Читать книгу Flucht - Benjamin Withmer - Страница 13
6 – Die Geächtete –
ОглавлениеDayton legt Jeans heraus und ein ledernes Arbeitshemd. Sie zieht sich schnell und methodisch und ohne viel darüber nachzudenken an. So wie man es tut, wenn man sich für ein Ereignis anzieht, bei dem der Kopf mit anderen Dingen beschäftigt ist, zum Beispiel für eine Beerdigung. Zuletzt wirft sie die Arbeitsjacke für die Scheune über und steckt sich ein sorgfältig gefaltetes, verblichenes rotes Taschentuch in die Tasche. Es ist Ethans Jacke gewesen, aber als sie all die Arbeit übernommen hat, ist es ihre geworden. Als er das Haus nur noch für das Außenklo verlassen hat. Anfangs hat sie die Jacke aus Trotz getragen, weil sie gewusst hat, dass sie eins seiner Lieblingsstücke war. So ist das eben.
Ethan ist nie ein besonders guter Farmer gewesen. Er kam als frischgebackener Lehrer aus Ohio, direkt vom College, und aus einem Haus, das von Ziersträuchern umgeben war. Aber er ließ sich einen Bart wachsen, hatte die Segeltuchjacke an und sah standesgemäß aus. Die Farm hatte er bar bezahlt.
Um Chili zu essen und Bier zu trinken, war er manchmal am Abend in den Yard hinuntergekommen, wo sie arbeitete. Das Wichtigste an ihm war, dass er anders war. Es ist die Art Stadt, wo jeder von außerhalb gut aussieht, einfach deshalb, weil er nicht wie die andern ist. Es gibt hier nichts als Gefängniswärter mit Igelschnitt und Gesichtern platt wie Hammerhaie.
Ethan spielte auch Billard. Nicht besser als die anderen Männer in der Stadt, aber bei ihm sah es besser aus. Er beugte sich so tief hinunter, dass er mit der weißen Kugel auf Augenhöhe war, sein ganzer Körper legte sich in die Richtung, in die er stieß. Die Männer machten sich zuerst darüber lustig, wie er seinen Hintern in die Luft reckte, sich mit seinem Queue lang machte. Aber die Frauen lachten nicht, und nach einer Weile gehörte er dazu. Nach einer Weile machte es nicht einmal mehr etwas aus, dass er etwas Hippiehaftes hatte. Und es störte sich auch niemand daran, dass er immer Geld hatte, um eine Runde auszugeben.
Klar hielten ihn alle für ein wenig verrückt. Aber wer ist das nicht selbst ab und an. Ein Großteil solcher komischen Kauze landet dann hier. Diese Stadt ist ein Ort, an dem man versackt. Es gibt ein paar Familien hier, die sich bis zur Großelterngeneration zurückverfolgen lassen, aber das ist eher die Ausnahme. Die meisten Leute sind nach diesem oder jenem Krieg hier gestrandet, wollten eigentlich weiterziehen, sind aber geblieben – wie Kaffeesatz in einer Tasse. Es ist ein Ort, der für jemanden wie Ethan wie gemacht ist.
Und er sah einfach gut aus mit seinem Bart, der Jacke und den langen Haaren, länger als die von jedem anderen Mann in der Stadt. Jedenfalls empfand Dayton das so. Er war der Einzige, der mit ihr flirten durfte. Der Einzige, bei dem sie sogar zurückflirtete.
Es kam so weit, dass Ethan wartete, bis Dayton mit der Arbeit fertig war, sie einen Joint zusammen rauchten und durch die Stadt spazierten. Gras hatte er immer. Schließlich fing er an, sie abzuholen und mit rauf zur Farm zu nehmen. Wie sich zeigte, konnte er dort ein wenig Hilfe gut brauchen, sie hatte eh nie gern im Yard gearbeitet.
Es war ungezwungen und leicht. Für knapp zwei Monate.
