Читать книгу Flucht - Benjamin Withmer - Страница 12
5 – Der Häftling –
ОглавлениеMopar kann Molly einfach nicht vergessen. Selbst jetzt nicht. Das Adrenalin hat sich gerade erst verflüchtigt, und schon beherrscht sie wieder seine Gedanken. Sein Kopf brüllt, dass er hier draußen auf derselben Seite ist wie sie. Immer noch kauert er neben dem Piano und hat die selbstgemachte Schrotflinte in der Hand. Draußen vor dem Fenster treibt der Schnee weiße Striche durch das dunkler werdende Blau. Hinter dem Gefängnis ragt der Dos Tortugas Mountain hervor. Er trägt Mollys Gesicht. Der Schnee, die Bergflanke. Es ist ihr Sommergesicht, weil es in den Erinnerungen an sie immer Sommer ist. Sonnenbaden auf einer Decke in ihrem Garten, neben ihnen ein Stapel Bücher. Ihre Kleider und Bettlaken flattern an der Wäscheleine. Und später sind es ihr Haar, ihre braunen Schultern, der Geruch von Sonne und Sonnencreme.
Es ist sinnlos, darüber nachzudenken. Es gibt da eh nichts mehr zu holen. Molly ist nicht ein einziges Mal gekommen, um ihn zu sehen. Jemand wie sie kommt nie.
Warrington liegt an der Wand, die Hände auf der Brust, und schnarcht zufrieden. Schwer zu sagen, ob Bad News auch schläft. Seine Füße zucken so sehr, als würde er Hasen jagen. Die beiden haben eine ganze Flasche Brandy intus, die sie in einem Geschirrschrank gefunden haben.
Und dann sind da die Wärter. Der Blonde hat sich nicht gerührt, seit Howard ihn mit dem Rohr niedergeschlagen hat. Mopar selbst ist so oft geschlagen worden, dass er kein Mitgefühl hat, aber all das Blut hat ihm den Magen aufgewühlt.
»Wir dürfen nicht länger warten«, sagt Mopar. »Wir müssen hier schleunigst weg.«
»Sind wir bald.« Howard hat sich in einen der Sessel gequetscht wie ein Bronco in einen Pferch. Er zählt das Geld, das Bad News und Warrington in Pearls Schlafzimmer gefunden haben.
»Warum verdammt noch mal nicht jetzt?«
»Weil ich nicht in hundert Bullen laufen will, wenn ich rausgehe. Wir sind nur ganze vier Blocks vom Knast weg. Ich warte ab, bis sie sich aufgeteilt haben, um nach uns zu suchen. Vorher gehe ich nirgendwo hin.«
Der blonde Wärter mit der geplatzten Kopfhaut zuckt plötzlich, wird dann steif.
»Leck mich am Arsch«, sagt Mopar.
Howard sieht ihn an. »Einen Hilfssheriff«, sagt er. »Den hast du erschossen, hab ich recht, Kumpel? Oder sind das falsche Details?«
Es liegt an all dem Roten. Ein großer roter Ofen. »Die werden im Nu alle hier sein.« Mopars Finger krümmen sich um die Schrotflinte.
Howard steckt das Geld in seine Gesäßtasche. »Du wolltest wie Dillinger sein und hast deshalb einen Hilfssheriff erschossen, stimmt’s? Das war in allen Zeitungen zu lesen.«
Mopar schüttelt etwas von dem Rot aus seinem Kopf. Steh auf, du Scheißkerl, sagt er zu sich selbst. »Man muss nicht alles glauben, was in der Zeitung steht«
»Du hast ihn nicht umgebracht?«
»Und ob ich den Hilfssheriff erschossen habe«, sagt Mopar. »Aber die Dillinger-Sache hab ich nie gesagt.«
»Dein Rechtsanwalt hat es auch wiederholt«, sagt Howard. »Ich hab die Zeitung gelesen.«
»Er war Anwalt«, sagt Mopar. »Die sind alle nicht richtig im Kopf. Die werden das nur, weil sie als Kind missbraucht worden sind oder so was.«
Howard setzt die randlose Brille ab und hält sie in der Hand. »Du weißt, warum ich dieses Schwein zusammengeschlagen habe?«
Mopar versucht aufzustehen. Es geht leichter als gedacht. »Weil er dich geschlagen hat?«
»Nein. Verdammt noch mal, nein. Jeder von diesen Schweinebullen hat mich geschlagen.«
»Warum dann?«
»Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeigegangen bin, hat er mir einen kleinen Schubs gegeben. So klein, dass man es kaum bemerken konnte. Ich seh dich wieder, Meister, hat er dann immer gesagt.«
»Das ist doch nicht so schlimm«, sagt Mopar. »Zu mir hat er was viel Schlimmeres gesagt. Sie alle.«
»Meine Frau hat genau das zu mir gesagt, als sie mich das letzte Mal besuchen kam. Sie hat meinen Jungen mitgebracht. Acht Jahre alt. Sie hat das gesagt und mir einen Kuss gegeben, und dieser blöde Kerl, dieses Schwein, hat direkt danebengestanden. Seitdem hat er es jeden Tag zu mir gesagt.« Howard zeigt mit der Flinte zu dem Wärter. »Ich würd’s wieder tun.«
»Hast du noch Tabak?«, fragt Mopar.
