Читать книгу Flucht - Benjamin Withmer - Страница 8
1 – Der Häftling –
ОглавлениеEiner hat sich in die Hose geschissen. Mopar Horn weiß nicht, ob Wärter oder Häftling, aber das Wohnzimmer stinkt bis zum Anschlag nach Scheiße. Mopar reibt sich die Augen. Hockend klammert er sich an ein Pianino, hält sich an einem der geschwungenen Beine fest, während die Welt unter ihm wegrutschen will.
»Beruhige dich, verdammt noch mal, dann lockern wir dir das«, sagt Mitch Howard aus dem Flur. Er trägt immer noch die Uniformmütze, die er aufgesetzt hat, damit die Schützen in den Wachtürmen nicht sehen können, dass er schwarz ist. Das Ding ist zu klein für ihn und wackelt, wenn er redet.
»Was?«, fragt Mopar. »Verdammt, was hast du gesagt?«
Howards Brille sitzt noch schief von ihrem Sprint. Mit einem Zeigefinger, dick wie ein Babyarm, rückt er sie auf der Nase zurecht. Er ist ein Gewichtheber-Freak. »Ich rede mit denen«, sagt er. Er meint die drei Wärter, die auf dem roten Wohnzimmerteppich knien, Hände auf den Rücken gefesselt, Gesichter rot wie reife Tomaten. Zwei von ihnen haben kapiert, dass sie sich am besten nicht bewegen und sich ums Atmen kümmern, aber der Blonde wetzt seine Handschellen gegen den Absatz seines Stahlkappenschuhs. Er atmet stoßweise durch die Garotte aus Kupferdraht, die eng um seinen Hals liegt. Unter seinem Hemd beulen sich die Schultern, Blut tropft ihm von den Handgelenken und sickert in den Teppich.
Rotes Blut, rotes Sofa, rote Sessel, rote Vorhänge, eine Tischlampe mit rotem Schirm. Sogar die Lichter am Weihnachtsbaum sind rot. Mopar wischt sich die Stirn mit dem Ärmel seines Uniformhemds ab und blinzelt, um wieder klar zu sehen. Aber immer noch ist alles verfickt rot. Und da ist auch ein Ton. Ein roter Ton. Er summt und pocht wie pumpendes Blut. Wo verdammt kommt der her? Mopar greift sich an den Krawattenknoten, zieht ihn auf, reißt sich das Ding ab und wirft es an die Wand. »Wo sind die alle?«, fragt er. »Verdammt, wo sind die alle hin?«
Niemand antwortet ihm. Die alte Frau liegt zusammengekauert auf dem Sofa. Ihr verblichenes Haar ist nach hinten zu einem Knoten hochgesteckt. Er sieht aus wie ein Stück Holz, das mit einem Zimmermannsnagel an den Schädel geheftet ist. Wesley Warrington und Bad News Dixon, die anderen beiden Häftlinge, lümmeln sich auf zwei Wohnzimmersesseln. Es gab nicht genügend Wärteruniformen, deshalb stecken sie noch in den blauen Anstaltsjeans und Jacken.
Aber das sind schon alle, die mit ihm im Raum sind. Dabei sind sie mindestens zu zwölft gewesen, als sie durch das Nordtor hinaus sind. Daran erinnert sich Mopar genau. »Verdammt, wo sind die alle hin?«, fragt er.
»Die sind weg«, sagt Howard. »Hier sind nur ich, du, Warrington und Bad News. So war der Plan.«
»Was für ein Plan? Von so einem Plan habe ich nichts gehört. Mist.«
»Mein Plan«, sagt Howard. »Zerbrich dir bloß nicht deinen schönen kleinen Punkschädel.«
»Leck mich.« Mopars Gehirn schwillt an, er atmet durch den Mund. Sein Kopf steht unter Druck, gleich platzt er. »Ist die Sirene schon gegangen? Ich hab sie nicht gehört.«
»Alles in Ordnung, Sportsfreund«, sagt Howard. »Konzentrier dich aufs Atmen.«
Mopar will ihn am liebsten mit der provisorischen Schrotflinte abknallen. Behandle mich wie einen Deppen, und ich male dir die Wände rot. Noch roter. Immer noch hat er diesen Ton in seinem Ohr, das Summen. Als ob in den Wänden rings um ihn das Blut pocht. Atme.
Er sieht zum Fenster. Die Berge flackern struppig und grau durch den Schnee. Die Sonne ist eine Laterne, die zwischen den Gipfeln nach unten sinkt. Mopar strengt sich an, ruhiger zu werden. Atme, du Scheißkerl. Es ist der erste Sonnenuntergang, den er seit einem Jahrzehnt gesehen hat. Atme.