Es passierte an einem kühlen Sommernachmittag. Ethan war wegen Viehfutter in die Stadt gefahren. Dayton hatte die Haustür offen stehen, das Fliegengitter wackelte im Luftzug. Sie hatte die Wäsche von der Leine genommen und den Stapel auf den Küchentisch gelegt, um alles zusammenzulegen. Stattdessen aber trank sie Tee und lauschte dem kleinen Kofferradio. Ein Rock’n’Roll-Sender spielte gerade einen Song von Bob Dylan: … Tief im Herzen weiß ich, dass ich nicht entkommen kann …
Sie hörte, den Truck über die Auffahrt fahren, schenkte ihm aber keine Beachtung. Denn da war diese fette schwarze Fliege, die um sie herumsurrte. Dayton verfolgte sie mit den Augen. Sie hoffte, das Insekt möge sich irgendwo niederlassen und ihr die Zeit geben, die Fliegenklatsche vom Wandnagel zu nehmen. Dayton stellte sich schon den Blutfleck vor, den es gleich geben würde.
»Kannst du die Tür aufmachen?«, fragte Ethan da mit einem Mal durch das Fliegengitter.
Als sie ihn ansah, griff sie zur Fliegenklatsche. Sie wusste nicht genau warum, aber plötzlich war sie in ihrer Hand.
Seine beiden Augen waren purpurschwarz, die Nase zerschlagen und geschwollen, der Nasenrücken aufgeplatzt, sein Bart voller Blutfäden.
Er sagte: »Ich kann die Tür nicht aufmachen.« Mit der rechten Hand hielt er dabei seinen linken Unterarm fest.
Sie ließ die Fliegenklatsche fallen und stieß die Tür auf.
»Danke«, sagte er. Er schlurfte herein, ging um sie und den Küchentisch herum ins Wohnzimmer. Als er auf der Couch lag, warf er seinen Kopf zurück wie ein Vogel, der aus einem Wasserglas getrunken hat.
Sie öffnete den Küchenschrank neben der Spüle und brachte ihm Desinfektionsmittel und Verbandsmaterial. Er hatte seinen linken Arm in den Schoß gelegt, hielt die rechte Hand und studierte sie. Die Knöchel waren völlig unverletzt. Was immer sie mit ihm gemacht hatten, es war ohne Widerstand geschehen.
»Wer war es?«, fragte sie.
»Du weißt, wer es war«, sagte er. Er holte tief Luft durch den Mund. Ein Pfeifen war zu hören. Ethan sah sie an und öffnete den Mund. Einer seiner Vorderzähne war schräg abgebrochen.
»War es das Marihuana?«
Er grinste sein neues Zahnlückengrinsen. »Sie hätten mich umgebracht.«
»Und dann?«
Durch seine blutunterlaufenen Augen schielte er sie an. »Was denkst du übers Heiraten?«
Das war es, was er sie fragte.
Dayton sperrt die Hütte hinter sich ab. Der Wind treibt den Schnee den Berghang hinunter, über die Wiese, ihr hart ins Gesicht. Sie steckt die Hände in die Taschen, marschiert über die Auffahrt, an ihrem Truck vorbei zum Feldweg. Dayton geht nicht gern zu ihren Nachbarn. Sie weiß, was Julie und Richard von ihr gedacht haben, als Ethan noch gelebt hat. Sie glaubt nicht, dass sich das geändert hat. Nichts ändert sich je.
Der Feldweg führt über einen Hügel und durch ein Wäldchen windzerzauster Espen, die sich gegen die Straße biegen, führt durch eine Viehsperre. Dann kommt ihre Blockhütte. Der Schnee peitscht durch die schwärzer werdende Nacht. Dayton zieht ihr Taschentuch heraus und putzt sich laut die Nase, bevor sie anklopft.
Julie kommt an die Tür in einem verwaschenen roten Kleid. Durch die geöffnete Tür dringt der Geruch von Plätzchen nach draußen, die ein wenig zu lange im Ofen gewesen sind.
Wie immer, wenn sie Julie sieht, fühlt Dayton sich wie eine Waise. Wie immer bringt es sie durcheinander. Sie ist alles andere als eine Verlorene, war das auch noch nie.
