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9 – Die Zeitungsleute –

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Es ist die Art von Sturm, die dich jede kleine traurige Lüge bereuen lässt, die du je erzählt hast. Sie haben noch nicht die halbe Strecke zum Old Lonesome geschafft. Der Schnee bildet einen scheinbar undurchdringbaren Vorhang. Ihr Wagen schlittert im Lichtkegel des Frontscheinwerfers durch das Weiß. Garrett kämpft mit dem Lenkrad und nagt an seiner Unterlippe. Stanley trinkt eine Flasche Coors und sinniert über Garretts Leben, damit er nicht an sein eigenes denken muss. Das ist Teil der Abmachung gewesen. Garrett muss fahren, damit Stanley Bier trinken kann.

Garrett hat zu Hause kein Telefon, deshalb sind sie noch bei ihm vorbeigefahren, um seiner Frau von der Zeitungsgeschichte zu erzählen. Garretts Frau hatte auf dem Foto, das Stanley gesehen hatte, bereits nicht besonders attraktiv ausgesehen. In echt war sie noch unattraktiver. Dicke Hüften, klumpige Lippen und Akne-Blumen, einen Popel essenden Hosenmatz auf dem Arm und ein schreiendes Baby in der Korbwiege. Es war peinlich zu sehen, wie pleite sie waren. In der Spüle türmte sich das dreckige Geschirr. Und offenbar hatten sie die Heizkosten nicht mehr bezahlen können, Kleinkind und Mutter waren in abgenutzte Decken gehüllt. Nirgends ein Fernseher, nicht einmal ein Radio. Bücher auf Brettern, die auf Betonsteinen ruhen. Sogar ihr Weihnachtsbaum sah aus, wie etwas, das sie gebraucht gefunden hatten, geschmückt mit Popcorn und Cranberrys und auf Karton gemaltem Schmuck. Für Stanley war es genug, um an einem Auspuffrohr saugen zu wollen.

Die Sonne ist weg, und vom Dämmerlicht ist nichts mehr zu sehen. Das heißt aber nicht, dass die Nacht bereits ihre volle Schwärze erreicht hat. Stanley ist alt genug, um das kapiert zu haben. Es wird immer noch dunkler. Jeder, der das noch nicht verstanden hat, lebt hinter dem Mond.

Oder ist noch ein Kind.

So wie der hier.

Stanley schaut zu Garrett. Ich hätte ihm sagen sollen, dass er sich etwas anderes anzieht, denkt er. Er trägt immer noch den orangefarbenen Anzug und die Stiefeletten aus der Bar. Zumindest werden die Gefängniswärter ihn so nicht versehentlich erschießen. Und zur Hölle, vielleicht ersticken die Ausbrecher ja vor Lachen.

Garrett kurbelt am Lenkrad, der alte Wagen scheuert um eine Kurve. Sogar auf dem Beifahrersitz kann Stanley spüren, wie die Räder über das Eis rutschen. Sie fahren keine 40, aber dennoch ist es gefährlicher als die Male, die er nachts mit 160 die Colfax Avenue hinuntergerauscht ist.

»Können wir das Radio anmachen?«, sagt Garrett. »Vielleicht sind wir schon nah genug, um eine der Durchsagen hereinzubekommen.«

Stanley dreht am Programmknopf und bekommt eine knisternde Stimme herein: »… erinnern wir Sie daran, die Türen verschlossen zu halten, und wenn sie eine Feuerwaffe im Haus haben … alle … Männer sind immer noch …« Dann ist der Sender wieder weg.

»Das war Direktor Jugg«, sagt Garrett. Er schlägt aufs Lenkrad. Die Nachricht gefällt ihm so, dass er es noch mal tut. »Sie haben sie noch nicht.«

»Freu dich nicht zu früh, Junge«, sagt Stanley. »Die meisten Geschichten sind kalt, noch bevor du da bist. Sie haben noch Zeit genug, um sie alle zu erschießen. Und das werden sie auch tun.«

»Eine Schießerei ist doch auch eine Riesengeschichte.«

Stanley schließt die Augen. Dieser ganze Enthusiasmus ermüdet ihn.

»Okay«, sagt Garrett. »Ich beiße an. Warum sollte man sie erschießen?«

»Aus dem gleichen Grund, warum du einen Hund erschießt, wenn er eins deiner Hühner gerissen hat. Er tut es sonst wieder.«

Etwas wie Bedauern flackert über Garretts Gesicht.

Bedauern ist noch ermüdender als Enthusiasmus.

