Читать книгу Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus - Bernd Balzer - Страница 10
II. Forschungsbericht
ОглавлениеGermanistik zur Zeit des Bürgerlichen Realismus
Die Germanistik in heutigem Verständnis, die sich seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zu entwickeln begann, hat ihren institutionellen Beginn 1846 mit dem ersten Deutschen Germanistentag. Die eigene Gegenwartsliteratur, der Bürgerliche Realismus also, gehörte in den folgenden Jahrzehnten nicht zu den Gegenständen dieser Wissenschaft (was sich erst über hundert Jahre später ändern sollte). Zum einen erfreute sich die Gegenwartsliteratur nur geringer Wertschätzung durch die Wissenschaft, zum anderen gab es politische Repressionen gegenüber der mit aktuellen Themen immer verbundenen ‚Gefahr‘ einer Politisierung der Wissenschaft, so dass eine neuere deutsche Literaturwissenschaft sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht mit der Literatur des Bürgerlichen Realismus befasste: Noch die 6. Auflage von Wilhelm Scherers (1841–1886) Geschichte der Deutschen Litteratur lässt die Darstellung „der unabgeschlossenen Epoche, in der wir leben“ (S. IV) mit Goethe enden.
Literaturwissenschaft versus Literaturkritik
In diese Lücke trat jedoch die Literaturkritik ein, und da sich unter den Literaturkritikern auch Literaturwissenschaftler befanden, einige von ihnen dazu Autoren waren und manche auch alle drei Rollen ausfüllten, ist kaum eine literarische Epoche so intensiv von programmatischer und kritischer Reflexion begleitet gewesen – zumindest in ihrer ersten Phase.
Literaturkritische und programmatische Begleitung
Julian Schmidt (1813–1826) vor allem fasste seine vielen programmatischen Aufsätze, die zuerst in der Zeitschrift Die Grenzboten veröffentlicht wurden (s.S. 42), das erste Mal 1853, (danach in wiederholten Erweiterungen) zu Geschichten der Deutschen Literatur zusammen. Robert Prutz verfuhr ähnlich, und andere Autoren – wie Gustav Freytag (1816–1895), Theodor Fontane, Otto Ludwig (1813–1865), usw. – versuchten in literaturhistorischen und -kritischen Aufsätzen die Charakteristika und Tendenzen der Literatur ihrer Gegenwart zu erfassen.
Bürgerliche und marxistische Haltung um 1900
Nahm der literaturwissenschaftliche Positivismus die Literatur seiner Gegenwart und jüngsten Vergangenheit nicht zur Kenntnis, so gilt das auch für die seit den 90er Jahren mit ihm konkurrierende Geistesgeschichte: Man konzentrierte sich auf die Goethezeit. Nur von marxistischer Seite wurde die von Marx und Engels mit der „Sickingen-Debatte“ begründete Tradition der Diskussion rezenter Literatur unter politischem Aspekt um die Jahrhundertwende von Franz Mehring (1846–1919) produktiv fortgeführt mit wichtigen Aufsätzen zu Otto Ludwig, Gustav Freytag, Fritz Reuter (1810–1874), Wilhelm Raabe. Allerdings ist sein Maßstab stets die Parteilichkeit, was sich schon an seiner Gewichtung der behandelten Gegenstände zeigt: Mehrere Artikel über Friedrich Spielhagen (1829–1911), zwei Randbemerkungen zu Theodor Fontane.
Realismusforschung bis 1945
Erst vor dem und während des Ersten Weltkrieges wurde von einer sich zunehmend „heimatlich“ und „völkisch“ verstehenden bürgerlichen Literaturwissenschaft die Literatur des 19. Jahrhunderts zur Kenntnis genommen und hervorgehoben. Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 1912 begonnen, gelangte 1928 mit dem vierten Band zum Zeitraum von 1814 bis 1914.
Innerhalb dieser Entwicklung wurden viele Grundlagen für die Philologie einzelner realistischer Autoren gelegt – zu Fontane, Storm oder Keller; die literaturwissenschaftliche Analyse der Epoche litt jedoch unter dem zunehmenden Nationalismus und Chauvinismus, was sich während der Weimarer Republik steigerte und im Nationalsozialismus vollends pathologisch wurde. Hervorzuheben sind Werkausgaben einzelner wichtiger Autoren (Keller, Storm), historisch-kritische Ausgaben fehlen darunter jedoch.
Nach1945 – Kritik der Romanistik am deutschen Realismus
Die deutsche Realismusforschung begann deshalb recht eigentlich erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges, und sie begann, nicht ganz überraschend, mit dem Buch eines Romanisten: Erich Auerbachs (1892–1957) Buch Mimesis von 1946 stellt den Realismus als europäisches Phänomen dar und weist deren deutschen Vertretern eine sehr unbedeutende Rolle zu. Im Vergleich zu Balzac (1799–1850), Flaubert (1821–1880), Edmont (1822–1896) und Jules de Goncourt (1830–1870) zeigten allein schon die Namen der Deutschen, „daß in Deutschland des Leben selbst viel provinzieller, viel altmodischer, viel weniger zeitgenössisch’ war“ (Auerbach, 479).
