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14 – Der Fährtenleser –
ОглавлениеSie schleudern die Auffahrt zum Hauptgebäude der Gefängnisfarm hoch, und das Erste, was sie sehen, sind die Lichtstrahlen der Taschenlampen an der Hauswand. Dann die zwei Männer, die mit ihren Lampen hinter einem alten Pritschenwagen kauern.
»Das da drüben ist Inspektor Bowman.« Bellingham ist aufgeregt. »Sie sind im Haus.« Er lässt den Wagen ausrollen und hält direkt neben dem alten Arbeitsfahrzeug. Jims Seite ist vom Haus abgewandt, und er springt aus der Tür. Bellingham rutscht über die Sitzbank und folgt ihm.
Sie krabbeln zu Inspektor Bowman. Er ist gut sechzig und schwabbelig, hat einen dünnen schwarzen Schnurrbart und trägt einen braunen Stetson. Der Mann bei ihm kann keine Zwanzig sein, aber auch er hat einen braunen Stetson auf dem Kopf und einen leichten Flaum über der Oberlippe, eine schlechte Imitation von Bowmans Schnurrbart.
»Wie viele sind da drin?«, fragt Bellingham.
»Mindestens zwei«, antwortet Bowman. »Kann sein, dass ich Warrington gehört habe. Verdammt sicher habe ich Terry Dixon gehört.«
»Bad News?«, sagt Jim.
»Genau.«
Das ist nicht gut. Jim hat keine Zweifel, dass sie Warrington zum Aufgeben bringen können. Überhaupt keine. Er weiß sehr wohl, dass man nicht einfach auf jemand schießen darf, selbst wenn der sich an deiner Schwester vergriffen hat, aber der Kerl scheint es überlebt zu haben. Und soweit Jim richtig informiert ist, konnte sogar ein Großteil seines Unterkiefers wiederhergestellt werden. Mit Bad News ist es etwas anderes. Jim hat schon viele Geschichten über ihn gehört. Einmal soll Bad News wegen einer Blödelei unter der Dusche komplett ausgerastet sein. Ein Zwei-Meter-Kerl aus Georgia hatte wohl irgendeinen blöden Spruch gemacht. Bad News war daraufhin zwischen seine Beine gerutscht, hatte ihn von unten an den Eiern gepackt und so lange daran gedreht und gezerrt, bis er das Gemächt fast ganz abgerissen hatte.
»Haben Sie es Direktor Jugg durchgegeben?«, fragt Bellingham.
Bowman sieht ihn an. »Das Telefon ist im Haus.«
»Gibt es keins in der Scheune? Oder in der Schlafbaracke?«
Bowman starrt ihn immer noch an.
»In Ordnung«, sagt Bellingham. »In Ordnung.«
»Ich war bei den Texas Rangers«, sagt Bowman. »Kann sein, dass Ihnen das niemand gesagt hat.«
»Hab’s kapiert«, sagt Bellingham. »Sind welche von Ihnen da drin?«
Bowmans Gesichtsausdruck verändert sich nicht, aber die Luft scheint zum Zerreißen gespannt. Dazu dieser Geruch. Erst kann Jim ihn nicht einordnen, dann aber weiß er es. Es ist dieser Fischgeruch, den eine Katze ausströmt, wenn sie erschreckt wird. »Meine Frau«, sagt Bowman.
»Gibt’s eine Hintertür?«, fragt Jim.
»Gibt es«, sagt Bowman. »Aber sie haben gesagt, was sie tun, wenn wir uns dort hinbewegen. Und Bad News hält sicher Wort. Diese Missgeburt wartet schon lange drauf, dass er eine Frau in die Finger kriegt.«
Bellingham senkt den Blick, schaut zu Boden. Jim hustet in seine Handschuhe. Schon möglich, dass es in der Stadt eine noch hässlichere Frau gibt, aber bisher ist niemand einer solchen begegnet.
»Wollen wir wirklich einfach untätig hier herumsitzen?«, fragt Bellingham.
»Wenn sie ihr wehtun, fessle ich sie mit Stacheldraht und schlage sie mit einer Abschleppkette tot«, sagt Bowman. »Wir warten hier, bis sie rauskommen und ich ihnen das Licht auspusten kann.«
»Das klingt nicht so, als würden Sie ihnen eine Wahl lassen«, sagt Bellingham.
