Читать книгу Flucht - Benjamin Withmer - Страница 19
12 – Der Häftling –
ОглавлениеDie Bretter knarren im Wind, und das Blechdach singt, Schnee rieselt durch die Ritzen im Scheunendach und bestäubt Mopars Arme. Dort in der Scheune steht das Auto der Olivers, vor einem Traktor geparkt, dessen ganze Ölwanne in das Sägemehl ausgelaufen ist. Es ist ein 1956er Ford Parklane. Er war nicht angesprungen, hatte keinen Mucks gemacht, und jetzt schaut sich Mopar im Licht einer Scheunenlaterne den Motor an.
Mopar kennt sich aus mit Autos. Es ist das Einzige, was er kann. Er hat es als Handlanger seines Vaters gelernt, hat ihm die Werkzeuge gereicht und ihm beim Reparieren zugesehen. Sein Vater hatte nur dann Geduld mit der Welt, wenn er sein Gesicht unter eine Motorhaube stecken konnte. Mopar hat diesen Charakterzug geerbt. Auch die Rastlosigkeit, die ihn packt, wenn ein Auto nicht anspringen will, hat er von seinem Vater. Als ob man in ein besseres Leben starten könnte, wenn man nur die verdammte Karre zum Laufen bringen würde.
Aber dieses bessere Leben kommt nicht. Es kommt nie.
Verdammte Karre. Und verdammter Bad News.
Mopar steht da, die Motorhaube mit seinem Kopf hochgehalten, die Hände feuerrot und mit Eis verkrustet. Er kann sich nicht konzentrieren, egal, wie lange er auf den Motorblock schaut. Nur aus einem einzigen Grund hat er noch nicht aufgegeben. Wenn er diese Karre zum Laufen bringt, fährt er damit aus der Scheune und direkt den Berg hinunter nach Fort Collins. Er hat genug davon, von Howard herumkommandiert zu werden, das ist ihm scheißklar. Der kann ihn mal.
Ein Windstoß trifft die Scheune, das ganze Gebäude zittert. Und Mopar dämmert es, dass weder Howard noch Bad News das Problem sind.
Es ist die, die es immer schon war.
Molly.
Verfluchte Molly. Verflucht, dass du diesen Scheiße fressenden Hilfssheriff Rose geheiratet hast und dich mit einem Arsch wie Peter Perkins eingelassen hast. Verdammt, dass du auf meine Briefe nicht geantwortet und mich nie besucht hast. Verflucht sollt ihr alle sein.
Mopar versucht, sich wieder auf den Motor zu konzentrieren, aber der rührt sich nicht. Sein Gehirn ist wie eine dieser alten Maschinen, die nicht mehr anspringen. Manchmal kann man das Gehirn in Gang bringen, indem man seine Hände benutzt. Der Alte nannte es, mit den Händen denken. Man muss einfach mit irgendetwas anfangen, auch wenn man noch nicht genau weiß, wie man vorgehen soll, früher oder später lösen die Hände das Problem dann von allein. Das hat früher tatsächlich funktioniert.
Aber nicht jetzt. Mopar kann nicht mal seine Hände bewegen. Sie schmerzen, als ob die Kälte ihm das Fleisch von den Knochen schält, und er ist so müde, dass er sich in Hirngespinsten verliert und in den dunklen Ecken im Motorraum Bilder zu sehen glaubt.
Zum Beispiel Molly.
Er sieht ihr Gesicht vor sich auftauchen und verschwinden, ihre Augen rund wie Bonbons.
Zum Teufel mit mir selbst, denkt er. Ich selbst bin so bekloppt mein Leben wegen einer Frau zu versauen. In der verfluchten Hölle soll ich schmoren, weil ich dabei bin, es zum zweiten Mal zu tun. Verflucht soll ich sein, da mir nichts, aber auch gar nichts in meinem Leben gelingt.
Er lässt die Motorhaube zufallen.
»Und wie sieht es aus, Sportsfreund?«, fragt Howard. Er sitzt auf einem Lehnstuhl am Radio. Es ist ein großer Lehnstuhl, aber mit ihm darin sieht er aus wie ein Puppensessel.