»Ich hab gehört, dass du mehr Schlitzaugen gekillt hast, als durch Napalm umgekommen sind«, sagt Stanley. »Hab gehört, dass du Khe Sanh ganz allein gehalten hast. Die ganze verdammte Stellung.«

Garrett umklammert das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß werden, und geht in eine Kurve. »Ich hab nur die gekillt, die mir vor die Flinte gesprungen sind.«

»Da hab ich was anderes gehört«, sagt Stanley. »Was ganz anderes. Ich habe gehört, du bist die ganzen siebenundsiebzig Tage da gewesen. Und auch genau dann, als Operation Pegasus gestartet wurde.«

»Ja. Und? So war es nicht«, sagt Garrett. »So war es überhaupt nicht.«

Die einzige Sache, die Stanley noch ermüdender findet als Enthusiasmus oder Bedauern ist Bescheidenheit. »Es ist ein Wunder, dass dich die Musterungsbehörde nicht auf Werbetour geschickt hat«, sagt er.

»Das stand nie zur Debatte«, sagt Garrett. »Wo hast du gedient?«

»Korea.«

»Wo in Korea?«

»Überall, wo ich mich verstecken konnte. Ich hab Artikel geschrieben.«

»Das ist doch auch ein wichtiger Job gewesen.«

»Das Gleiche haben sie mir auch gesagt«, sagt Stanley. »Die Moral der Männer ankurbeln.«

»Es war eine bedeutungsvolle Aufgabe.«

»War es das wirklich? Stars and Stripes hat bei euch Jungs die Moral angekurbelt?«

Garrett antwortet nicht. Er konzentriert sich so sehr auf die Straße, dass Stanley nicht einmal sicher ist, ob er ihn gehört hat. Es ist nicht nur sein oranger Anzug, der ihn so lächerlich macht. Es sind auch Haarschnitt und Bart. Und wie seine Wangen glühen, wenn er aufgeregt ist, was die ganze Zeit der Fall zu sein scheint.

Stanley zündet sich mit dem Zigarettenanzünder eine Lucky Strike an. »Hast du je Das Herz der Finsternis gelesen?«

»Hab ich«, sagt Garrett. »Sie hat mir immer Bücher geschickt. Wollte verhindern, dass ich verblöde und dafür sorgen, dass ich mich noch mit ihr unterhalten kann, wenn ich wieder nach Hause komme.«

»Erinnerst du dich an die letzten Worte von Kurtz?«

Garrett kneift die Augen zusammen, um sie kurz darauf weit aufzureißen. Er schnippt mit den Fingern. »Das Grauen. Das Grauen.«

»Ganz genau. Aber erinnerst du dich, was Marlow der Freundin von Kurtz bei seiner Rückkehr in die Heimat erzählt hat? Als sie ihn fragt, was seine letzten Worte gewesen sind?«

Garretts Augen sind nun fast vollständig geschlossen. »Ihr Name?«

Stanley lässt Rauch aus seiner Nase strömen. »Das war die Aufgabe von Stars and Stripes«, sagt er. »Für die Freundinnen daheim gab es immer eine extra Zeile. So hat es der Zensor für die Heimatpost vorgeschrieben.«

»Die wirklichen Geschichten konnten sie nicht drucken«, sagt Garrett.

»Da hast du es. Denk daran, wenn wir die Stadt erreichen. Hör ganz genau hin, wenn dir der Direktor erzählt, was passiert ist.« Stanley macht einen neuen Zug an der Zigarette und schließt die Augen. »Und verbeul mir mein Auto nicht.«


Es war erst ein paar Wochen her, auf einer Party. Das war das endgültige Aus gewesen. Eine dieser Ferienpartys, die Stanley mehr als alles andere hasst. Wenn du einen Pfirsichgarten in Evergreen hast, wirst du auf viele Partys eingeladen. Immer läuft es so, dass die Kinder oben im ersten Stock eingesperrt werden, damit sie nicht sehen können, was die Erwachsenen unten so treiben. So eine Art von Party war es auch diesmal. Die Hälfte von ihnen hing um den Küchentisch, wo die Joints geraucht und die Kokslinien gezogen wurden. Die andere Hälfte war mit fremden Ehepartnern am Fummeln.

Stanley war einer von denen am Küchentisch. Er zog Kokainlinien auf einer chinesischen Porzellanplatte und erzählte dabei Geschichten. Als Erstes die Geschichte, wie er seine Frau Marjorie kennengelernt hatte. Wie er gerade aus Korea zurück war und auf dem Weg nach Montreal durch Denver trampte und in einer Oben-Ohne-Bar auf der Colfax Avenue Halt machte. Wo Marjorie tanzte. Wie sie nach ihrer Schicht etwas zusammen getrunken und über Bücher geredet hatten, darüber wie sehr sie das Fernsehen hassten. Und wie sehr sie Pfirsiche liebten.

Es war eine gute Geschichte, aber wie es einem mit Koks und Gras passiert, verlor Stanley den Faden und vergaß die Stellen, mit denen er die Leute sonst zum Lachen brachte. Dann kam er ganz aus dem Tritt und landete bei einer Kurzgeschichte von Melville, in der eine Frau auf einer Insel strandet und komplett von Schildkrötenfleisch lebt, bis ein paar Walfänger sie finden. Und wie niemand weiß, was weiter geschieht, weil Melville sagt, es gibt da ein paar Dinge, über die man nicht schreibt.