50er Jahre – Werkimmanenz, Fritz Martini
Die 50er Jahre wurden von der „werkimmanenten Schule“ dominiert, und es standen zum Thema Realismus Interpretationen einzelner Werke im Vordergrund. Gleichwohl erwuchs 1962 aus dem Umkreis dieser Schule eine der bedeutendsten Gesamtdarstellungen der Epoche: Fritz Martinis (1909–1991) Deutsche Literatur im Bürgerlichen Realismus. Das Werk widmet sich nicht nur ausführlich den „Grundlagen und Grundformen“, es geht darüber hinaus den Entwicklungen der einzelnen Gattungen nach und verbindet „eine ausführliche historische Darstellung mit (…) teilweise ausführlicher Interpretation einzelner Werke. Damit zieht es inhaltlich und methodisch in seinem Bereich die Summe von historischem Bewusstsein und ‚werkimmanenter‘ Interpretation“ (Wunberg, 83).
Georg Lukács und die Position der DDR
Die marxistische Literaturgeschichtsschreibung der DDR war zu dieser Zeit bemüht, ein möglichst breites „fortschrittliches Erbe“ zu bewahren, und da die Maßstäbe über viele Jahre von Georg Lukács (1885–1971) und seiner Präferenz für die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts geprägt wurden, bemühte sich die Literaturwissenschaft der DDR darum, bei möglichst vielen Schriftstellern des Bürgerlichen Realismus Aspekte historischen Fortschritts in ihrem Verständnis ausfindig zu machen, wobei natürlich die durch Klassenzugehörigkeit gezogenen Grenzen „richtiger“ Erkenntnis (Lukács über Fontane!) unüberschreitbar blieben (GdL. 998).
Neomarxistische Realismusforschung in der BRD
Anders war die Interessenlage der neomarxistischen Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik. Hier instrumentalisierte man die Kritik an bürgerlichen Positionen des 19. Jahrhunderts für den Kampf gegen ein gegenwärtiges bürgerliches Bewusstsein und eine bürgerliche Herrschaft und für den „Fortschritt der sozialistischen Gesellschaftssysteme“ (Mattenklott/Scherpe, VII). Produktiv wurden beide marxistischen Strömungen mit ihrer sozialgeschichtlichen Grundlegung literarischer Prozesse: Die spezifische marxistische Geschichtsteleologie und der Anspruch besonderer, weil historisch-materialistischer Wissenschaftlichkeit bedingte zwar Blickverengungen, Fehleinschätzungen und einen teilweise rabiat dogmatischen Stil der Auseinandersetzungen; doch schärfte dies insgesamt den Blick für die Bedeutung sozialgeschichtlicher Prozesse.
Sozialgeschichte und Literatur
Die zumeist in den 70er und 80er Jahren begonnenen Projekte großer und mittlerer Literaturgeschichten spiegeln den Erfolg dieser Wendung wider (Glaser, Hanser, Žmegač). Die mehr oder weniger neomarxistische Tendenz der ersten Bände dieser Werke machte in den späteren einer ideologiefreieren Darstellung des Zusammenhangs von Sozialgeschichte und Literatur Platz (Hanser, Bd. 6).
„Neue Literaturtheorien“
Mit der deutschen Wiedervereinigung kam mit dem Niedergang des Marxismus als staatenbildende Ideologie unversehens – und unverdient – auch die sozialhistorische Literaturwissenschaft weitgehend zum Erliegen: Mit dem Ende des Historizismus, der Vorstellung von einem gesetzmäßigen, also prognostizierbaren Verlauf der Geschichte, wurde auch gleich das Ende der Geschichte als „Posthistoire“ verkündet, was mit der geisteswissenschaftlichen Wendung zu zahlreichen „Post“-Phänomenen, wie „Poststrukturalismus“ oder „Postmoderne“ koinzidierte und ein ganzes Bündel „Neuer Literaturtheorien“ (Bogdal) teils entstehen, teils auch in die deutsche Debatte eintreten ließ. Für die literaturgeschichtliche Analyse sind theoretische Konzepte, die Geschichte dementieren, naturgemäß nicht relevant. Wie zu Zeiten der Werkimmanenz dominieren daher gegenwärtig Analysen einzelner Werke und Autoren, wobei sich z.B. die an Lacan (1901–1981) orientierte psychoanalytische Methode mit neuen Erkenntnissen zu bewähren vermochte (Menninghaus).