»Steck dir deinen Tabak sonstwo hin.« Howard setzt die Brille auf, hinter den Gläsern schwellen seine Augen an. »Jeder, der mit diesen Arschlöchern dort drinnen gewesen ist, versteht das.«
»Ich versteh es auch«, sagt Mopar. »Tabak?«
Howard zieht einen Beutel Anstaltstabak aus der Jackentasche und gibt ihn Mopar.
Pearl schnieft vom Sofa. Es ist das erste Geräusch, das sie seit langer Zeit gemacht hat. »Was für ein Paar«, sagt sie. »Einer von diesen Jungs zieht dich ein wenig auf, und du schlägst ihn halb tot.«
»Warum ziehst du mich nicht ein wenig auf?« Howards Gesicht nimmt einen harten Ausdruck an, als sei es rund um die ovalen Brillengläser gehämmert. »Du wirst nicht damit durchkommen, dass du Frauenkleider trägst, du Schlampe.«
Bad News setzt sich mit einem wilden Ruck auf, sein Kopf wackelt. »Was zum Teufel war das?«
»Du bist gerade rechtzeitig aufgewacht.« Howard deutet mit dem Kinn auf Pearl. »Ich bin dabei, diese kindermordende Fotze zum Schweigen zu bringen.«
Bad News blinzelt zu Pearl. Er sagt: »Hab ich dir je vom ersten Mal erzählt, als ich eine gesehen habe?«
»Was gesehen?« Mopar leckt das Zigarettenpapier an und klebt die Zigarette zu.
»Eine Fotze.«
Howard nimmt wieder die Brille ab, reibt sich die Augen.
»Es war die von meiner Mutter«, sagt Bad News.
Howard setzt sich die Brille wieder auf.
»Ich hab mich damals gefragt, ob das dumme Ding je wieder aufhört zu heulen?« Bad News lacht sich scheckig, es klingt wie das Gekicher von kleinen Mädchen. Dann macht er die Augen zu und schläft wieder ein.
Das alles reicht aus, damit es einem schlecht wird. Mopar entnimmt dem Beutel ein Zündholz und zündet sich die Zigarette an. Dann steckt er alles wieder in den Beutel und wirft ihn Howard zu.
Er raucht. Der Anstaltstabak schmeckt wie Jod, aber es ist Tabak. Er raucht und wartet. Denkt dabei nicht an Molly.
Kurze Zeit später steht Howard auf und tigert durch den Raum. Er scheint etwas zu zählen. Dann hält er inne und gibt Harrington einen Klaps auf den Kopf. »Steh auf, du Hundesohn. Greif dir all das an Essen, was ihr nicht aufgefressen habt.« Er tritt Bad News in die Seite. »Du auch.« Dann dreht er sich zu Pearl. »Wo sind die Autoschlüssel?«
Pearl tastet nach etwas in ihrem Genick.
»Schieß ihr in das verdammte Rückgrat«, sagt Howard zu Mopar.
Sie deutet zur Tür hinüber, wo er kurz zuvor noch gestanden hat. Dort sind Haken an der Wand, an denen Schlüssel hängen. »Genau da.«
»Ist der brandneue Ford LTD von dir?«, fragt Howard.
Ihre Augen sind wie schmutziger Schnee.
»Nimm die Schlüssel für den Ford«, sagt Howard.