»Wenn wir ein paar Pferde hätten, könnten wir die Karre wahrscheinlich zum Laufen bringen«, sagt Mopar.
Howard verzieht den Mund. Bad News und Warrington trampeln oben im ersten Stock herum. Ziehen Schubladen auf, leeren den Inhalt auf den Boden, stellen Möbel auf den Kopf. »Dieser schwanzlutschende Dreckskerl«, sagt Howard. »Ich sollte ihm den Kopf spalten und ihn in den Arsch ficken.«
Mopar geht zum Ofen und hockt sich davor, um seine Hände zu wärmen. Er hält sie so dicht davor, dass er beinahe das heiße Metall berührt. »Ist das Jugg im Radio?«
»Das ist er«, sagt Howard.
Mopar hört zu. Direktor Jugg hat nicht viel zu sagen. Das Übliche für die Leute in der Stadt. Im Haus bleiben und die Türen geschlossen halten. Er reitet seinen Gesetzeshüter-Scheiß und Mopar nimmt es persönlich.
Warrington trampelt in seinen schweren Anstaltsstiefeln die Treppe herunter. Er legt zwei Waffen auf den Couchtisch. Vorsichtig. Als wären sie aus Glas.
Mopars Herz pumpt alles Blut in seinen Bauch. Es ist ein .38er Kipplaufrevolver, der aussieht, als sei er seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr abgefeuert worden, und ein .22er Unterhebel-Repetiergewehr mit einem verrosteten, angefressenen Lauf.
»Was ist das?«, fragt Howard.
»Das ist alles«, sagt Warrington.
Howard macht sich keine Mühe, eine der Waffen anzufassen. »Und was ist mit Munition?«
»In dem .38er sind fünf Patronen, und ich habe eine 50er-Schachtel für die .22er. Aber zwölf davon fehlen.
Howard reibt sich die Stelle zwischen seinen Augen. »Wenn wir mit denen geschnappt werden, können wir nur noch hoffen, dass die Bullen sich totlachen.«
»Es tut uns leid.« Alice kommt mit einem silbernen Kaffeetablett herein, Murray folgt ihr mit einem Geschirrtuch über der Schulter. »Wenn das nächste Mal eine Bande von Degenerierten bei uns einbricht, werden wir schauen, dass ein richtiges Waffenarsenal bereitliegt.«
»Wenn du sie weiter atmen hören willst, dann sorg dafür, dass diese Bitch ihr Maul hält«, sagt Howard zu Murray.
Murray zwinkert ihm zu. Der Gedanke, sie zum Verstummen zu bringen, scheint ihm nicht ganz fremd zu sein. Er hat wohl nur noch nicht die richtige Methode dafür gefunden.
»In meinem eigenen Haus, Murray«, sagt Alice. »Du lässt diesen Nigger in meinem eigenen Haus so mit mir reden?«
»Schaff die Schlampe hier raus«, sagt Howard. »Jetzt sofort.«
Murray nimmt Alice am Ellbogen und zieht sie in die Küche.
Bad News kommt die Treppe heruntergehüpft. Er steckt in einem braunen Anzug und zupft sich die ausgefransten Manschetten. Es ist eine etwas schäbigere Version des Anzugs, den Murray trägt. »Der hat meine Größe.« Bad News knöpft den obersten Hemdknopf zu.
»Ich bin froh, das zu hören«, sagt Howard. »Hast du zufällig etwas gefunden, das jemand anderem passen könnte?«
Bad News ignoriert ihn und betrachtet die Waffen auf dem Couchtisch. »Was soll das denn sein?«
»Gibt’s denn keine Mäntel?«, will Howard wissen.
Bad News studiert immer noch die Waffen. »Das ist alles?«
»Das ist alles«, sagt Howard.
»Niggertitten.«
»Was zur Hölle hast du gesagt?«
»Ist nur ein Ausdruck.« Bad News nimmt die .38er hoch. »Geladen?«
Howard nickt.
»Schwingt eure Ärsche raus«, schreit Bad News in Richtung Küchentür.
