sagte er, seine Stimme durch das Plexiglas gedämpft. »Ich bin da meine ganze Knastzeit drin gewesen.«

»Du siehst gut aus«, sagte sie. »Nur ein wenig müde.«

»Klar.« Er wollte sie nicht anschauen, aber sie konnte sehen, dass er auf sie eingestellt war wie ein Drehknopf am Radio. Es war, wie in einer Bar zu sitzen, wo am anderen Ende des Tresens ein Kerl sitzt, der dich anstarrt, ohne dass man ihn dabei erwischen kann. Und dir ist klar, dass er dir auf den Parkplatz folgt, wenn du gehst. »Klar«, sagte er wieder.

»Klar?« Sie sagte es ein wenig mokant, als wäre es ein Spiel, das sie spielten. Aber es war keins.

Auf seinem Gesicht zeigte sich der Hauch eines Grinsens, aber es verebbte sogleich wieder. »Klar, bin ich müde.«

»Ich hab Tante Patsy gesehen. Deine Mama.«

»Wo denn?«

»Perkins Drugstore. Heute.«

»Was hatte sie an?«

»Das blaue Kleid. Das mit den Streifen. Sie hat Zeitschriften gekauft.«

Er streckte seine Zigarettenhand nach ihr aus, als ob er die Scheibe berühren wollte. Aber er tat es nicht. Die Geste ließ sie erstarren. Er konnte sie nicht berühren, aber dass er sich in ihre Richtung streckte, das ließ sie erstarren. Es war etwas, was sie für gewöhnlich beide nicht taten.

»Warum machst du das?«, fragte er.

Ihr Handrücken prickelte, unter der Haut lagen die Nerven blank. »Was mache ich?«

»Mich besuchen.«

Was sollte man darauf nur antworten? Sie blieb stumm.

»Weißt du, wie viele andere mich hier besuchen kommen?«, fragte er.

»Tante Patsy?«

»Einmal im Jahr. Am Sonntag vor meinem Geburtstag.«

Dieses Prickeln. Als ob sich ihre Haut langsam umstülpen würde. Sie würgte es ab. Er ist müde, das ist alles. So oft du auch schon hier gewesen bist, so etwas hat er noch nie bei dir ausgelöst. »Es gibt sonst niemanden, den ich besuchen könnte«, sagt sie. »Und da das Gefängnis direkt bei mir um die Ecke ist, soll es wohl einfach so sein, dass ich hier jemanden besuchen komme.«

»Sie lebt nur eine halbe Meile von hier und hat nichts zu tun«, sagt er. »Du hast viel am Hals. Du hast die Farm.«

»Die Farm macht kaum Arbeit.«

Er ließ seine Zigarette in die Blechdose fallen, ohne sich darum zu scheren, sie vorher auszumachen. Er rieb sich die Augen, und da war es wieder, dieses kurze Grinsen. Müde.

Sie sah zum Wärter hinüber. Er beachtete sie nicht. Niemand tat es.

»Ich hab gehört, er ist nicht mehr bei dir«, sagte er. »Ethan.«

»Was ist mit ihm?«

»Was soll sein. Er ist nicht mehr da.«

Neben Dayton saß eine Frau mit geföhntem Haar, eine Packung Marlboro auf dem Tisch. »Entschuldigen Sie«, sagte Dayton zu ihr.

Die Frau wandte sich zu ihr um.

»Kann ich mir eine Zigarette nehmen?«

Die Frau schob ihr Packung und Streichhölzer zu.

Dayton zündete sich eine an. »Er ist nicht mehr da.« Sie stieß den Rauch in die Luft, schob die Packung zurück in Richtung der Frau.

»Du bist jetzt alleine da oben?«

»Es gibt noch ein paar andere Leute.« Das war zwar nicht gelogen, stimmte aber nur zum Teil. »Nicht dauernd, aber normalerweise schon. Ich hab Hilfe.«

Er war aufgedreht, aufmerksam. »Ich möchte sehen, was du damit gemacht hast.«

»Womit gemacht?«

Als sie ihre Zigarette zum Mund führte und mit ihren Fingern die Lippen berührte, bewegte sich seine Hand erneut, als ob er die Glasscheibe berühren wollte. Es fühlte sich für sie so an, als sei es seine Hand, seine Finger auf ihren Lippen.

»Die Farm«, sagte er.

Auf Daytons Plexiglasseite gab es Aschenbecher aus Glas. Die Zigarette war erst zu einem Viertel geraucht, aber sie drückte sie aus. Die Frau mit den geföhnten Haaren sagte leise etwas.

»Warum hast du sie dir angesteckt?«, fragte Mopar.

Dayton machte eine Grimasse, ihr Magen war in Aufruhr. »Keine Ahnung.«

»Du hast gedacht, du probierst es, weil du hier mit mir sitzt und weil ich rauche?«

»Genau.«

»Um zu sehen, ob es zu dir passt?«

»Es ist nicht meine erste Zigarette.«

»Nein«, sagte er. »Das habe ich auch nicht gedacht.«

Er war müde. Das sagte sie sich selbst, nachdem sie gegangen war. Nur müde, das war alles. Sie hatte ihn schon mindestens dreißig Mal besucht, und nie hatte er in ihr ein unangenehmes Gefühl hervorgerufen. Nicht ein einziges Mal. Er war nur einfach müde. Er hatte versucht, mit ihr herumzualbern, wie Cousins es nun mal tun, und es war bei ihr schief angekommen. Das war alles.


Es ist die Sirene gewesen.

Das war es, was sie aufgeweckt hatte.

Meistens kann sie das Heulen gar nicht hören, nur in bestimmten Nächten. Wenn es von der Hauptstraße rechts abbiegt, eine Kaltfrontschneise über die Wiese auf der Nordseite der Stadt hochzieht und dann den Dos Tortugas Mountain hinaufschallt, vom Mond abprallt, und als Querschläger um den Jackleg Canyon herum, bis an ihr Fenster kommt und ans Glas klopft.

Im Aschenbecher auf dem Schreibtisch neben dem Weihnachtsbaum liegt noch immer ein halber Joint. Sie lächelt.

Und dann verfliegt ihr Lächeln.

Flucht

Подняться наверх