Читать книгу Flucht - Benjamin Withmer - Страница 14
7 – Der Fährtensucher –
ОглавлениеJim dreht den Kopf und spuckt Tabaksaft auf den Boden, sieht sich das Ganze an. Die Sträflinge haben Pearl Greene gefesselt und ihr einen Draht um den Hals verpasst wie den Wärtern, ihrer aber ist straffer gespannt. Jim befreit sie von der Halsfessel, indem er an dem Holzgriff in ihrem Nacken dreht. Sie sollte nicht so behandelt werden. Egal, was sie ist.
Sie bekommt wieder Luft, saugt sie durch die Nase ein. Jim bemerkt die Socke in ihrem Mund. Und dass der tote Wärter auf dem Boden vor ihr, dessen zerschlagener Kopf einen blutigen Heiligenschein hat, keine Schuhe und Socken trägt. Jim steckt Pearl einen Finger in den Mund und zieht die Socke heraus. Pearl sinkt auf dem Sofa zusammen, sie schnappt nach Luft.
Wir kriegen sie, denkt Jim. Wir kriegen sie, und wenn wir sie haben, werde ich mir in Erinnerung rufen, was sie dieser Frau angetan haben. Dafür werden sie büßen müssen.
Bellingham kümmert sich um die beiden Wärter, die noch am Leben sind. Sie lehnen aneinander wie zwei frisch gefällte Bäume, ihr Urin füllt die Luft.
»Kann einer von ihnen etwas sagen?«, fragt Jim.
»Ich bin nicht sicher, ob sie es überleben werden.« Bellingham hat den ersten Wärter von der Drahtschlinge erlöst. Er sperrt die Handschellen auf und legt den verletzten Mann behutsam auf den Boden. Dann wickelt er dem zweiten Wärter den Draht vom Hals. Dessen Augenlider flattern für etwa zehn Sekunden in einem seltsamen Rhythmus, bleiben aber geschlossen. Bellingham bettet auch ihn vorsichtig auf dem Boden, dann steht er auf und stemmt die Hände in die Hüften. Sein Gesicht, das im Schatten der Uniformmütze liegt, schimmert rot. »Ich melde das übers Telefon«, sagt er. »Diese Jungs brauchen Hilfe.« Er geht aus dem Wohnzimmer zum Telefon im Flur.
Pearls Atmung ist gut, aber ihr Gesicht ist zerknittert und gelb wie Wachspapier. Jim legt ihr eine Hand auf die Stirn.
Pearl reißt die Augen auf, und sie macht ein Geräusch, wie wenn eine Heuschrecke schabt.
»Nein«, sagt Jim. »Nein.« Er hält ihr seine Hand hin, um zu zeigen, dass sie leer ist. »Ich bin keiner von denen. Ich bin ein Wärter.«
Sie versucht sich aufzusetzen, Jim will ihr helfen. Doch sie schlägt seine Hand weg und schafft es alleine.
»Ich bin ein Wärter«, wiederholt Jim. »Wir haben euch gerade gefunden.«
Sie schlägt nach seinem Gesicht. Es ist ein kraftloser Schlag, er macht sich deshalb nicht die Mühe, ihm auszuweichen.
»Ich heiße Jim Cavey«, sagt er.
Sie hört auf, nach ihm zu schlagen und steckt ihre Hände in die Schürze. »Ich werde Sie anzeigen«, sagt sie.
Jim weiß es besser. Da gibt es niemanden, bei dem Pearl je Anzeige erstatten könnte. Pearl Greenes Haus mag zwar in der Stadt liegen, aber sie gehört genauso wenig dazu wie er. Sie existiert kaum. »Wissen Sie, wohin sie unterwegs sind?«
»Weiß ich nicht. Woher soll ich das wissen? Sie haben mich gefesselt.« Sie sieht sich im Wohnzimmer um. Da gibt es nicht viel, was nicht in Blut oder Müll liegt. »Diese Gestörten.«
»Weil sie hinter sich nicht aufgeräumt haben?« Kaum hat diese Bemerkung seinen Mund verlassen, merkt er selbst, wie neunmalklug das klingt, aber er hat es nicht so gemeint. Wenn Jim herauszufinden sucht, was Leute gemeint haben, klingt er immer neunmalklug.
