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3. Industrieller „takeoff“ – die wirtschaftliche und soziale Entwicklung nach 1848

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„Der große Spurt“ in Deutschland

Überschriften einschlägiger Sozialgeschichten, wie z.B. „Industrieller Take-Off“, „Der Durchbruch“ (Böhme, 54) oder „Der große Spurt“, reflektieren die Rasanz und Dynamik dieses ersten modernen, weil industriellen, wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland – und das heißt vor 1871 in erster Linie Preußens.

Friedrich Engels (1820–1895) kann da getrost als Zeuge genommen werden:

Das ganze Resultat der Revolution, auf den ersten Blick, schien zu sein, daß in Österreich und Preußen nach konstitutioneller Form, aber im alten Geiste regiert wurde, und daß der russische Zar Europa mehr beherrscht als je zuvor. In Wirklichkeit aber hatte die Revolution des Bürgertum auch der zerstückelten Länder und namentlich Deutschland, mächtig aus dem alten und ererbten Schlendrian aufgerüttelt (GdL. 410).

Eisenbahnbau als Motor der Entwicklung

Tatsächlich erreichte der 1848 von England ausgehende und vom kalifornischen „Goldrausch“ angetriebene Wirtschaftsaufschwung spätestens 1851 auch die deutschen Länder. Die Industrielle Revolution, Mitte der 30er Jahre um Jahrzehnte verspätet und mühsam genug begonnen, kam nun beschleunigt, und auf der Grundlage westeuropäischer Erfahrungen und Errungenschaften von Beginn an auf fortgeschrittenem Niveau, in Gang. Wie Mitte der 30er Jahre bildete auch in diesem Fall der Eisenbahnbau den Motor und das wesentliche Feld der Industrialisierung. War 1835 gerade die erste Bahnlinie in Deutschland errichtet worden, so waren bis 1866 sämtliche größeren Städte in Deutschland durch ein Eisenbahnnetz verbunden und Verbindungen zu allen angrenzenden Staaten hergestellt. Da der Kapitalbedarf für diesen logistischen Ausbau gewaltig war, wurde auch die Bildung von Aktiengesellschaften und Banken gefördert. Die Schwerindustrie und, davon abhängig, weitere Industriezweige fanden einen Markt und mit der Bahn die notwendige Transportkapazität. Das Ergebnis zeigt sich auch in der Beschäftigtenstatistik: Waren z.B. in den 40er Jahren 80 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt, so 1857 nur noch 60 %, 1880 noch 50 %. Das Ruhrgebiet vor allem entwickelte sich zu einer der größten Industrieregionen Europas.

Im Jahre 1849 hatte es im Rheinland und in Westfalen 651 feststehende Dampfmaschinen mit 18.775 PS gegeben; 1875 waren es bereits 11.706 mit 397.091 PS. 1847 hatte die Länge des preußischen Eisenbahnnetzes 2754 km betragen; 1875 verfügte Preußen über ein funktionierendes und verbundenes Eisenbahnnetz mit einer Gesamtlänge von 16.169 km. (…) War der Banknotenumlauf in Preußen um 1850 noch mit 18 Millionen Talern angegeben worden, so wies das Jahr 1875 einen Umlauf von 290 Millionen Taler aus (Böhme, 70).

Fortschritt in den Naturwissenschaften

Grundlage und ständiger Antrieb dieser Entwicklung war der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt. Der Irrweg der Naturphilosophie spielte keine Rolle mehr. Wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich der Physik (Bunsen, Hertz, Helmholtz), Chemie (Liebig) und Erfindungen (Siemens, Otto, Daimler) ermöglichten neue Produkte und Verfahren und schufen mit der Agrarchemie auch die Möglichkeit zur Ernährung der immer schneller wachsenden Bevölkerung.

Konsequenzen der deutschen Verspätung

Die Verspätung dieser Entwicklung im Vergleich zu England oder Frankreich hatte neben der größeren Dynamik des technischen und industriellen Fortschritts zwei entscheidende und ebenso soziale wie politische Konsequenzen: Zum einen gewann die Aristokratie die Zeit und, durch die Erfahrung Westeuropas, den praktischen Anschauungsunterricht, um sich – anders als in England und Frankreich – an der Macht zu halten, indem sie selbst den Schritt zum kapitalistischen Großbetrieb zu gehen verstand. Dabei konzentrierte man sich vor allem auf die Landwirtschaft. Dort war man vor den zyklischen Krisen weitgehend geschützt, von denen die Industrie immer wieder erschüttert wurde. Das „ermöglichte es der Aristokratie immer wieder, eine Atempause zu gewinnen, um die alte Ordnung zu sichern“ (Böhme, 55).