»Komm rein«, sagt Julie. »Bei dem Wetter will man nicht draußen sein.«
Dayton tritt ein. Das Wohnzimmer ist mit Fichtenbrettern getäfelt. Eine cremefarbene Couch, Aschenbecher, ein großer Fernsehschrank. Ihr Weihnachtsbaum steht noch, unbeleuchtet, aber perfekt kegelförmig. Es ist so ein Baum, wie man ihn in den Weihnachtstiteln der Kinderbuchreihe »Little Golden Books« findet, mit pastellfarbenen Ornamentkugeln und Lametta verziert.
Julie greift nach Daytons Jacke.
»Nein, lass«, sagt Dayton. Ihre Stimme klingt wie die einer Fremden in ihren Ohren. »Ich kann nicht länger als eine Minute bleiben.«
»Aber klar kannst du. Ich hab einen Braten. Ist das zu glauben?« Sie reibt sich die Knöchel der rechten Hand. Sie sind geschwollen und rot. Arthritis. »Einen ganzen Braten.«
»Alles in Ordnung?«
»Nur der da …« Julie deutet mit ihren roten Knöcheln zum Fernseher. »… funktioniert nicht. Ich hab schon alles versucht, was in meinen Möglichkeiten steht.«
Der Fernseher ist draußen an eine Antenne angeschlossen, die längste, die Dayton je gesehen hat. Dayton hofft, dass bei jedem Gewitter ein Blitz einschlägt.
»Was macht Richard, wenn der Fernseher nicht geht?«, fragt Dayton.
Julie gestikuliert wieder mit den Knöcheln. Sie lacht wie jemand aus einer Fernsehwerbung. »Er steigt dann hoch und fummelt daran herum.«
»Ich kann da hoch. Man muss nur an ihr drehen, oder?«
Das Knöchelreiben wird schneller, dann wieder langsamer. »Nein«, sagt sie. »Du kannst da nicht hoch. Es kann warten, bis er wieder da ist. Ich hab Zeitschriften.«
»Hat die Sirene geheult?«, fragt Dayton. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie es war.«
»Oh, ja«, sagt Julie. »Das war die Sirene. Richard ist sofort los. Das Telefon ist auch außer Betrieb, aber sie reden im Radio darüber.«
»Und wer ist es?« Daytons Nase juckt, sie würde sie gerne an ihrem Ärmel abwischen, tut es aber nicht. »Wer ist ausgebrochen?«
Julies Augen werden schräg wie die einer Elster. Nur eine Sekunde, dann hat sie es weggeblinzelt.
Dayton mag diese Frau eigentlich nichts fragen. Sie hält sie für jemanden mit einem Missbrauchsfetisch. Wie sonst ließen sich die Schreie erklären, die das Tal hochschallen, wenn der Wind richtig steht? Denn es ist nicht Julies Ehemann, der da schreit.
»Wir machen uns Sorgen um dich allein hier draußen«, sagt Julie.
»Danke dir dafür«, sagt Dayton. Sie presst den Jackenärmel gegen ihre feuchten Augen.
»Wir wissen, wie es ist«, lacht Julie. »Nicht wir, vielmehr ich. Ich kann mir nicht vorstellen, was ich ohne Richard hier tun würde. Ich sage ihm dauernd, dass wir in die Stadt ziehen sollen.«
»Da würde es dir gut gehen.« Dayton holt ihr Taschentuch heraus und putzt sich, so leise sie kann, die Nase. Julies Gesichtsausdruck macht deutlich, dass es noch nicht leise genug war. »Du würdest dort klarkommen.«
»Du hast nicht einmal einen Fernseher. Und niemanden, mit dem du reden kannst.« Ihre Augen werden wieder elsterhaft. »Außer deine Besucher.«
»Ich bin nur heruntergekommen, um wegen der Sirene nachzufragen«, sagt Dayton. »Das war der einzige Grund.«
»Die Sirene hat geheult. Magst du nicht doch zum Essen bleiben? Ich hab einen ganzen Braten und hausgemachte Plätzchen. Sieh dich nur an, dich bläst dieser Wind gleich weg, so dünn, wie du bist.«
Dayton dreht sich zur Tür und öffnet sie. Im Gehen raunt sie etwas, von dem sie hofft, dass es wie ein Dankeschön klingt. Dann ist sie draußen.
Julies Elstergesicht bleibt zurück. Dayton schnäuzt sich zwischen Daumen und Zeigefinger und wischt die Hand an einer Espe ab.