Beiträge der Kultuwissenschaft
Die „Kulturwissenschaft“, unter welchem Terminus sich so unterschiedliche Konzepte wie „Literarische Anthropologie“, „Handlungs- und Wahrnehmungstheorien“, „Gender-Studies“, „Gedächtnistheorien“, „Intertextualität“ (Fauser) versammeln oder versammelt werden, sind häufig ungeschichtlich und antihermeneutisch. Man kann sogar noch pointierter behaupten:
Praktisch alle Kategorien, auf denen die Literarhistorie aufgebaut hat, sind ihr von der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft in Frage gestellt und gewissermaßen entzogen worden: Autor, Intention, Werk, Geist, Sinn, Wahrheit, Entfaltung, Fortschritt usf., und zwar zugunsten eines funktional zerlegten Textbegriffes, der zwischen konstruktivistischen und dekonstruktivistischen Bewegungsimpulsen das, was nach der alten Weise unter Literaturgeschichte verstanden wird, in ein semiologisches Gestrüpp verwandelt (Berger, 30).
Selbstverständlich werden weiter Literaturgeschichten „nach der alten Weise“ verfasst – der Band zur „deutschsprachigen Literatur 1870–1900“ (PS.) ist nur ein Beispiel, das sich auf einen wesentlichen Teil des hier behandelten Untersuchungszeitraumes bezieht. Und inzwischen zählt „Literaturgeschichtsschreibung“ neben „Editionsphilologie“ und Interpretation“ nach Ansicht der Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes zu den „disziplinären Kernen der Germanistik“ (H. 2, 2002, 100).
Kultuwissenschaft und Literaturgeschichte
Es gibt sogar Versuche, Literaturgeschichte kulturwissenschaftlich zu formulieren, was in den bisher vorliegenden Beispielen allerdings zu bloßer verbaler Geste gerät:
Der folgenden Darstellung liegt das kulturwissenschaftliche Grundaxiom zugrunde, nach dem Menschen allenfalls ihre subjektive Erfahrungswelt erkennen können, Literatur dementsprechend auch kaum objektiv beziehungsweise realistisch sein könne (SB. 9).
Dies erscheint so neu nicht – Ähnliches hätte z.B. auch bei Fontane stehen können. Jedenfalls kennzeichnet dies keinen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Hugo Aust (*1947), einer der derzeit profiliertesten Realismus-Forscher, hatte bereits festgestellt, dass nach „dem Realismus eines Werks zu fragen (…) die Darstellung von Wirklichkeitserfahrungen nach drei Seiten“ bedeute (HA.-F. 17f.). Tatsächlich stellt das Buch Sabina Beckers (*1961) nach dem zitierten kulturwissenschaftlichen Generalvorbehalt eine kombinierte sozial- und geisteswissenschaftliche Studie des Bürgerlichen Realismus und einzelner seiner wichtigsten Werke mit hohem Nutzwert dar, die aber die Arbeiten Austs zum Realismus, zu Fontane und zur Novelle nirgends übertrifft.
Dekonstruktion und Intertextualität
Entschieden erfolgreicher sind Beiträge, die sich aus Theoriekonzepten wie dem Dekonstruktivismus, der Systemtheorie oder einer hermeneutisch ausgerichteten Intertextualität einzelnen Texten widmen. Die Ergebnisse traditioneller motivgeschichtlicher oder „Einflussforschungen“, die sich überwiegend auf inhaltliche oder auch erzählökonomische Aspekte bei der Beeinflussung durch Fremdtexte konzentrierten (Meyer, Lenhartz), aufnehmend, wird dies von den neueren Arbeiten durchaus fortgesetzt, aber um den Blick auf die formalen Auswirkungen intertextueller Bezüge erweitert (Plett). Dort, wo vonseiten der Intertextualitätstheorie (Stocker, 29) die Entwicklung eigener historischer Kategorien versucht wird – etwa wenn durch die Unterscheidung von „imitatio vitae“ (Nachahmung der Wirklichkeit) und „imitatio veterum“ (Nachahmung vorbildlicher Kunstwerke) ein Differenzkriterium für die Unterscheidung von „Programmrealismus“ und „poetischem Realismus“ geschaffen werden soll –, sind die Ergebnisse weniger überzeugend: Denn schon Freytags Soll und Haben ist, wie nicht nur Fontanes Rezension zeigt, voller intertextueller Bezüge.
Editionen
Literaturgeschichte und Epochendiskussion verschwinden nicht aus der deutschen Literaturwissenschaft. In den nun endlich verstärkt betriebenen Editionsunternehmungen zeigen das die historisch-kritischen Ausgaben der Werke Fontanes (GBA.) Kellers (KSW.) und Stifters (SWB.). Und das Feld des noch zu Erledigenden ist weit: Storm und Freytag mögen als Beispiele genügen. Die Literaturgeschichtsschreibung ist ohnehin auch auf dem Höhepunkt des „Posthistoire“ nicht zum Erliegen gekommen: „Das Bedürfnis nach Literaturgeschichten ist offensichtlich groß“ (Bartsch, 233) wurde 1997 konstatiert – der Befund dürfte weiterhin Gültigkeit besitzen.