Zum anderen profitierten auch die großbürgerlichen Industriellen von der Möglichkeit, aus den Fehlern des englischen und amerikanischen „Manchesterkapitalismus“ in den Jahrzehnten zuvor zu lernen und so Arbeitskämpfe und Maschinensturm zu vermeiden:

Um den Produktionsprozeß intensivieren zu können, mußte man den Arbeitstag verkürzen. Damit es dem Arbeiter möglich wurde, das gesteigerte Tempo durchzuhalten und mehr zu leisten, mußte er mehr essen, und man begann die Reallöhne zu erhöhen. Um den Arbeiter in den Stand zu setzen, den immer komplizierter werdenden Produktionsprozeß auf dem engen Teilgebiet, auf dem er beschäftigt war, zu beherrschen, mußte man für eine Schulbildung sorgen, die zumindest Rechnen, Lesen und Schreiben vermittelte (Kuczynski, 234).

„Rheinischer Kapitalismus“

Dass der marxistische Wirtschaftshistoriker die Motive allein klassenkämpferisch deutet, kann nicht überraschen, es berührt nicht die Richtigkeit der Fakten. Und selbst hinsichtlich der Motive ist die marxistische Literaturgeschichtsschreibung sogar genötigt gewesen, „die Bourgeoisie“ wenigstens im Einzelfall als „subjektiv durchaus ehrlich“ anzuerkennen, „weil sie mit ihrer Konzeption der Umgestaltung der ökonomischen Basis und ihren Forderungen nach bürgerlichen Reformen und nationalstaatlicher Einheit wenigstens partiell gesamtgesellschaftliche Interessen vertrat“ (GdL. 411). Die Konturen des „rheinischen Kapitalismus“ mit seinen gesellschaftlich stabilisierenden – aber tendenziell damit auch veränderungsfeindlichen – Konsequenzen begannen sich seit den 50er Jahren abzuzeichnen. Und sie bewährten sich zum erstenmal 1857, als die durch den Krimkrieg entfachte europaweite wirtschaftliche Überhitzung und Spekulationswelle nach dessen Ende (1856) in eine Wirtschaftskrise umschlug. Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) hatten noch 1850 erklärt, „Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch eben so sicher wie diese“ (MEW. 28/440). Aber die Revolution blieb aus, trotz Massenarbeitslosigkeit mit Verelendungsfolgen und allgemeiner Verschlechterung der sozialen Lage. Die Initiative, der sozialen Not abzuhelfen, ging von den Kirchen aus, einzelne Unternehmer folgten, und es bildeten sich Anfänge eines sozialen Netzwerkes aus Unterstützungsvereinen, Versicherungskassen für Krankheit und Invalidität und ähnlicher Versorgungseinrichtungen. Ab den 60er Jahren gründeten sich auch innerhalb der Arbeiterschaft Verbände, die die Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation betrieben, Anfänge einer Arbeiterbewegung, die nach der Reichsgründung in den Aufschwung der Sozialdemokratie mündete.

Soziale Verbesserungen und Sozialgesetzgebung

Dieses Schema wiederholte sich in der durch den „Gründerkrach“ von 1873 ausgelösten Wirtschaftkrise, und noch während des Kampfes, den Bismarck gegen die Sozialdemokratie führte, und der mit der umfassenden Sozialgesetzgebung ab 1883 endete, setzte sich dieser Prozess sozialer Evolution durch.

Österreich und die Schweiz

In der Schweiz sah man diesen Weg ohnehin als den gebotenen an und konnte ihn frei von aristokratischer Machtausübung im bürgerlichen Interesse beschreiten.

In Österreich unterschied sich die Machtstruktur nicht von der Preußens und des Deutschen Reiches, doch nahm man nur sehr eingeschränkt an der wirtschaftlichen oder gar industriellen Entwicklung teil, nachdem das Land 1864 aus dem Zollverein ausgeschieden und den Schritt der von Rudolph v. Delbrück betriebenen Gewerbefreiheit im Norddeutschen Bund nicht mitvollzogen hatte.

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