Bowman will etwas sagen, aber hält inne. Denn die Tür geht auf, und da steht sie. Seine Frau. Oder das, was von ihr übrig ist. Eine grobe Zeichnung in Kreide und Blutgeschmier. Sie taumelt die Haustürstufen hinunter, als ob ihr das Rückgrat gebrochen worden wäre und nur noch Teile ihres Körpers funktionieren.
Bowman ist sogar in seinen Cowboystiefeln schneller. Er ist Jim und Bellingham um Längen voraus, lässt sich in den Schnee sinken und legt ihren Kopf in seinen Schoß. »Mrs. Bowman«, sagt er zu seiner Frau.
Ihre Augen blinzeln durch das Blut. »Mister Bowman.«
»Wo sind sie hin?«, fragt Bellingham.
»Sie haben gedacht, ich sei tot«, sagt sie. Sie tränkt die Hose ihres Mannes mit Blut, es läuft in den Schnee. »Sie haben gedacht, sie hätten mich umgebracht, aber sie haben es nicht geschafft. Nicht bevor ich dich sehe, Mister Bowman.«
»Hör mit dem Reden auf, Mrs. Bowman.« Bowman dreht sich zu seinem Mitarbeiter. »Warum stehst du hier herum? Geh rein und ruf Jugg an. Sag ihm, dass wir einen Arzt brauchen.«
»Haben Sie gesehen, wo sie hin sind?«, fragt Bellingham.
»Ich habe ihnen gesagt, dass du ihnen das Licht ausbläst, Mister Bowman«, sagt sie. »Ich hab es beinahe selbst geschafft. Wenn ich schneller gewesen wäre, hättest du stolz auf mich sein können.«
»Mach dir darüber keine Gedanken, Mrs. Bowman«, sagt er. »Ich kümmere mich um sie. Sobald der Arzt hier ist.«
Sie lächelt dünn. Dann zieht sie scharf die Luft ein, und die Augen werden groß. »Mister Bowman?«
»Ich bin hier, Mrs. Bowman. Ganz bei dir.«
»Mrs. Bowman?«, hakt Bellingham nach. »Haben Sie vielleicht irgendetwas mitbekommen, was uns einen Anhalt geben könnte, wohin sie sind?«
Bowman zieht mit seiner freien Hand seinen Revolver aus dem Holster und hält ihn Bellingham unter die Nase.
»Ich muss fragen«, sagt Bellingham. »Verdammt noch mal.«
Bowman spannt den Hahn.
»In Ordnung«, sagt Bellingham. »In Ordnung. Verdammt.« Er geht auf Jim zu, der ein paar Schritte zurückgewichen ist.
Jim läuft los.
»Wohin gehst du?«, fragt Bellingham.
»Er hat gesagt, es gibt eine Hintertür. Komm.«
»Manchmal falle sogar ich auf deine verrückten Ideen herein«, sagt Bellingham.
Hinter dem Haus wirft Jim einen Blick auf die Tür und die Stufen und betrachtet dann den Schnee. Geht in die Hocke.
Die Tür öffnet sich, und Bowmans Mann mit dem imitierten Schnurbart kommt heraus. Er starrt zu Jim hinunter. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagt er.
»Wie heißt du?«, fragt Jim.
»Calvin.«
Jim zeigt auf die Spuren. »Gibt es hier entlang etwas, wo sie sich verstecken können?«
»Es gibt eine Hütte. Bowman ist da manchmal.«
»Was tut er da?«
Calvin wird rot. Dann zuckt er die Achseln.
»Was?«, fragt Jim.
»Er trinkt.«
»Wie weit ist es?«
»Vielleicht fünfzehn Minuten, wenn man schnell läuft.«
»Kann man mit dem Truck da hinunter?«
»Kann man. Unter dem Schnee ist ein Feldweg.«
»Wir gehen diesen Weg jetzt zu Fuß runter, Calvin«, sagt Jim. »Ich will, dass du Folgendes tust. Gib uns ungefähr zwanzig Minuten, dann kommst du mit dem Truck hinter uns her. Mach das Radio an, fahr durch jede Bodenwelle, drück’ auf die Hupe. Ich will, dass du so viel Krach wie möglich machst. Und wenn du da bist, will ich, dass du so parkst, dass die Scheinwerfer auf die Hütte zeigen. Schaffst du das?«
»Schaffe ich.«
Jim streckt seine Hand aus, der Mann schlägt ein. »Schön, dich kennenzulernen, Calvin.«
Jim und Bellingham marschieren los. Die Äste hängen niedrig, Schnee wirbelt um sie herum. Die Spuren der Häftlinge führen den verschneiten Weg hinunter. Jim hat immer ein mulmiges Gefühl, wenn er einer Menschenspur folgt. An solchen Spuren im Schnee ist immer etwas faul. Der Abdruck der gespaltenen Elchhufe oder die Punkte und Striche, die eine Pazifik-Kängururatte hinterlässt, hingegen machen Sinn. Aber die Spur eines Mannes im Schnee bedeutet immer, dass etwas passieren wird.