Der blonde Wärter kämpft immer noch mit seinen Handschellen. Sein Haar ist dünn wie bei einem Neugeborenen, die Kopfhaut ganz rosa. Seine Augen wirken aufgequollen, das linke füllt sich mit Blut, die Äderchen sind geplatzt. Er wirft sich nach vorn, zuckt wie ein Tausendfüßler auf der Herdplatte.
»Mach ihnen die Garotten ein wenig auf«, sagt Howard zu Mopar. »Locker sie, bevor einer von diesen verdammten Hinterwäldlern sich noch selbst umbringt.«
Er redet mit mir wie mit einem verdammten Kind. Selbst wenn Mopar könnte, würde er sich nicht vom Fleck rühren. Scheiß auf diese Wärter.
»Verstanden.« Bad News erhebt sich aus seinem Sessel. Sie haben die Garotten in der Gefängniswerkstatt hergestellt. Aufgewickelter Kupferdraht mit einem Holzgriff, Bad News zieht den blonden Wärter daran hoch. Der Draht schneidet in den Hals, verschwindet im Blut. Das Gesicht des Wärters wechselt von rot zu violett, die Zunge schwillt ihm an. Bad News zieht ihn hoch und lässt ihn wieder herunter auf die Knie, den Griff aber hält er fest.
»Mach schon«, sagt Howard. »Noch bringen wir diese Hinterwäldler nicht um.«
»Das würde ich nicht so schlimm finden«, sagt Bad News. Er ist jung und nervös, hat den Blick eines Borderliners. Seine großen Augen sind nur Pupillen. Er sagt, seine Nerven sind vom LSD erledigt. Er sagt, wenn man genug LSD eingeworfen hat, wird man gesetzlich für geisteskrank erklärt. Er sagt, er hat die sechsfache Überdosis eingeschmissen, und wer ihm nicht glaubt, kann ja diese eine Bitch in Boulder fragen. Nur dass man sie nichts mehr fragen kann.
Der blonde Wärter greift nach dem Draht um seinen Hals. Bad News hat immer noch den Holzgriff in der Hand.
»Mach schon«, sagt Howard zu Bad News.
Bad News dreht die Garotte auf. Der Wärter fällt nach vorn und keucht. Er kotzt auf den Teppich. Bad News lockert auch die zwei anderen Garotten, beide Wärter zucken, wenn sie seine Hand am Holzgriff spüren. Er sagt: »Es wird dir noch leidtun, dass wir diese Arschlöcher nicht umgebracht haben.«
»Mir wird gar nichts leidtun«, sagt Howard. »Schau mal, ob du für uns was zum Essen findest.«
»Komm mit, Warrington«, sagt Bad News. Sie gehen um Howard herum und verlassen das Wohnzimmer.
Howard schaut die alte Frau auf dem Sofa an. »Wie heißt du?«
Die alte Frau starrt ins Nichts, als würde sie das alles nichts angehen. Sie sieht Howard mit ihren grauen Augen an. »Pearl«, sagt sie.
»Bist du verheiratet, Pearl?«
Sie zieht eine selbstgedrehte Zigarette und Zündhölzer aus ihrer Schürze, gibt sich Feuer. Sie wedelt mit dem Streichholz, bis es ausgeht, wirft es auf den roten Teppich, so als sei es nicht ihrer.
Howard tritt mit einem Uniformstiefel darauf. »Ich krieg dich schon noch zum Antworten.«
»Wenn ich einen Mann hätte, hätte ich das gesagt.«
»Schnalle, du bist ja eine Marke. Wie steht’s mit einem Sohn?«
Sie bläst den Rauch an die blechverkleidete Decke.
»Es gibt also keine Klamotten, die einem von uns passen könnten?«
Sie sieht ihn mit einem Blick an, als ob er Hundescheiße auf dem Teppich ist. »Der Kleine könnte in meine Sachen passen.«
»Da haben wir ja eine echte Klugscheißerin«, sagt Howard. »Wenn du hier alleine wohnst, warum stehen dann da draußen drei Autos?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich allein bin.«
Howard massiert sich zwischen den Augen. »Okay«, sagt er, »fangen wir noch einmal neu an. Wer außer dir lebt hier noch?«
»Ich hab Pensionsgäste«, sagt sie. »Zwei von ihnen haben Autos.«
»Und wo verdammt sind die gerade?«
Bad News kommt zurück ins Wohnzimmer, Warrington im Gefolge. Bad News hält eine Umhängetasche. Er grinst ein wenig, als er sie Howard gibt.
Howard öffnet die Ledertasche. Macht sie wieder zu. »Pensionsgäste?«
Pearls Augen verändern sich nicht. Nicht die Spur.