Mopar holt sie für ihn.
Auf der Suche nach Essbarem wuseln Bad News und Warrington in der Küche herum. Glas zerbricht.
»Also, was ist der Plan?«, fragt Mopar. »Denver? Mexiko?«
Pearl versucht krampfhaft, vom Sofa aus zu verstehen, was sie sagen. Ihr Gesicht ist vor lauter Konzentration verzerrt und erinnert an eine Ratte mit gespitzten Ohren.
»Ich schneide dir den verdammten Kopf ab«, sagt Howard zu ihr.
Sie dreht ihr Gesicht zur Wand.
»Summ was«, sagt Howard.
Sie summt I Got Stripes.
»Ich schneide dieser mörderischen Bitch den Kopf ab«, sagt Howard zu Mopar. »Aber nicht Denver. Ich wette zehn zu eins, dass sie rings um Denver Straßensperren haben.
»Das stimmt«, sagt Mopar. »Mexiko. Irgendein netter kleiner Platz, und sie finden uns nie.«
»Man darf nicht so weit vorausdenken. In dem Moment, in dem du dich auf Mexiko fixierst, bist du so gut wie geschnappt.«
»Das leuchtet mir nicht ein.«
»Die sitzen alle gerade in einem Raum«, sagt Howard. »Direktor Jugg und die ganzen Micky-Maus-Trantüten. Die sitzen nur da und versuchen, so zu denken wie wir. Wir werden nicht klüger sein als sie. Sobald wir das glauben, haben sie uns.«
»Also denken wir nichts. Verstehe. Wohin dann?«
»Fort Collins«, sagt Howard.
»Fort Collins? Was zum Teufel ist in Fort Collins?«
»Nichts. Das ist genau der Punkt. Aber es ist die nächste Stadt, die groß genug ist, damit wir dort ein paar Tage untertauchen können. Und niemand sonst geht nach Fort Collins.«
»Es ist doch nur die verdammten Berge hinunter. In Fort Collins wird es von ihnen nur so wimmeln.«
»Wird es nicht. Sie werden uns in Denver suchen. Oder auf dem Weg nach Mexiko. Da, wo alle hingehen.«
»Mir ist scheißegal, wohin wir gehen.« Mopars Gehirn fühlt sich an, als würde es seinen Kopf verlassen und gegen die Zimmerwände drücken. »Ich muss nur hier raus.«
»Das ist seit jeher dein größtes Problem«, sagt Howard. Er ruft in Richtung Küche: »Seid ihr Hundesöhne alle fertig?«
Warrington und Bad News kommen herein. Warrington trägt einen ledernen Reisekoffer. »Hab ich oben gefunden«, sagt er. »Hab einiges an Futter eingefüllt.«
»Prima«, sagt Howard. »Und was hast du, Bad News?«
Aber Bad News hört ihm nicht zu. Er starrt zum Weihnachtsbaum mit der Krippe darunter. Porzellanfiguren in Kleidern aus Sofakissenstoff. Josef und Maria und eine dieser Puppen, die sich selbst nassmachen können, als Jesus. Er geht hinüber, nimmt den Baby-Jesus aus der Futterkrippe. »Das ist eine Puppe«, sagt er. Klopft mit seinen Knöcheln gegen ihren Kopf und schlägt sie dann neben dem Baum gegen die Wand. »Es ist eine Puppe.«
»Es ist eine Puppe«, sagt Howard. »Nicht mehr und nicht weniger.«
Immer noch hält Bad News die Puppe an einem Arm fest, er nimmt ihren anderen Arm und zieht so lange daran, bis er nachgibt. Füllmaterial quillt heraus. Dann reißt er ihr auch noch den zweiten Arm aus und dreht ihren Kopf ab. »Eine verdammte Puppe.« Die Puppe in seiner Hand hat keine Arme mehr und keinen Kopf. Bad News steht mit hängenden Schultern da und schneidet ein Gesicht. Er lässt die Puppe zu Boden fallen, hebt eins der Geschenke hoch. Er hält es ans Ohr und schüttelt es. »Auch die Geschenke sind leer.« Ihm bricht die Stimme, als er das sagt.
Howard sieht ihn an. »Die Welt ist dafür da, dir das Herz zu brechen«, sagt er. »Zeit, dass wir gehen, Blödsack.«