Bellingham versucht, hinter ihm zu bleiben, versinkt aber in jeder Schneewehe und bricht in jeden Hohlraum ein. Mal steckt er knietief im Schnee, mal kippt er zur Seite und muss sich mit der behandschuhten Hand abstützen. Jim wartet darauf, dass er sich den Knöchel verstaucht, aber er kann ihm nicht erklären, wo es sich gut laufen lässt. Das ist eins der Dinge, zu denen er nicht fähig ist.
»Es kann sein, dass sie auf uns warten.« Bellingham grunzt und fällt auf die Knie. »Die Spuren sind ganz frisch. Der Schnee hat sie kaum wieder aufgefüllt.«
Jim hilft ihm hoch. »Wir sind an die fünf Minuten hinter ihnen.«
»Meinst du damit, dass es keine so gute Idee ist, mitten auf dem Weg zu bleiben?«
»Sie sind müde. Wenn sie etwas zum Anhalten finden, werden sie anhalten.«
»Wie um Himmels willen kannst du wissen, dass sie müde sind?«
»So wie sie sich dahinschleppen.«
»Schleppen?«
Jim kniet sich neben eine der Spuren und bläst den Schnee weg. »Genau hier. Siehst du, wie der Schnee hineinfällt?«
»Das ist, weil es schneit, Jim. Es schneit, und es schneit in die Spuren. Ich bin nicht unbedingt ein Meister im Spurenlesen, aber sogar ich kann dir sagen, was passiert, wenn es schneit.«
Jim steht auf und geht weiter. »Es ist die Art, wie der Schnee in sie fällt, nur das sage ich.«
»Wie du meinst, Jim. Glaub, was du willst. Jedenfalls handelt es sich immer noch um verzweifelte Männer.«
»Sie stecken in einem Schneesturm, und sie haben kein Auto«, sagt Jim. »Das Einzige, was sie jetzt wollen, ist etwas zu essen und ein Bett. Wenn sie noch länger hier draußen bleiben, sind sie tot. Und für das, was sie getan haben, gehen sie noch in keine Gaskammer. Es sei denn, Bowmans Frau stirbt.«
»Sie wird’s überleben. Es war nur ihr aufgeplatztes Gesicht. So etwas blutet.«
»Vermutlich«, sagt Jim.
Sie kommen an einer Gruppe Tannen vorbei. Der Wind rauscht, die Äste krachen aneinander, Schnee fällt wie ein Vorhang herunter. Ein Rabe fliegt auf und schlägt seine Flügel gegen den Wind. Er kommt nicht weit und fliegt langsam einen Bogen, geht in einen Sturzflug.
»Sie picken den neugeborenen Lämmern die Augen aus«, sagt Jim.
»Über was in Gottes Namen redest du da?«
»Raben.«
»Ich dachte, wir reden über Bowmans Frau.«
»Auch wenn sie es überlebt, verdienen sie die Gaskammer«, sagt Jim.
»Sie hat es herausgefordert.«
»Vermutlich.«
»Was sagst du dazu, dass Bowman eine eigene Saufhütte hat?« fragt Bellingham. »Es schert dich wahrscheinlich nicht, dass alle glauben, er sei Abstinenzler, oder?«
»Mir ist es egal, was Leute über andere Leute sagen.«
»Einen Ruf zu haben, bedeutet genau das. Es ist das, was Leute über Leute sagen.«
Jim bleibt stehen, findet seine Packung Cannon Ball Plug in der Jackentasche und öffnet sie.
»Was kümmert es dich überhaupt?«, fragt Bellingham. »Warum schiebst du deinen traurigen Arsch nicht aus der Stadt, wenn du das alles so sehr hasst?«