Murray kommt aus der Küche.
Bad News richtet den Revolver auf ihn. »Wo, verdammt, sind die Mäntel?«
Murray starrt auf den Revolver. Seine Hände zittern. »Im Garderobenschrank.«
»Wo ist der, du Wichser?« Bad News spannt den Hahn. »Nein, noch besser, warum bringst du mir die nicht?«
Murray tippelt weg, Bad News dreht die Pistole um. »Ich glaube, damit können wir nicht einmal einen Kampf gegen ein bewaffnetes Kaninchen gewinnen«, sagt er.
»Scheißkerl«, sagt Howard.
»Es gibt immer noch die Gefängnisfarm da drüben«, sagt Warrington.
»Scheißkerl«, sagt Howard noch einmal.
Murray kommt mit zwei Mänteln zurück.
»Einen nehme ich.« Bad News nimmt Murray den obersten Mantel ab.
»Gib ihm den anderen.« Howard nickt Richtung Warrington. »Mopar und ich haben die von den Wärtern.«
Warrington probiert den Mantel an. Die Ärmel sind viel zu kurz. »Was ist mit dem Auto?«
»Du warst bei den Waffen erfolgreicher,« sagt Mopar.
»Kein Kampf und keine Flucht«, sagt Bad News. »Wenn das keine Scheiße ist.«
»Klingt beinahe als ob der Unfall keine gute Idee war«, sagt Howard.
»Musst du jetzt wieder darauf herumreiten«, sagt Bad News.
»Nein. Hat keinen Sinn. Du verfluchter Scheißkerl.«
»Da hast du recht«, sagt Bad News. »Man kann nicht mehr ändern, was schon passiert ist. Das ist gelaufen, ein für alle Mal. Wenn das jedem klar wäre, hätten wir eine bessere Welt. Aber um das zu lernen, habe ich LSD gebraucht. Das kann ich nicht von jedem erwarten, dass er das kapiert.«
Howards Gesicht arrangiert sich zu so etwas wie einer Totenmaske.
»Es gibt immer noch die Gefängnisfarm«, sagt Warrington.
»Du wiederholst dich«, sagt Howard.
»Aber nur, weil es sie immer noch gibt.«
Bad News nickt Richtung Küche. »Ich bin nicht gern unhöflich. Wie heißen sie verdammt noch mal gleich? Ich hab’s vergessen.«
»Alice und Murray«, sagt Mopar.
»Alice und Murray, schwingt eure Ärsche rüber«, ruft Bad News.
Murray kommt wieder herein, Alice hinter ihm. Was immer Murray zu ihr gesagt hat, scheint sie nicht eingeschüchtert zu haben.
»Wo geht’s zur Gefängnisfarm?«, sagt Bad News.
»Geht ihr?«, fragt Alice.
Bad News nimmt den Revolver hoch und feuert. Die Kugel fährt keine Armlänge am Kopf von Alice vorbei und schlägt ein Loch in die Kuckucksuhr. Als Mopars Ohren sich vom Knall erholt haben, braucht es einen Moment, bis ihm klar wird, dass das Schwirren in der Luft von den Uhrfedern kommt.
»Wenn du die noch mal hier drinnen abfeuerst, bekommst du richtig Ärger mit mir«, sagt Howard.
»Den kannst du mit dir selber haben«, sagt Bad News. »Ich mach’ mich hier weg, und Warrington kommt mit. Du auch, Mopar?«
Bei jedem anderen außer Bad News wäre seine Antwort ja. Bad News hat recht, dass sie zur Gefängnisfarm müssen. Da gibt es Waffen und Autos und alles, was sie brauchen. Aber da ist eben auch Bad News. Und sobald du mit ihm gemeinsame Sache machst, hat die Welt eine Neigung, außer Kontrolle zu geraten.
Mopar kennt Howard nicht gut. Er kennt niemand von den Schwarzen gut. Sie machen ihn argwöhnisch, sie versetzen ihn in höchste Alarmbereitschaft.
Aber niemand von ihnen ist wie Bad News.
»Ich bleibe«, sagt Mopar.