Das war jedoch nicht ganz die Geschichte, die Stanley eigentlich zu erzählen versuchte. Was er erzählen wollte, hatte etwas mit dem Schweigen zu tun und der Unmöglichkeit, wirklich über Gräueltaten zu reden. Wie man das lernen muss, wenn man in der Welt der Vietnams und Koreas überleben will. Menschen in religiösen Texten sind dauernd Zeugen schrecklicher Dinge oder bekommen sie selbst angetan. Vielleicht ist Spiritualität nichts anderes als etwas, das man sieht und erlebt und mit Sprache nicht vermitteln kann. Etwas, für das es keine Worte gibt. Was wäre in diesem Fall besser, als das Reich der Spiritualität durch Gräuel zu betreten? Es könnte ja Sinn machen, jemanden ans Kreuz zu nageln oder ein Dorf wegzubomben falls man so zu Gott finden könnte.

Diese Art Gedanken bekommt man auf Koks.

»In der Natur und in der Rechtsprechung mögen gewisse Wahrheiten verleumderisch klingen«, sagte Stanley. Als er aufsah, schenkte ihm niemand Beachtung. Und irgendwie war die Porzellanplatte mit all dem Koks weg. Alle andern auch. Er saß allein am Tisch.

Es war, wie aus einem Traum zu erwachen. Ihm gegenüber stand Marjorie. Eine Zigarette zwischen ihren Fingern, schmiegte sie sich an einen Kerl mit schwarzem Bart und Pferdeschwanz, der eine wollene Hose und Holzfällerstiefel trug. Sie beide sahen ihn an und grinsten. Kein freundliches Grinsen. Jene Art von Grinsen, die man aufsetzt, wenn man jemanden sieht, der am Rinnstein die eigene Scheiße aus einer Schuhschachtel isst.

Stanley erhob sich und ging zu ihnen hinüber. Die Bodenbretter knarrten unter seinen Schuhen. Von all dem schwammigen Licht, das die Lampenschirme warfen, torkelte er, passierte einen Mann und eine Frau in einem ramponierten Ledersessel. Der Mann hatte seine Hand unter ihrem Pullover, sie grunzte wie ein Ferkel auf der Suche nach der Zitze.

»Wir haben gerade über dich geredet«, sagte Marjorie. Ihr breites Gesicht war nicht schön. Nicht heute Abend. Heute Abend war es wild, angeschwollen vom Wein, die Person dahinter sichtlich angespannt, als sei sie drauf und dran, Stanley an die Kehle zu springen. »Ich hab Dusty hier gesagt, dass es nicht wirklich drauf ankommt, ob dir jemand zuhört, wenn du einmal loslegst. Wir haben uns gefragt, wie lange es wohl dauert, bis du es merkst.« Sie legte Dusty ihre Hand auf den Arm. »Wenn er auf Koks ist, zitiert er gerne Melville, bei Whiskey ist es Flaubert.«

Dusty sah plötzlich aus, als wäre es ihm unbehaglich.

»Man muss sich aber davor hüten, alle Zitate für bare Münze zu halten«, fuhr Marjorie an Dusty gerichtet fort. »Du darfst nicht davon ausgehen, dass alles, was er als Zitat ausgibt, tatsächlich eines ist. So wie du auch nicht darauf vertrauen kannst, dass alles, was er als eigene Gedanken ausgibt, nicht doch ein Zitat ist.«

Dusty wirkte, als würde er am liebsten hinter seinem Bart verschwinden.

»Mach dir nichts draus«, sagte Stanley zu ihm. »Sie blamiert einen jedes Mal.«

Marjorie schlug ihm ins Gesicht. Mit der offenen Hand schlug sie so fest zu, dass ihm der Ehering die Wange aufriss.

Stanley schlug zurück. Mit geschlossener Hand.

Er hatte vergeblich versucht, herauszufinden, ab wann es bei ihnen schiefgelaufen war. Sie waren so sehr von ihren Kämpfen gezeichnet und so dünnhäutig geworden durch all die Kritik, dass sie sich selbst nicht mehr wiedererkannten. Sie verachtete alles an ihm, und es war nicht mehr viel von ihm übrig, was er nicht selbst auch verachtete. Seine Welt war auf die Größe eines Vogelkäfigs geschrumpft.

Er schlug sie noch einmal. Hart genug, dass sie gegen den Kamin taumelte.

Sie hob den Schürhaken hoch und griff ihn an.

Dann war er von Leuten umringt. Sie rangen ihn nieder, zogen ihn zurück, drückten ihn gegen den Küchentisch, sodass dieser umkippte.

Und die ganze Zeit war er immer noch am Ausholen. Und Fauchen.

Flucht

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