»Ich nehme an, es überrascht euch nicht sonderlich, was für Gäste Pearl hier empfängt«, sagt Howard zu den Wärtern. Er öffnet die Tasche noch einmal. »Sie kommen von überall her, um dich zu sehen, Pearl? Deine Gäste?«
»Ich hab meinen Mann neunundvierzig verloren.« Sie sagt es, als ob ein Tier hinter ihrem Gesicht leben würde und sie alle Willenskraft aufwenden muss, um es zurückzuhalten. »Damals beim Ausbruch. Jemand von euch hat ihn umgebracht.«
»Neunundvierzig war ich nicht im Gefängnis«, sagt Howard. »Da war ich ganze zehn Jahre alt.«
»Ich muss nur die Straße runtergehen und mir diese Mauern anschauen«, sagt sie. »Das reicht, um mir in Erinnerung zu rufen, warum ich tue, was ich tue.«
»Ich wette, hier gibt es auch noch einen Haufen Geld, der dich daran erinnert«, sagt Howard. »Einen großen Haufen Bargeld.«
»Die Frauen, die zu mir kommen, haben nichts mit Kindern am Hut«, entgegnet Pearl. »Die Frauen, die zu mir kommen, können nichts dafür, dass sie von den Frauen geboren worden sind, die ihre Mütter sind. Wenn ihr daran zweifelt, dass sie dieses Gefühl weitervererben, braucht ihr euch nur umzuschauen, wenn sie euch zurück ins Old Lonesome stecken.«
»Du bist eine verbitterte Frau«, sagt Howard. »Böse auf die Welt. Das ist dein Problem.«
»Nein. Ihr seid mein Problem. Ihr alle.« Und sie meint nicht nur alle im Raum. Sie meint auch alle da draußen.
»Böse und ausgetrocknet. Du hast einen Hass auf die Welt, weil sie dich nie feucht gemacht hat.« Howard öffnet die Tasche und zieht etwas aus Metall heraus, es sieht lang und ungemütlich aus. »Wie wäre es, wenn du mir sagst, wo ich das Geld finde? Entweder sagst du es mir, oder wir stecken das mal in dich rein und schauen, ob noch etwas übrig ist, was klappert.«
Sie verströmt Verachtung aus jeder Pore, ihrem Gesicht aber kann man ansehen, dass Howard falsch liegt. Sie ist nicht verbittert. Nur das Leben und all die, die mit ihren eigenen gebrochenen Herzen zu ihr kommen und es loswerden wollen, haben ihr das Herz gebrochen. Mopar fragt sich, ob es je ganz war.
»Unter meinem Bett fehlt eine Diele«, sagt sie. »Da liegt es.«
Howard nickt Bad News und Warrington zu. »Holt es«, sagt er.
Mopar wischt sich die Hände an seinen dreckigen Hosen ab. Sie sehen aus, als wäre er mit ihnen in eine Schlammschlacht geraten. Als er und die anderen aus dem Gefängnis ausbrachen, hatte es gerade zu schneien begonnen. Alles war voller Schlamm. »Wir müssen aufhören, unsere Zeit zu vertrödeln«, sagt Mopar.
»Zeit vertrödeln?«, sagt Howard.
»Die werden draufkommen, dass wir in einem der Häuser sind«, sagt Mopar. »Ich kann mich nicht entsinnen, in diesen Plan eingeweiht worden zu sein.«
»Wie weit kommen wir ohne Geld?«, fragt Howard.
»Geld wird euch nicht weiterhelfen«, sagt einer der Wärter. Der fette Kopf quillt ihm aus dem Hemdkragen.
»Woher verdammt willst du das wissen?«, fragt Howard.
»Das ist die Stadt von Direktor Jugg. Auch wenn ihr es aus dem Gefängnistor herausgeschafft habt, über die Stadtgrenze kommt ihr nicht.«
»Ist das wahr?« Howard stellt die selbstgemachte Schrotflinte an die Wand und zieht ein zwanzig Zentimeter langes Rohr aus seiner Jacke. Es ist eines der Eisenstücke, mit denen sie die Knastwärter niedergeschlagen haben, von denen sie die Uniformen haben.
Im Gesicht des dicken Wärters arbeiten die Muskeln. »Stellt euch«, sagt er. »Ihr kriegt ein wenig Einzelhaft, aber das war’s dann. Noch hast du keine Mordanklage am Hals, Howard. Noch nicht.«
Howard schwingt das Eisenrohr. Der Wärter krümmt sich, um ihm auszuweichen, aber es erwischt ihn am Ohr und er fällt zur Seite, gegen Pearls Beine. Howard holt noch einmal aus. Die Kopfhaut platzt auf, wie bei einem Orangenschnitz. Der Wärter sackt auf Pearls Schuhe, sie stößt ihn weg und er klatscht zu Boden.
»Du bist ein warmherziges Miststück«, sagt Howard zu ihr. »Das hätte dein Mann sein können.«