Ihre Gesichtszüge frieren ein, erstarren wie von einer Eisschicht überzogen. »Sie wissen, wer ich bin.«
»Ja, Ma’am«, sagt Jim. »Ich weiß, wer Sie sind.«
»Warum sind Sie dann hier?«
»Ihr Haus liegt nicht weit weg vom Nordtor. Es war nur eine Vermutung.«
»Und nicht Direktor Juggs Idee?«
»Nein, Ma’am.«
»Wie lange sind sie schon auf der Flucht?«
»Eine Weile.«
»Und er hat noch keinen von denen wieder eingefangen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Sie lacht krächzend. »Dann hätte er wissen müssen, dass sie hier sind. Wenn er sie sonst nirgends finden konnte.«
»Soviel ich weiß, hat er seine Tochter hier einmal hergebracht«, sagt Jim. Es war eine der Geschichten, die der Alte ihm erzählt hatte. Kaum hat er diese Vermutung geäußert, bereut er sie auch schon.
Mit eiskaltem Blick entgegnet sie: »Das war lang bevor er Direktor geworden ist. Und es war nicht seine Tochter.«
»Sie denken, er hat gewusst, dass sie hier sind? Er hat gewollt, dass man Sie tötet?«
»Ich bin die Einzige, deren Etablissement unter Direktor Jugg überlebt hat.«, sagt sie. »Wenn Sie mir nicht glauben, versuchen Sie, in der Stadt ein Bordell zu finden.« Ihre Augen flackern über die Anrichte in der Ecke. »Ganz hinten in der Anrichte ist noch eine Flasche Brandy. Die haben sie nicht entdeckt.«
Jim geht hinüber, findet die Flasche, eine Karaffe und Gläser. Er gießt ein Glas ein und bringt es ihr.
»Er ist ein verfluchter Schullehrer, dieser Direktor Jugg.« Sie leert das Glas in einem Zug. »Er würde mich auslöschen, wenn er könnte. Aber er tut es nicht, weil ich zu viel über ihn weiß.«
Jim nimmt ihr das Glas aus der zitternden Hand und stellt es auf den Beistelltisch.
»Da liegst du völlig falsch«, sagt Bellingham. Er lehnt in der Tür. »Der Direktor toleriert menschliche Schwächen nicht. Er lässt dich nicht in Ruhe, weil er Angst vor dir hat. Er lässt dich in Ruhe, weil du die Arbeit für ihn erledigst.«
»Das ist genau das, was du sagen musst«, sagt sie. »Direktor Juggs Schoßhund.« Sie nimmt das Glas und setzt es an den Mund, aber es ist leer.
»Du überschätzt dich«, sagt Bellingham. »Das passiert selbst den Besten unter uns.«
Jim nimmt ihr das Glas ab und geht zur Anrichte.
»Wenn du die Flasche anrührst, teile ich dich für den Rest deines Lebens zum Wochenenddienst ein«, sagt Bellingham.
»Es ist für sie.« Jim gießt den Brandy ein. »Sie sagt uns gleich, wohin sie gegangen sind.«
Beide Gesichter drehen sich ihm zu.
»Hat sie dir schon etwas verraten?«, fragt Bellingham.
»Noch nicht«, sagt Jim. Er geht hinüber zum Weihnachtsbaum und hebt den Torso des Jesuskinds hoch, dem Kopf und Arme abgerissen sind. Er dreht ihn in der Hand, setzt ihn vorsichtig in die Krippe, dann bringt er Pearl das Brandyglas.
»Ich hasse sie.« Ihre Stimme ist spröde wie eine Zigarre, die man in der Sonne liegen gelassen hat. Sie nimmt das Glas. »Ihr habt keine Ahnung, wie sehr.«